Vortrag – Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann
„Das Kulturelle Gedächtnis und der Mythos Beutekunst“
Die lange Geschichte der Kriege kennt neben der Vernichtung von Menschen und Sachwerten, der Aneignung und Wegnahme von materiellen Gütern, der Landnahme und Versklavung auch die Aneignung von Kunstwerken und Kulturgütern. Die Sieger wollten damit den Besiegten ihre Identität und ihr kulturelles Gedächtnis rauben. Waren die Kriegstrophäen in der frühen Antike vornehmlich noch Götterbilder und Kultgegenstände, so bekam schon zur Zeit der römischen Republik das Kunstwerk in seiner Einzigartigkeit und die Gelehrtenbibliothek als geistiges Zeugnis den Rang als Siegessymbol und Kriegstrophäe.
Die Kriege der Antike waren Vernichtungskriege, Beuterecht und Plünderung waren fester Bestandteil der Kriegspraxis. Es gab keinen Schutz für die Kultur, im Gegenteil, die Wegnahme erschien als legitimes Recht, nachlesbar bei Aristoteles und anderen.
Aber schon zu dieser Zeit gab es immer wieder Beispiele, die gegen den Strom der Zeit das gewohnheitsrechtliche Kriegsrecht anprangerten, so zum Beispiel Cicero in seinen Anklagereden gegen den Prokonsul Verres (2.Rede gegen Verres, 4.Buch), in denen er dessen Kunstraub als „Mangel an humanitas“ und verabscheuungswürdige Tat geißelte. Scipio Africanus, Octavianus Augustus oder der oströmische Kaiser Justinian praktizierten aktive Restitution gegenüber den besiegten Völkern. Aber es blieben Ausnahmen.
Das Mittelalter hat die Kriegspraxis im Hinblick auf Beutekunst nicht wesentlich geändert. Zerstörung oder Wegnahme waren die üblichen Begleiterscheinungen. Zwar kannte das Rittertum einen Ehrencodex, der aber nur für die eigenen Glaubens- oder Standesgenossen galt. Ansonsten zeigten die Kreuzzüge eine ungehemmte Bereitschaft zur Plünderung. Das galt aber auch für die türkischen Kriegszüge gegenüber Damaskus und Kairo.
Mit der Renaissance begann dann eine Epoche, in der die großen kulturellen Sammlungen entstanden, in der Kunst für die Gesellschaft als etwas Einzigartiges und Unersetzbares galt. Man setzte den Kunstbegriff in Beziehung zum Staat. Es gab erstmals Richtlinien, die eine unautorisierte Ausfuhr von Kulturgütern untersagte. Aber das weckte erst recht die Habgier in kriegerischen Auseinandersetzungen. Der Humanismus der Zeit wirkte sich also keineswegs auf eine humanere Haltung beim Plündern und Zerstören kultureller Werte aus. Man wusste, dass damit die Niederlage des Feindes als tiefer emotionaler Verlust gesteigert werden konnte. Der dreißigjährige Krieg war dafür ein nachhaltiges Beispiel. Ob Gustav Adolf oder Tilly, alle machten Kunstbeute. Noch heute ist die Verschleppung der berühmten „Bibliotheca Palatina“ von Heidelberg in den Vatikan im Gedächtnis lebendig. Aber wie häufig bei extremen Situationen gab es auch eine Besinnung. Sie zeigte sich im Westfälischen Frieden 1648, bei dem erstmals explizit eine friedensvertragliche Regelung zur Rückerstattung kriegsbedingt verbrachter Kulturgüter formuliert wurde. Zwar war sie nicht umfassend und wurde auch nicht buchstabengetreu befolgt, aber zahlreiche Archivalien und Druckwerke kehrten wieder an ihren Ursprungsort zurück. Das gleiche geschah übrigens auch beim Friedensschluss von Oliva (1660) zwischen Polen, Brandenburg und Schweden.
Mit der Zeit der Aufklärung im ausgehenden 17. Jahrhundert und beginnenden 18. Jahrhundert setzten sich diese vorsichtigen Veränderungen zur Beutekunst schrittweise fort. Die damaligen Kriege in Europa liefern keine Beispiele für die Praxis der Beutekunst. Das gilt auch für den siebenjährigen Krieg (1756 – 1763) mit seinem stark wechselnden Frontverlauf. Ob in Berlin oder Dresden, die Kunstsammlungen blieben unangetastet.
Der hoffnungsvolle Beginn zum Schutz der Kulturgüter in kriegerischen Auseinandersetzungen wurde durch die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege (1792 – 1815) jäh beendet. Kunst zu Beute zu machen wurde wieder zur gängigen Kriegspraxis. Sie wurde unter Napoleon noch professionalisiert. Eigene Kunstoffiziere folgten der Armee und brachten das Beste aus Museen und Bibliotheken nach Paris. Der 1793 eröffnete Louvre wurde als Beutekunstmuseum im Lauf von zwanzig Jahren zum reichsten Museum der Welt. Nach dem Einzug der verbündeten Armeen in Paris 1814 formulierte man zwar die Erwartung, dass die geraubten Kulturgüter wieder restituiert werden sollten. Diese blieb jedoch ohne Erfolg. Erst die unnachgiebige Haltung Preußens führte schließlich dazu, dass die im I. Pariser Frieden ausgeklammerte Restitution für Preußen stattfand. Damals kam übrigens auch die von Schadow geschaffene Quadriga vom Brandenburger Tor nach Berlin zurück. Mit der Flucht von Napoleon aus Elba 1815 änderte sich dann auch die Einstellung der anderen Staaten und es wurde um die Rückgabe gerungen, die dann auch partiell erfolgte. Ohne diesen Nachdruck wäre diese Entwicklung nicht in Gang gesetzt worden.
Aber die Raubzüge dieser Zeit blieben weiterhin tief im Gedächtnis der Völker. Hinzu kam die im 19. Jahrhundert verstärkt einsetzende Aneignung von Kunstwerken durch die Kolonialstaaten aus ihren Kolonien. Es entstand ein starkes Bewusstsein dafür, dass diese Form der ungezügelten Wegnahme von Kulturgut als Beutekunst in europäischen und außereuropäischen Ländern keine Fortsetzung haben darf. Die Völkergemeinschaft fand endlich innerhalb von hundert Jahren im Jahr 1907 in der Haager Landkriegsordnung zu einer gemeinsamen Auffassung: absoluter Schutz von Kulturgut gegen Wegnahme als Kriegsbeute. Im Artikel 56 heißt es, dass „Werke der Kunst und der Wissenschaft“ der Beschlagnahme des kriegsführenden und des okkupierenden Staates entzogen sind.“ Damit setzten sich die Jahrhunderte dauernden Bemühungen zum Schutz der Kunst durch. Heute gilt diese Norm auch auf der Ebene des Gewohnheitsrechtes.
Im I. Weltkrieg wurde diese völkerrechtliche Bestimmung das erste Mal praktiziert. Auf beiden Seiten gab es Kunstschutzorganisationen. Nach Kriegsende wurden verlagerte Kulturgüter wieder auf ihre ursprünglichen Territorien verbracht.
Der tiefe Rückschlag kam dann durch den unglaublichen Zivilisationsbruch der Nationalsozialisten durch die barbarischen Akte im II. Weltkrieg und die sich anschließende einseitige Inanspruchnahme der Sowjetunion von Kulturgut als Reparationsleistung im und nach dem II. Weltkrieg.
Der Krieg, den Deutschland als Angriffskrieg zuerst nach Westen und dann nach Osten geführt hat, war nicht nur ein Krieg der materiellen Zerstörung. Er folgte der nationalsozialistischen Ideologie, die unter anderem die Auslöschung der kollektiven Gedächtnisse zum Ziel hatte. Dazu gehörte wiederum die Kriegspraxis der massiven Zerstörung von Kunst und Kultur der besetzten Länder. Mehrere Sonderbeauftragte und Raubkommandos der Wehrmacht, der SS und anderer waren beteiligt. Zu den bekanntesten gehörten der Sonderauftrag Linz, der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, das Sonderkommando Künsberg und Ahnenerbe der SS. Zwar konnten die Sowjets einen Teil ihrer Sammlungen in die östlichen Teile der Sowjetunion evakuieren, aber es blieben die westlichen Teile, insbesondere die Region um Leningrad und Nowgorod.
Wegen des Truppenrückzugs der Deutschen wurden im Deutschen Reich Depots für die geraubten Güter angelegt, in Troppau, in Ratibor und im Westen. Nach Ende des Krieges lösten die Westalliierten alle Depots in ihrem Gebiet auf und führten sie in vier Collecting Points in München, Wiesbaden, Offenbach und Marburg zusammen. Von dort wurden die Objekte in die Herkunftsländer restituiert.
Zwischen 1945 und 1948 konnten rund 2 Millionen Kunstobjekte und 4 Millionen Bücher an 14 europäische Länder zurückgegeben werden. Polen erhielt u.a. den Veit-Stoss-Altar, Ungarn die Sammlungen des Nationalmuseums, Frankreich die Fenster des Straßburger Münsters. Die Sowjetunion erhielt 534.000 Kunstobjekte zurück.
Über die Restitutionspraxis der Sowjetunion auf ihrem Besatzungsgebiet wissen wir wenig. Die Verfahren sind nicht dokumentiert. Wir wissen nur, dass die sowjetischen Kulturgüter vollständig restituiert wurden.
Insgesamt kann man aufgrund der Kenntnisse davon ausgehen, dass bis auf wenige Zufallsfunde eine umfassende Restitution der ins Deutsche Reich verbrachten Kulturgüter stattgefunden hat. Für die Sowjetunion ergibt sich das komplette Bild der Restitution aus dem Rücktransport aus den Collecting Points der Westalliierten und den Rücktransporten aus den Depots in der eigenen Besatzungszone. Nicht berücksichtigt bei der Gesamtbeurteilung sind die großen Zerstörungen der Kulturgüter während des Krieges in der Sowjetunion.
Die Depots im Einflussbereich der Roten Armee enthielten neben den Beutekunstsammlungen aus der Sowjetunion auch häufig die vor den Bombenangriffen der Alliierten geschützten deutschen Sammlungen. So gelangte beides in die Sowjetunion: die von den Deutschen geraubten und die von den Sowjets verbrachten Kulturgüter. Hinzu kamen die von den sowjetischen Trophäenkommissionen der Roten Armee aus Museen, Bibliotheken und Archiven gezielt herausgesuchten Bestände, sowie zahlreiche Privatsammlungen.
Die Sowjetunion hatte relativ früh die Praxis des nationalsozialistischen Kunstraubes für sich adaptiert und entwickelt. Es war nicht nur die Reaktion des Siegers am Ende des Krieges. Stalin hatte 1943 im Zentralkomitee der KPdSU festgelegt, dass die verschiedenen Ressorts eigene Trophäenkommissionen bilden sollten. Kulturoffiziere erstellten mit großer Sachkenntnis ab 1943 Listen für die Entnahmen aus den deutschen Kultureinrichtungen. Am Ende sollte in Moskau ein großes Weltkunstmuseum der Beutekunst stehen.
So gelangten, z.T. mit Sonderflugzeugen, Bestände des Museums für Vor- und Frühgeschichte nach Moskau und Leningrad: der Schatz des Priamos, die Goldfunde von Eberswalde und das Merowinger Gold, aus der Antikensammlung der Pergamonaltar und herausragende Skulpturen, die Hauptwerke der Gemäldegalerie und der Nationalgalerie, des Vorderasiatischen Museums und des Kupferstichkabinetts, 90% des Museums für Ostasiatische Kunst usw.
Die Staatlichen Museen zu Berlin hatten außer den evakuierten Sammlungen im Wesentlichen drei Depots: den Zoobunker, den Bunker in Friedrichshain und die Neue Münze. Außerdem befanden sich Sammlungsteile in den Kellern der Museumsinsel. Der Zoo-Bunker wurde am 1. Mai 1945 von der Roten Armee besetzt. Dort befanden sich die als „unersetzlich“ qualifizierten Objekte, u.a. die archäologischen Goldsammlungen. Der Zoo-Bunker hatte den Krieg unversehrt überstanden und mit ihm alle eingelagerten Kunstwerke. Da er im künftigen Westsektor Berlins lag, räumten die Sowjets den Bunker vollständig leer und übergaben den leeren Zoo-Bunker.
Für den Bunker in Friedrichshain war die Entwicklung dramatisch. Dort befanden sich die großformatigen hochrangigen Bilder der Gemäldegalerie, Botticelli, Rubens, Rembrandt, Tizian usw. Die Rote Armee übernahm am 2. Mai 1945 die Bewachung, die deutschen Museumsarbeiter mussten das Gebäude verlassen. Am 6. Mai 1945 und dann wieder zwischen dem 14. und 18. Mai brachen Feuer aus. Offensichtlich wurden Plünderer nicht abgehalten, in dem dunklen Bunker mit Fackeln Kunstwerke zu identifizieren und sie wegzuschaffen. Dadurch kam es zu den Bränden. Viele Kunstwerke sind wahrscheinlich unwiderbringlich verloren, einige tauchten, von Privathand angeboten, wieder auf. Die Neue Münze blieb weitgehend unversehrt.
Aus Dresden gelangten unter anderem die Gemäldesammlung und Exponate der Skulpturensammlung, der Gesamtbestand des Kupferstichkabinetts und die des Grünen Gewölbes in die Sowjetunion, aus Leipzig Teile der Gemäldesammlung, des Grassimuseums (Kunstgewerbe) sowie zwei Gutenbergbibeln. Darüber hinaus waren betroffen Gotha, Potsdam, Weimar, Schwerin, Halle, Rostock, Magdeburg, Meißen und andere Orte.
Auch die deutschen Bibliotheken und Archive erlitten erhebliche Verluste, so die Landesbibliothek Dresden (über 200 000 Bände), die Leopoldina in Halle, die Gothaer Schlossbibliothek. Schließlich traf es auch die berühmten Privatsammlungen von Otto Gerstenberg (Berlin), Bernhard Koehler (Berlin), Friedrich Carl Siemens (Berlin) und Otto Krebs ( Holzdorf/Thüringen), aber auch die Sammlung von Wilhelm von Humboldt aus Schloss Tegel. Westdeutsche Sammlungen waren insoweit betroffen als sie Auslagerungsorte im Osten hatten. Dazu gehörte ganz prominent die Bremer Kunsthalle, aber auch die Hansestädte Hamburg und Lübeck. In die Sowjetunion wurden auch ausländische westeuropäische Sammlungen transportiert, wenn sie sich als Beutekunst in den ostdeutschen Depots befanden.
So entdeckte ich im Moskauer Militärarchiv die „Blauen Briefe“ von Rainer Maria Rilke an seine Geliebte Claire Goll, die die SS aus Paris mitgenommen hatte.
Der Gesamtumfang von Kulturgütern, der in die Sowjetunion verbracht wurde, ist noch immer nicht bekannt. Die deutschen Einrichtungen haben zwar zum Teil Verlustlisten aufgestellt, es gibt auch Konvolute von Transportlisten. Aber was durch den Krieg zerstört wurde, auf dem Transport abhanden kam, was also wirklich in welchem Zustand in den Geheimdepots erhalten ist, entzieht sich genauerer Kenntnis.
Nach sowjetischen Schätzungen aus den 50er Jahren gelangten nach dem II. Weltkrieg etwa 2,6 Millionen Objekte von künstlerischem Wert in die Sowjetunion, mehr als 6 Millionen Bücher und Kilometer von Archivalien. Ohne direkten Zugang zu den Depots durch deutsch-russische Expertengruppen wird man nie einen Überblick gewinnen.
Berliner und Dresdner Museums- und Bibliotheksdirektoren haben gleich nach Kriegsende versucht, die Exponate wieder zurückzuholen. Der Erfolg blieb ihnen verwehrt.
Aber dann setzte in den 50er Jahren eine Entwicklung ein, mit der kaum noch jemand gerechnet hatte. Die Sowjetunion führte einen beachtlichen Teil der Beutekunst zurück, nicht nach Westdeutschland, aber in die DDR. Es war einerseits eine kurze Zeit des Tauwetters unter Chrustschow, andrerseits war es die Gründungszeit des Warschauer Paktes. Man brauchte die Verbündeten, insbesondere die DDR. Durch die Rückgabe ihrer Kunstwerke wurde die DDR aufgewertet, nach innen und nach außen. Der Mythos Beutekunst wurde bewusst als politisches Kalkül eingesetzt, um eine positive Stimmung zu erreichen. Es war eine hohe Identifikation und eine emotionale Bewegung damit verbunden.
Die Restitution erfolgte in mehreren Phasen, mit Ausstellungen zunächst in Moskau und dann in Berlin. Zunächst kamen im Jahr 1955 die Meisterwerke der Dresdner Gemäldegalerie zurück, unter anderem die Sixtinische Madonna von Raffael. 1958, am 10. Jahrestag der DDR, erfolgte die Rückgabe an die Berliner Museen, unter anderem auch mit dem mächtigen Pergamonfries. Die öffentliche Anteilnahme in der DDR war unbeschreiblich. Es war eine Begeisterung ohnegleichen. Die Menschenschlangen vor den Ausstellungen waren so lang, wie wir sie heute nur bei den großen Events wie MoMA kennen.
Ich habe damals diese Ereignisse als junger Mann miterlebt als ich als Westdeutscher mit meinen Leipziger Verwandten die Ausstellung der Dresdner Schätze auf der Berliner Museumsinsel besuchen konnte. Diese Eindrücke waren für mich von bleibender Wirkung, vielleicht spielten sie auch in gewissem Umfang eine motivierende Rolle in meiner beruflichen Position als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der damit verbundenen Aufgabe zur Wiederherstellung und Vollendung der Museumsinsel.
Von vielen Menschen im Westen Deutschlands wurden diese Rückgaben kaum wahrgenommen, obwohl es mehr als 1,5 Millionen Kunstwerke, mehr als 3 Millionen Bücher und Archiveinheiten waren. Man kann sich zwar auf den Standpunkt stellen, das war eine Rückgabe im sozialistischen System, alles blieb weiterhin im Machtbereich der Sowjetunion. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Kunstwerke wieder in ihrem kulturellen Kontext waren, dass das kulturelle Gedächtnis wieder seine Struktur und Funktion bekam und die Öffentlichkeit Zugang hatte sowie die Wissenschaft mit den Beständen arbeiten und forschen konnte. Die Kunst schafft im kulturellen Kontext ihre eigenen geistigen Räume und sie werden dann auch ganz eigenständig wirksam.
Man muss feststellen, die Museumsinsel wäre heute eine leere Hülle, wenn 1958 nicht die großen Sammlungskomplexe zurückgekommen wären. Weder der Pergamonaltar stünde da, noch die große Antikensammlung. Das Bode-Museum oder die Alte Nationalgalerie wären ein Torso ohne Glanz und Ausstrahlung. Das Grüne Gewölbe in Dresden – ein Publikumsmagnet – wäre nicht vorstellbar.
2008, 50 Jahre nach den Rückgaben, sollte man daran erinnern, nicht nur in Dresden oder Berlin, in allen unseren Museen, Bibliotheken und Archiven, die daran beteiligt waren, und in allen, die noch auf ihre Exponate warten, im Westen und Osten Deutschlands.
Denn – und das ist dann bei aller Freude und Dankbarkeit das Enttäuschende gewesen – es kam nicht alles zurück, obwohl die Sowjetunion die Restitution als vollständig bezeichnet hatte. Die Falken hatten in der Sowjetunion wieder die Oberhand gewonnen und den Prozess unterbrochen. Noch immer befinden sich in Russland knapp 1 Million Kunstobjekte, davon 200 000 hochwertige Exponate, etwas 2 Millionen Bücher und drei Kilometer Archivgut.
Es sind die großen Werke der europäischen Malerei, die impressionistischen Gemälde aus den Privatsammlungen, die herrlichen Lackarbeiten und Rollbilder des Museums für ostasiatische Kunst, die großen Sammlungen mittelalterlicher Handschriften und Frühdrucke aus Berlin, Leipzig, Bremen, Dresden, Gotha und Lübeck. Und immer wieder und immer noch das Gold von Troja, der Goldfund von Eberswalde und das Merowinger Gold.
Interessant ist die Formulierung, die sich im Abschlussdokument der Rückgabe von 1960 findet:“ Die Sowjetunion gibt die deutschen Kulturgüter zurück, die in der Zeit des II. Weltkrieges während der Kampfhandlungen auf dem Territorium Deutschlands von den sowjetischen Truppen gerettet und zwecks Erhaltung und Restaurierung zur zeitweiligen Aufbewahrung in die Sowjetunion gebracht wurden.“ In diesem Dokument wird kein bleibender Anspruch formuliert.
Es hat übrigens auch nach diesen spektakulären Rückgaben immer wieder kleinere geheim gehaltene Rückgaben an die DDR gegeben. Ansonsten spielte das Thema weder in der DDR noch in der Bundesrepublik Deutschland eine öffentlich wahrnehmbare Rolle.
Erst mit dem Vertrag über die abschließende Regelung zu Deutschland (Zwei-Plus-Vier-Vertrag) und dem 1990 geschlossenen Friedens- und Nachbarschaftsvertrag zwischen der Sowjetunion und Deutschland sowie dem Kulturabkommen von 1992 zwischen Russland und Deutschland erschien das Thema wieder auf der politischen Agenda. Während mit der neuen Zeitrechnung ab 1990 grundlegende Veränderungen in den gesellschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten einsetzten, 1994 die letzten russischen Truppen Deutschland verließen, blieb ein Thema völlig ungelöst, obwohl es so hoffnungsvoll in den Verträgen formuliert war. Es heißt: „Die Unterzeichner stimmen darin überein, dass verschollenen oder unrechtmäßig verbrachte Kunstschätze, die sich auf ihrem Territorium befinden, an den Eigentümer oder seinen Rechtsnachfolger zurückgegeben werden.“
Diese Formulierung entspricht geltendem Völkerrecht, wie in der Haager Landkriegsordnung formuliert.
1993 begannen die Gespräche in Dresden auf Regierungsebene mit großem Elan. Es wurden verschiedene Arbeitsgruppen gebildet. Sehr schnell legte sich der Schwung und wie Mehltau legte sich die Gesprächsatmosphäre auf die Sachthemen. 1995 kam es zu einem völligen Stillstand. Die Kulturgüter,seit 60 Jahren in Geheimdepots des KGB versteckt, auch der russischen Öffentlichkeit bis dahin nicht bekannt, wurden zunehmend zum innen- und parteipolitischen Thema. Der Mythos Beutekunst war wieder auferstanden, die Wahrnehmung wurde mit Kriegstrophäen, mit der barbarischen Kriegspraxis und den Millionen Toten identifiziert. Das abstrakte Völkerrecht wurde überrannt.
1998 erließ die Duma, das russische Parlament, das Beutekunstgesetz, das alle deutschen Kunst- und Kulturgüter, die sich auf russischem Boden befinden, zu russischem Eigentum erklärt. Auch die wenigen Ausnahmen, jüdische Eigentümer, NAZI-Verfolgte, kirchlicher Besitz blieben bis heute unbehandelt. Lediglich die Kirchenfenster der Marienkirche in Frankfurt/Oder kamen zurück sowie die 101 Blätter der Bremer Kunsthalle aus der sogenannten „Baldin-Sammlung“, die 1943 ausgelagert und 2000 zurückgegeben worden sind. Deutschland hat seinerseits in dieser Zeit, zum Teil mit großer Unterstützung der deutschen Wirtschaft, die Wiederherstellung des Bernsteinzimmers, der Maria-Entschlafenskirche bei Nowgorod und die Übergabe des „Betenden Knaben“ an Schloss Peterhof ermöglicht sowie wenige noch in Deutschland nach 1990 ermittelten und aufgefundenen Kunstwerke russischer Provenienz, die kriegsbedingt verlagert worden waren, der russischen Seite übergeben.
Symbole und Gesten, die ihre Wirkung in der Öffentlichkeit nicht verfehlten, die aber letztlich keine politische Wirkung entfalteten.
Wo liegt das Problem? Russland hat im Duma-Gesetz eine Auffassung der so genannten kompensatorischen Restitution formuliert. Darunter versteht Russland eine materielle Haftung, bei der der Aggressorstaat, sofern er nicht im Original restituieren kann, eine Übergabe von Gegenständen gleicher Art wie die geraubten oder unrechtmäßig verbrachten Objekte leisten muss.
Das ist eine eigene russische Norm, die sich sonst nicht im Völkerrecht findet und im Ergebnis die Haager Landkriegsordnung ausschaltet.
Die rechtliche Bewertung dieser russischen Gesetzgebung und der dazu ergangenen Begründungen müssen sich an der Haager Landkriegsordnung orientieren. Zum anderen müssen die Beschlüsse der Alliierten während und nach dem Krieg herangezogen werden. Die Alliierten hatten sich wiederholt mit Fragen der Reparation und der Restitution befasst, beginnend 1943 in London über Bretton Wood, Jalta 1944 und Potsdam 1945. Zu Fragen der Restitution wurde die völkerrechtliche Position der Haager Landkriegsordnung zugrunde gelegt. Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands hat dieses Regelwerk nicht außer Kraft gesetzt. Die Potsdamer Konferenz beließ es bei grundsätzlichen Festlegungen, die konkrete Ausführung überließ man dem Kontrollrat. Zu keinem Zeitpunkt ging dieser über den Artikel 56 der Haager Landkriegsordnung hinaus. Zwar brachte die Sowjetunion bereits damals die kompensatorische Restitution – restitution in kind – ein, aber es gab dazu keine Direktive und keine Beschlüsse.
Amerikanische Kulturoffiziere verabschiedeten im November 1945 das Wiesbadener Manifest, das die Rückführung auf die jeweiligen Territorien vorsah. Die Westalliierten verhielten sich dann auch danach, die Sowjetunion hielt sich bedeckt. Sie hat mit der Praxis der Beschlagnahmung und Aneignung der deutschen Kulturgüter ohne Mandat des Alliierten Kontrollrats gehandelt.
Es ist interessant, dass in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen Kunstraub ein Anklagepunkt war. Die nationalsozialistischen Angeklagten sind in Nürnberg wegen Kunstraub verurteilt worden, übrigens mit Beteiligung russischer Richter.
Nur Unrecht kann man nicht mit Unrecht wieder gut machen. Deshalb enthält das Völkerrecht seit Beginn des 20.Jahrhunderts für die Kunst eben nicht den Passus der kompensatorischen Restitution. Die verbrachten Kulturgüter bleiben Kriegstrophäen, ihnen fehlt der Zusammenhang zum kulturellen Kontext. Sie werden nie zum kulturellen Gedächtnis Russlands werden. Fabriken, Gleise, Lokomotiven und Kontributionszahlungen sind Reparationsleistungen, nicht aber die Werke der Kunst und der Wissenschaft.
Im Jahr 1953 hat die Sowjetunion übrigens gegenüber der DDR auf alle Reparationen verzichtet. Schon in Potsdam hatte sie einen rechtlich bindenden Verzicht auf Reparationen aus den westlichen Besatzungszonen ausgesprochen.
Beutekunst ist nicht nur ein bilaterales Problem zwischen Deutschland und Russland, auch wenn es von der Größenordnung besonders prominent ist. Beutekunst hat sowohl eine internationale als auch eine historische Dimension.
Mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion konnten Rückführungen teilweiswerden. Das gilt für Georgien, Armenien, in Einzelfällen – wie bei der Singakademie – auch für die Ukraine.
Obwohl Polen ebenfalls noch kriegsbedingt verlagerte deutsche Sammlungen besitzt – es sind die Berlinka der Berliner Staatsbibliothek, 200 000 Autographe und Musikhandschriften der Dichter, Denker und Komponisten Deutschlands – würde ich sie nicht mit dem Terminus Beutekunst belegen. Sie waren von deutschen Stellen aus Schutzgründen vor 1945 nach Schlesien ausgelagert worden. Nach Kriegsende und mit der Neufestsetzung der Westgrenze Polens befanden sie sich eher zufällig auf nunmehr polnischem Staatsgebiet. Über ihre Rückgabe wird seit 1990 sowohl auf fachlicher wie auch auf politischer Ebene leider bislang ohne wirkliches Ergebnis verhandelt. Diese Bestände stellen das geistige Tagebuch der Deutschen dar; sie gehören nicht nur eigentumsrechtlich sondern von der gesamten Sammlungsgeschichte eindeutig in die Staatsbibliothek zu Berlin.
Es gibt auch Gespräche mit den USA und Frankreich über die Rückführung von kriegsbedingt verlagerten Kunst- und Kulturgütern, teilweise mit Erfolg, unter anderem durch Rückerwerbung, wie beim Quedlinburger Domschatz.
Beutekunst ist aber auch ein hoch aktuelles Thema als ständig neue Gefährdung. Bei den Kriegen in Afghanistan, im Irak, in Kambodscha, auf dem Balkan und anderswo ist immer wieder die kulturelle Substanz in Gefahr, zerstört oder verschleppt zu werden. Im Golfkrieg des Irak gegen Kuweit spielte das Argument Beutekunst bei den Sanktionsverhandlungen der Vereinten Nationen eine nicht unwesentliche Rolle.
Die völkerrechtliche Ächtung von Zerstörung oder Raub des Kulturgutes ist ein hoher Wert für die Völkergemeinschaft. Völkerrecht ist aber immer nur so wirksam, wie es die Staaten als gewollte Anwendung anerkennen und durchsetzen. Deshalb ist es keine Lösung, das Beutekunstproblem zwischen Deutschland und Russland isoliert zu sehen und einfach einen Strich darunter zu machen. Das kann nur zur Erosion des Völkerrechts international führen. Es geht nicht um das Prinzip Recht zu haben, es geht um ein über die Jahrhunderte erstrittenes Grundrecht, das zwar immer wieder gefährdet wird, für dessen Erhalt aber immer wieder Position bezogen werden muss.
Restitution benötigt auf jeden Fall eine klare politische Artikulation. Konkrete Verhandlungen zur Rückführung gehören auf die Agenda der Regierung, sonst wird das Thema nicht ernst genommen. Nur mit rituellen völkerrechtlichen Hinweisen wird nichts bewegt. Es muss aber auch eine öffentliche Wertschätzung für Kunst und Kultur in der Gesellschaft bestehen, für Geschichte, Wissen und Tradition. Sie kann man nur durch Aufklärung, Kenntnis und kulturelle Bildung schaffen. Es geht hier nicht um spektakuläre Einzelobjekte oder vordergründig um materielle Werte. Es geht um unser kulturelles Gedächtnis. Es wäre ein selbstverschuldeter Kulturverlust würde Deutschland nicht darum verhandeln und die russische Seite selbst würde die Deutschen verachten, wenn sie sich nicht zu ihrer Kultur bekennen würden. Nur ist das Thema Beutekunst dicht verwoben mit Symbolen, Gesten, Empfindlichkeiten, Tabus, Erinnerungen und dem kollektiven Gedächtnis. Sowohl Verhandlungsstil als auch Lösungsansätze müssen dem Rechnung tragen.
Unabhängig von der bestehenden politischen Stagnation muss das Thema weiter getragen werden im Sinn von Aufklärung und Entmythologisierung. Dazu hat sich die Fachebene bekannt. Sie will mit ihren Initiativen zwei noch immer bestehende Grundprobleme im Vorhof der Politik lösen, den freien Zugang für Wissenschaftler in die Geheimdepots erreichen und die bessere Betreuung und Erfassung der Bestände leisten. Es gibt inzwischen einen Deutsch-Russischen Museumsdialog mit rund 70 Museumsfachleuten. Dabei geht es zunächst um mehr Informationen über die in Russland befindlichen Bestände. In einem Förderprojekt sollen Transport- und Verteilungslisten ausgewertet werden, um zu lokalisieren und zu identifizieren, möglichst in Kooperation mit den russischen Kollegen. Zur Erhaltung, Konservierung und Restaurierung der Bestände soll den Museen spezifisches bestandsbezogenes Wissen und Erfahrung vermittelt werden. Für längere Arbeitsaufenthalte von jungen russischen Museumsfachleuten an deutschen Museen und umgekehrt für deutsche Wissenschaftler in Russland soll ein Stipendienprogramm aufgelegt werden. Man erwartet sich damit längerfristige Bindungen und ein besseres Verständnis. Schließlich will man durch große Ausstellungen, bei denen Beutekunstbestände beteiligt sind, öffentliche Aufmerksamkeit schaffen, gemeinsame Projekterfahrungen nutzen und Zugang zu den Geheimdepots selbstverständlich praktizieren.
Ein erstes Großprojekt ist mit der Ausstellung „Merowinger – Europa ohne Grenzen“ erfolgreich in Moskau und St.Petersburg im Februar und Juni 2007 präsentiert worden. Neben den Funden russischer Herkunft aus der Eremitage und dem Historischen Museum Moskau und Leihgaben aus dem Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte wurden die kriegsbedingt verbrachten Bestände des Museums für Vor- und Frühgeschichte, die sich heute im Puschkin-Museum und in der Eremitage befinden, gezeigt immerhin 70% der gesamten Ausstellungsexponate. So konnte eindrucksvoll die unnatürliche Zerrissenheit der Sammlung dokumentiert werden, gleichzeitig das Geschichtsbewusstsein gestärkt und eine umfassende wissenschaftliche Dokumentation für die weitere Forschungsarbeit hergestellt und erreicht werden.
Die Ausstellung konnte nicht in Deutschland gezeigt worden, da Deutschland wegen des Eigentumsanspruch keine Rückgabegarantie gegeben hätte. Umso wichtiger ist der international vertriebene Katalog in englischer, deutscher und russischer Sprache, der nicht nur den Reichtum der Sammlung zeigt, sondern auch die deutsche und russische Rechtsauffassung zur Beutekunst enthält. Jeder Leser kann sich ein Bild machen in Bezug auf die Nähe oder Ferne zum geltenden Völkerrecht. Die Nachdenklichkeit in den russischen Medien war erkennbar.
Ein nächstes Projekt ist zur Bronzezeit geplant – ebenfalls mit einer Vielzahl kriegsbedingt nach Russland verbrachter deutscher Kulturgüter, die sich heute dort befinden.
Es mag nach kleiner Münze aussehen, aber es ist derzeit wohl der einzige Weg, das Thema auf der politischen Tagesordnung und in der öffentlichen Wahrnehmung zu halten.
Verhandeln müssen die Regierungen. Deutschland muss sein Mandat auf der rechtlichen Grundlage wahrnehmen. Sonst wäre die Rückführung ausschließlich von politischer oder wirtschaftlicher Opportunität abhängig. Es mag ein langwieriger Prozess sein. Aber die lange gemeinsame russische und deutsche Geschichte war nicht nur durch realpolitische Entwicklungen bestimmt, sondern in hohem Maß auch durch enge kulturelle Bindungen.
Ich habe deshalb die Hoffnung, dass der jeweilige kulturelle Kontext wieder bestimmend wird für den Verbleib der Kulturgüter und nicht der Begriff der Trophäe. Dann wären Völkerrecht und kulturelles Empfinden wieder deckungsgleich und der einseitig durch Russland aufgekündigte internationale Konsens des geltenden Völkerrechts wieder hergestellt.