Vortrag – Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Andrzej Zoll
„Sicherheit und Freiheit – im Kontext mit den Grundwerten der europäischen Verfassung“
Es ist in der Tat etwas Außerordentliches, dass innerhalb der wenigen letzten Jahre die europäische Integration und sogar die europäische Staatsbürgerschaft Realität geworden ist. Noch vor nicht allzu langer Zeit, Mitte der siebziger Jahre, war Raymond Aron der Meinung, eine europäische Staatsbürgerschaft könne es nicht geben. Möglich und vorstellbar seien nur Staatsbürgerschaften einzelner europäischer Nationalstaaten. Die europäische Staatsbürgerschaft ist Resultat eines Prozesses, der auch nach Maastricht noch nicht beendet ist. Seine Krönung wäre wohl die Annahme des europäischen Vertrages von Lissabon und die Anerkennung der Europäischen Union als vollberechtigtes Subjekt des Völkerrechts. Nur muss man sich auch vergegenwärtigen, welch langen Weg das sich vereinende Europa zurückgelegt hat, von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bis zur Europäischen Union mit ihrer europäischen Bürgerschaft, von einer Wirtschaftsgemeinschaft und Integration von Bürgern der einzelnen Mitgliedstaaten als Konsumenten, die an der Bildung und an dem Funktionieren des gemeinsamen Marktes beteiligt waren, zu einer politischen Gemeinschaft, und allen voran einer Gemeinschaft von Werten, deren Ausdruck die Charta der Grundrechte der Europäischen Union sein soll.
Auf das Problem der europäischen Bürgerschaft will ich im Kontext der Charta der Grundrechte eingehen, die nach Lissabon zwar nicht mehr Teil der Verträge ist, auf die jedoch in den Verträgen hingewiesen wird. Die Annahme der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf dem Gipfeltreffen im Dezember 2000 in Nizza war ohne Zweifel ein wichtiges Ereignis im Entwicklungsprozess der EU. Für die Unionsbürger kann es nicht gleichgültig sein, was die Union als die Grundlage ihrer Rechtsordnung betrachten, wie sie das dieser Rechtsordnung zugrunde liegende Wertesystem gestalten will. Mit dem neuen Vertrag von Lissabon wird die Charta rechtsverbindlich, sie war und ist Ausdruck der Bemühungen um eine verfassungsrechtliche Ordnung der Europäischen Union und der von allen EU-Ländern anerkannte Ausdruck des Verhältnisses zu den Grundrechten der Menschen, die Unionsbürger sind oder im Geltungsbereich des Unionsrechts leben.
Es ist in keinem Fall mein Zweck über die Charta und ihre Auslegung hier zu berichten. Ich betrachte sie nur als eine gemeinsame Grundlage für die Freiheit und Sicherheit der europäischen Bürger. Schon 1993, wenige Jahre nach der Wiedererlangung der Freiheit in Polen fragte Józef Tischner, Priester und Philosoph, im ersten Satz seiner Essaysammlung mit dem bezeichnenden Titel „Die verhängnisvolle Gabe der Freiheit“: „Werden wir heute zu Opfern einer neuen, uns bislang unbekannten Angst – Angst vor der Freiheit?“. Und ein paar Zeilen weiter kommt vom Priester und Professor die Antwort: „Ich mag mich irren, aber oft – zu oft – sehe ich, dass unsere Angst vor der Freiheit größer wird als die Angst vor der Gewalt“. Er irrte sich nicht, und in den folgenden Jahren der polnischen Transformation sollte das Phänomen der Angst vor der Freiheit nicht nur seine Bestätigung finden, sondern auch eine bedeutende Vertiefung erfahren, indem die Angst vor der Gewalt nicht selten in deren Erwartung und Akzeptanz umschlug. So schockierend sich dies im ersten Moment anhören mag, es ist dennoch wahr. Unsere Sehnsucht nach einer starken Macht, die endlich klare Verhältnisse schafft, unser Sicherheitsgefühl verstärkt, wird immer größer, und immer williger akzeptieren wir die Einschränkungen unserer Freiheit, die denen im Zeitalter des Kommunismus mit so viel Mut und Determination bekämpften nur in wenig nachstehen. Diese Erscheinung scheint es nicht nur für die polnische Bevölkerung typisch, sondern die hat eine universale Dimension.
Wo ist nach der Quelle der Angst vor der Freiheit zu suchen? Die Freiheit galt doch immer, und für meine Nation im Besonderen, als der höchste Wert. Es stimmt schon, dass dieser Wert oft mit der Unabhängigkeit, d.h. mit der kollektiven Freiheit als Nation und mit dem Bestehen eines souveränen Staates gleichgesetzt wurde. Dennoch wurde insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg die Forderung nach Freiheit des Individuums immer lauter. Die Entstehung der „Solidarność“ im Jahre 1980 war, von ihrem eindeutig unabhängigkeitsorientierten Charakter abgesehen, unmissverständlich mit dem Kampf um die Freiheit und um die Rechte des Menschen verbunden, deren Quelle seine angeborene und unveräußerliche Würde ist, die auch in der europäischen Charta für Grundrechte ihre Bestätigung gefunden hat. Das Streben nach Wiedererlangung der individuellen Freiheit und nach Beachtung der Rechte des Individuums ging allerdings nicht in ausreichendem Maße mit den Bemühungen einher, die Bevölkerung, das Bewusstsein einzelner Personen für die Sorge um das Allgemeingut zu sensibilisieren. Was nach der Wende ausblieb, war die Arbeit am Verantwortungsgefühl für das Wohl einer nicht nur auf die eigene Familie beschränkten Gemeinschaft, des eigenen Wohnortes, der Heimat, des Vaterlandes, und letztendlich für das gemeinsame Gut Europa oder gar die ganze Welt. Man wurde sich des Zusammenhangs zwischen der Freiheit und der Verantwortung, zwischen den Rechten des Menschen und Bürgers und seinen Verpflichtungen gegenüber anderen und gegenüber der Gemeinschaft kaum bewusst. Die von Priester und Professor Tischner beklagte Angst vor der Freiheit ist ja im Grunde nichts anderes als die Angst vor der Verantwortung, als ein Wunsch danach, diese Verantwortung von sich zu schieben, von ihr befreit zu werden. Was wir aber einsehen müssen, ist, dass zwischen Freiheit und Verantwortung ein Gleichgewicht, oder vielmehr eine Rückkopplung besteht. Je mehr Freiheit, desto mehr Verantwortung, und umgekehrt. Überträgt man einen Teil dieser Verantwortung auf jemand anders, z.B. auf die Behörden, so muss man auch Einschränkungen der Freiheit in Kauf nehmen.
Eine absolute Freiheit gibt es freilich nicht. Wäre sie dies, so wäre Chaos die Folge, und somit das Ende der Freiheit. Wollte man den vor Jahren ebenso populären wie nicht sonderlich gescheiten Aufruf „Macht was ihr wollt“ paraphrasieren und ihn etwa auf den Straßenverkehr als „Fahrt wie ihr wollt“ beziehen, so wären der totale Kollaps die Folge und wir jeglicher Bewegungsfreiheit, das heißt unserer Freiheit in diesem Sektor der menschlichen Aktivität vollkommen beraubt. Einschränkungen der Freiheit im Hinblick auf das Allgemeingut, auf die Rechte anderer Personen sind unumgänglich. Die sich vor diesem Hintergrund aufwerfende Frage heißt: Wie viel Freiheit können wir abgeben, um sich auf diese Weise von der Verantwortung loszukaufen? Wie viel Freiheit müssen wir behalten, um nicht allzu sehr versklavt zu werden? Die Quelle der Freiheiten und Rechte des Menschen bildet die ihm angeborene und unveräußerliche Menschenwürde – so schreibt es polnische Verfassung in Art. 30 fest. Die oben gestellte Frage wäre vielleicht somit wie folgt zu beantworten – ich kann nur auf diesen Teil der Freiheit verzichten, der für die Sorge um das Allgemeingut unentbehrlich ist. Die mir verbleibende Freiheit muss ausreichen, damit ich in der Relation Ich – der Staat, Ich – andere natürliche oder juristische Personen als Rechtssubjekt behandelt werde. Sollte ich als Objekt behandelt werden, so käme dies einer Verletzung meiner angeborenen und unveräußerlichen Würde gleich. Auf dieses unverzichtbare Quantum an Verantwortung darf ich nicht verzichten. Von einem entsprechenden Quantum an Verantwortungsgefühl kann ich mich, selbst unter Verweis auf den notwendigen Schutz meiner Subjektivität schlicht und einfach nicht befreien.
Die Kollision zwischen den Menschen- und Bürgerrechten einerseits und dem notwendigen Schutz der Sicherheit als Aufgabe des Staates gegenüber seinen Bürgern nahm insbesondere nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 an Bedeutung zu. Der Kampf gegen den Terrorismus ist heute weltweit, nach den dramatischen Ereignissen in London und Madrid auch in Europa, zu einem Problem von fundamentaler Bedeutung geworden. In diesem Zusammenhang erhebt sich jedoch die Frage, wie weit der Staat oder die internationale Gemeinschaft bei der Einschränkung von Menschen- bzw. Bürgerrechten mit Rücksicht auf den notwendigen Schutz vor dem Terrorismus gehen darf. Das Praktische dieses Dilemmas bekommen wir jeden Tag zu spüren, indem wir uns verstärkten Sicherheitskontrollen an den Flughäfen oder beim Betreten von gemeinnützigen Objekten unterziehen müssen. Dieses Dilemma entsteht, wenn wir uns fragen müssen, ob sich die Vereinigten Staaten nicht etwa der Verletzung von Menschenrechten schuldig machen, wenn sie Tausende Terrorverdächtige ohne Kriegsgefangenenstatus und ohne Gerichtsprozess festhalten. Mit Schock reagieren wir auf Informationen darüber, dass die im Irak Festgenommenen gefoltert werden – geschieht dies aber nur im Irak und wurden die Folterer nicht etwa von ihren Vorgesetzten hierzu angehalten?
Dies alles wirft die grundsätzliche Frage auf: Kann sich der Staat auf den Notstand berufen, wenn er Grundrechte einschränkt oder gar aufhebt? Ohne Frage liegt hier ein Konflikt von Gütern und Werten vor. Mit den Menschenrechten, die jeder Staat zu achten verpflichtet ist, auf der einen Seite und mit der kollektiven und individuellen Sicherheit auf der anderen, die jeder Staat zu gewährleisten hat. Kann allerdings der Verweis auf den Notstand generell die nicht selten fundamentale Verletzung der Menschenrechte rechtfertigen? Wie ist dem von der Bush Verwaltung durch gesetzten Recht zu begegnen, das das Abschießen von Passagierflugzeugen bei begründetem Verdacht auf deren möglichen Einsatz im Terrorakt zulässt? Eine ähnliche Regelung nahmen auch einige europäische Staaten, darunter Polen, an. Das Bundesverfassungsgericht erklärte das einschlägige deutsche Gesetz für verfassungswidrig. Ganz ähnliche Frage hat jetzt auch das polnische Verfassungsgericht zu beantworten. Wie weit darf das Recht des Staates reichen, das es ihm erlaubt, das Leben einer bestimmten Gruppe von Menschen zu opfern, um wahrscheinlich viel mehr Menschen vor Gefahr zu schützen? Hat das Verhältnis der Geopferten zu den Zu-Rettenden in diesem Fall überhaupt Bedeutung? Tun hier nicht etwa generelle Normen zu den Verfahrensstandards in Konfliktsituationen Not? Kann der Staat willkürlich entscheiden, ob tatsächlich ein Konflikt von Gütern und Werten vorliegt und in welchem Grad dieser Konflikt das Opfern eines der kollidierenden Güter rechtfertigen soll. Dies sind Probleme, die weder erfunden noch ausschließlich mit dem Terrorismus verbunden sind. Vor einigen Jahren mussten sich die Behörden in Polen bei einer großen Hochwassergefahr entschließen, ob Wasserschutzwälle gesprengt und somit Wohn- und Wirtschaftsgebäude überschwemmt werden müssen, um ein viel größeres und dicht besiedeltes Gebiet zu schützen, oder ob dies nicht zulässig ist. Es sind dramatische und leider höchst aktuelle Fragen. Dem Allgemeingut wäre es keineswegs dienlich, wenn sich die einzelnen Staaten selbst Kriterien zur Beurteilung der eigenen Vorgehensweise bestimmen würden, wenn sie sich jeglicher überstaatlichen Kontrolle entziehen würden. Vieles kann man dem 20. Jahrhundert vorwerfen, aber gerade in diesem um totalitäre Erfahrungen reicheren Jahrhundert wurden internationale Kontrollsysteme, auch im Bereich der Einhaltung der Menschenrechte, ausgearbeitet.
Können wir uns also auf völkerrechtliche Normen zur Lösung des oben erwähnten Konflikts von Gütern und Werten stützen, ist auf völkerrechtliche Normen zu verweisen, welche die Einschränkung oder gar Aufhebung von bestimmten Menschenrechten und Menschenfreiheiten mit Hinweis auf die Bedrohung der kollektiven bzw. individuellen Sicherheit, z.B. durch den politischen Terrorismus, rechtfertigen? Wir wollen mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 beginnen.
Aus unserer Sicht ist vor allem Art. 4 von Bedeutung:
Artikel 4
(1) Im Falle eines öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht und der amtlich verkündet ist, können die Vertragsstaaten Maßnahmen ergreifen, die ihre Verpflichtungen aus diesem Pakt in dem Umfang, den die Lage unbedingt erfordert, außer Kraft setzen, vorausgesetzt ,dass diese Maßnahmen ihren sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht zuwiderlaufen und keine Diskriminierung allein wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion oder der sozialen Herkunft enthalten.
Aus dieser Bestimmung geht die Vorrangigkeit der sich aus der Menschenwürde ergebenden Menschenfreiheiten und Menschenrechte hervor, die zu achten der Staat verpflichtet ist. Nur in Ausnahmefällen, wenn die nationale Sicherheit bedroht ist, können sie außer Kraft gesetzt werden. Allerdings sieht Art. 4 dabei wichtige Einschränkungen vor, wie das Verbot der Diskriminierung und das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Am wichtigsten aber ist, dass der Staat die in Art. 4 Abs. 2 genannten Rechte und Freiheiten unter keinen Umständen außer Kraft setzen darf. Von unserem Standpunkt aus sind drei Bestimmungen von entscheidender Bedeutung. Das Recht, dass in keinem Fall aufhebbar ist, ist das jedem menschlichen Wesen angeborene Recht auf Leben, dessen niemand willkürlich beraubt werden darf. Fraglich erscheint im Lichte dieser Einschränkung, ob es zulässig ist, das Leben von Menschen, die keine Gewalt anwenden, zu opfern, selbst um eine viel größere Anzahl von Menschen vor einer Gefahr zu schützen. Wird das Recht auf das Leben aus der angeborenen und unveräußerlichen Menschenwürde abgeleitet, so muss jedes individuelle Leben als der höchste Wert betrachtet werden.
Der Pakt führt das rücksichtslose Verbot der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe ein (Art. 7).Wir haben es hier mit der eindeutigen und auch in anderen Völkerrechtsakten wiederholten absoluten Einschränkung der Staatsgewalt zu tun. Dieses Verbot gilt ungeachtet des Wertes, den die unter Anwendung von Folter gewonnene Information für die kollektive bzw. individuelle Sicherheit haben könnte. Dem gab in seinem Urteil vom September 2001 das Oberste Gerichts Israels Ausdruck, als es das Foltern von palästinensischen Terroristen für rechtswidrig befand, selbst wenn es weitere Anschläge verhindern sollte. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang der Standpunkt der Justizorgane der BRD im Fall Gäfgen. Der Polizeibeamte musste sich vor Gericht verantworten, weil er dem vermeintlichen Entführer eines Kindes körperliche Schmerzen androhen ließ, um so den Aufenthaltsort des entführten Kindes zu erfahren. Angesichts dieser Drohung hat der Verdächtige Gäfgen den Aufenthaltsort des zu diesem Zeitpunkt bereits getöteten Kindes genannt. Das Vorgehen des Polizeibeamten hat das Strafverfahren gegen den Entführer äußerst kompliziert gestaltet und der Verteidigung große Chancen eingeräumt. Trotz Terrorgefahr spricht sich die internationale Gemeinschaft für die uneingeschränkte Achtung der Grundrechte des Menschen aus, allen voran des Rechts auf Leben und der Freiheit von Folter oder unmenschlicher bzw. erniedrigenden Behandlung. Es sei in diesem Zusammenhang noch auf das am 10.12.1984 in New York angenommene Abkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder entwürdigende Behandlung oder Bestrafung hinzuweisen, in dessen Art. 2 Abs. 2 steht: „Außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, dürfen nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.“
Hervorheben möchte ich noch Art. 16 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, in dem es heißt: „Jedermann hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden.“ Das Völkerrecht gibt uns somit eine klare Antwort auf die Frage nach den Grenzen der Lösung von Konflikten zwischen den Freiheiten und Rechten des Individuums und der dem Staat obliegenden Pflicht zur Gewährleistung der kollektiven bzw. individuellen Sicherheit, bestimmt die Grenzen des Notstandes zur Rechtfertigung der Verletzung von Menschenrechten.
Das Problem eines Konflikts zwischen dem auf die angeborene und unveräußerliche Menschenwürde zurückgehenden Schutz der Menschenrechte- und Menschenfreiheiten und den Anforderungen der kollektiven und individuellen Sicherheit betrifft freilich nicht nur die Ausnahmezustände. Es muss jeden Tag, z.B. bei der Gestaltung der Strafpolitik entschieden werden. Diese Frage werde ich auf dem Beispiel der in Polen gegenwärtig pflegenden Strafrechtspolitik zu illustrieren versuchen. Nach wie vor findet der Ruf mancher Politiker nach rücksichtsloser Bestrafung aller Straftäter, am besten mit jahrelangem Freiheitsentzug, bei der Öffentlichkeit Gehör. Genau vor einem Jahre hat die damalige Regierung den Entwurf einer radikalen Verschärfung der Strafbarkeit vorgelegt. Die Regierungswechsel hat der radikalen Verschärfung vom Strafgesetzbuch eine Schranke gestellt. Nur auf diesem Wege, so die Meinung bestimmter Politiker, nicht unbedingt aber der Strafrechtslehrer, könne man ordentliche Bürger vor der Gefahr schützen, Opfer einer Straftat zu werden. Die Strenge der Strafe soll potentielle Täter abschrecken. Die Befürworter dieser streng repressiven Strafpolitik bestehen auch auf die Vereinfachung des Strafverfahrens in erster Linie durch Abschwächung der dem Angeklagten zustehenden Prozessgarantien.
Man kann freilich strenge langjährige Freiheitsstrafen verlangen. Man kann sogar bis zu einem gewissen Grad der Feststellung zustimmen, eine lange Isolierung von Verurteilten könne zur Verbesserung des Sicherheitsgefühls „ordentlicher Bürger“ beitragen. Man kann und muss sogar auf Null-Toleranz bei Rechtsverletzungen bestehen. Man darf allerdings die kriminalpolitischen Realien nicht aus den Augen verlieren und sollte sorgfältig erwägen, welche Voraussetzungen der Kriminalitätsbekämpfung am ehesten Effizienz versprechen, welche Voraussetzungen der Kriminalpolitik am wenigsten schädlich also optimal sind. Die Strafprozessgarantien sollen nicht, wie oft von Populisten angeprangert, dem Schutz des Täters dienen. Vielmehr sollen sie eben diesem „ordentlichen Bürger“ zugute kommen, ihn davor schützen, der Justiz oder vielmehr der Staatsgewalt zum Opfer zu fallen, zum Verbrecher erklärt zu werden. Beschleunigtes Verfahren, Einschränkung des Rechts auf Verteidigung bringen die Gefahr mit sich, dass die Justiz Fehler macht, dass Personen zur Verantwortung gezogen werden, die entweder gar keine Straftaten oder weniger schwere Straftaten begangen haben, die ihnen zur Last gelegt werden.
Die gesellschaftliche Entwicklung soll in erster Linie darin bestehen, dass sich jeder seiner Verantwortung für das Allgemein bewusst wird. Die Stärkung dieses Verantwortungsgefühls lässt unsere Angst vor der Freiheit reduzieren, unseren Widerstand gegen die Gewalt stärken, und zwar nicht nur die Gewalt seitens der Terroristen oder des Verbrechens, sondern auch den Widerstand gegen die unbegründete Gewalt seitens des Staates, die unsere Freiheit vernichtet und somit gegen unsere angeborene und unveräußerliche Menschenwürde verstößt.