Prof. Dr. Herwig Guratzsch – Überleitung zum Festvortrag von Dr. Manfred Osten
Goethe – der Schwarzseher des 21. Jahrhunderts ?
Wir haben in dem von Goethes Auffassungen geprägten Festsaal des Schlosses Platz genommen. Etwas eng, weil es viele Rückmeldungen gegeben hat. Das lässt auf eine gute Erwartungshaltung gegenüber jenen Beobachtungen Goethes schließen, die er aus den Veränderungen seiner Zeit diagnostisch im Blick auf Zukunft in den Blick genommen hat.
Wir fragen uns, ob die krankhafte Beschleunigung aller Lebens – und Denkbereiche, das selbst und durchs Fernsehen verschuldete Hetzen u. Gehetzsein von Goethe antizipiert wurde. Sind Sehnsucht nach Innehalten, Aussteigenwollen im Faust Kontrapunkte?
Herr Dr. Manfred Osten, lange Jahre im Diplomatischen Dienst Deutschlands u.a. in Fernost tätig, zwischen 1995 und 2004 Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung, Kulturwissenschaftler mit vielen Veröffentlichungen, geht auf solche Fragen mit dem Titel:
„ Goethe – der Schwarzseher des 21. Jahrhunderts? „ ein.
Wir sind gespannt. Herr Osten, Sie haben das Wort!
Goethe – der Schwarzseher des 21. Jahrhunderts ?
Die Faust-Tragödie als Szenario unserer Krisen
Dr. Dr. h.c. mult. Manfred Osten
Meine Herren,
vielleicht erinnert sich mancher von Ihnen noch an das diesjährige Gipfeltreffen von Geist und Geld in Frankfurt am Main. Im Juni hatten die Deutsche Bank und das Freie Deutsche Hochstift eingeladen zur Begegnung des berühmten Joseph Ackermann mit dem nicht minder berühmten Sohn der Stadt, Johann Wolfgang von Goethe. Der letztgenannte wurde bei dieser Gelegenheit vertreten durch den Wirtschaftswissenschaftler und Faust-Deuter Christoph Binswanger. Bei Binswanger hatte Ackermann einst promoviert, ausgerechnet über ein Thema, das uns heute im Zeichen der Finanzkrise allen auf den Nägeln brennt. Nämlich über den Einfluß des Geldes auf das reale Wirtschaftsgeschehen. Daß Goethes Faust-Tragödie zu diesem Thema im Sinne Binswangers als eine frühe Warnung gelesen werden könnte, wollte Ackermann, mit jährlich angestrebter Eigenkapitalrendite von 25 Prozent, nicht gelten lassen. Er tat dies, wie die FAZ kommentierte, „mit jener Sturheit, die Schweizern als Charme gilt“.
Daß Goethes Warnung, trotz allen Charmes der Sturheit, hiermit nicht gegenstandslos ist, soll heute in einem größeren Zusammenhang und im Lichte weiterer Krisenwarnungen der Faust-Tragödie erörtert werden. Vorauszuschicken ist hierbei, daß Goethe schon vor rund 200 Jahren den Charme der Sturheit seiner Zeitgenossen in Sachen Krisenwarnungen kannte und daher vorsorglich den zweiten Teil der Faust-Tragödie versiegelte. Er war nämlich überzeugt davon, daß es Pflicht sei, anderen nur das mitzuteilen, was sie aufnehmen können. So ist er denn als Schwarzseher künftiger Krisen damals unerkannt geblieben. Mit der Folge, daß schon Ende des 19. Jahrhunderts Nietzsche bemerkte, Goethe sei in der Geschichte der Deutschen „ein Zwischenfall ohne Folgen“.
Inzwischen haben die von ihm im Wege „sehr ernster Scherze“ in der Faust-Tragödie metaphorisch thematisierten Krisen globale Dimensionen erreicht. Sodaß die Frage nach Goethes Diagnose und möglichen Therapievorschlägen sich für uns im 21. Jahrhundert umso dringlicher stellt. Welche Krisenszenarien hat Goethe vor allem im Faust II versiegelt? Wie war es ihm möglich, die globalen Dimensionen dieser Krisen bereits zu erkennen? Hat er Hinweise hinterlassen für die Bewältigung dieser Krisen?
Die Möglichkeit globaler Dimensionen unserer Krisen hat Goethe spätestens 1825 erkannt und formuliert in einem von ihm ebenfalls sekretierten, das heißt, nicht an den Empfänger abgesandten Brief. Es handelt sich hierbei um einen Brief an seinen Großneffen, den Juristen und Verwaltungsbeamten Nicolovius in Berlin: „Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten, ein guter Kopf könnte wohl noch Eins und das Andere interpolieren. Dadurch wird alles, was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja, was er vorhat, ins Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum Zeitvertreib der Übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.“
Es ist die globale Unterwerfung aller Lebensbereiche unter das absolute Diktat der Beschleunigung, die Goethe hier bilanziert mit dem Wort „veloziferisch“, und es ist zugleich das Betriebsgeheimnis der Globalisierung für Goethe. Ein Wort, mit dem er die Eile (velocitas) mit Luzifer, dem Teufel, verbindet. Und es ist die in dieser Verbindung lauernde Gefahr der Selbstzerstörung des Menschen, die Goethe dann mit dichterischer Konsequenz in der „global-village“-Tragödie des Faust inszeniert als das moderne Welttheater der Ungeduld. Den Gang dieser Tragödie der Ungeduld hat Goethe dort auf die Formel gebracht: „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.“ Es ist Faust selber, der mit dem modernsten aller Flüche die globale Bühne betritt: „Fluch vor allem der Geduld!“ Und es ist Luzifer Mephisto, der diesen Fluch bedient mit den global entfesselten Instrumenten der Beschleunigung. Es sind: der schnelle Degen und der schnelle (fliegende)Mantel. Und schließlich auch die schnelle Liebe als die selbstzerstörerische Formel humaner Interpersonalität. Es ist auch Mephisto, der Faust erkennt als den Repräsentanten des „Veloziferischen“. Mephisto beschreibt das Psychogramm dieses Global Players mit dem modernen Hinweis, daß ihm das „Schicksal“ einen Geist gegeben habe, der zwar ungebändigt immer vorwärts drängt, aber hierbei durch sein „übereiltes Streben“ der Erde Freuden „überspringt“. Mit dem fatalen Fazit, daß Faust auch ohne Hilfe des Teufels zugrunde gehen müsse.
Aber noch ein anderes global entfesseltes Instrument antizipiert Goethe im zweiten Teil der Faust-Tragödie. Er beschreibt hier bereits ausführlich das geheim-offenbare Schwungrad der Wachstumsdynamik des globalen Dorfes: das schnelle Geld im Weltinnenraum des virtuellen Kapitals und der Verwöhnungstreibhäuser der Konsum- und Fortschrittsgesellschaft. Und es war Karl Marx, der Phänomenologe des Kapitals, der dieses Schwungrad der Moderne, diesen „wirklichen Geist aller Dinge“ folgerichtig in Goethes Faust entdeckt und zur Grundlage seiner eigenen Kapitalismus-Kritik macht. Der junge Marx hatte sich nämlich vor allem von Goethes Mephisto inspirieren lassen, der im Faust das Erfolgsrezept des Kapitals mit den Worten beschreibt: „Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, / Sind ihre Kräfte nicht die meine? / Ich renne zu und bin ein rechter Mann, / Als hätt‘ ich vierundzwanzig Beine.“ Eine Erkenntnis, die Marx wie folgt kommentiert: „Was ich zahlen, das heißt, was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine – seines Besitzers – Eigenschaften und Wesenskräfte. Ich – meiner Individualität nach – bin lahm, aber das Geld verschafft mir 24 Füße, ich bin also nicht lahm; ich bin eine schlechter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer … Geld ist also der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein?“ Ein nicht sehr schmeichelhaftes Psychogramm der Finanzeliten, das in der jüngsten Finanzkrise nicht gerade widerlegt worden ist.
Und lag nicht für den „lahmen“ und „gewissenlosen“ Besitzer des Geistes aller Dinge die Versuchung nahe, auch das Geld in Quantensprüngen von „24 Füßen“ zu beschleunigen? Mit dem inzwischen erreichten „veloziferischen“ Ergebnis, daß allein in den zurückliegenden dreißig Jahren die globale Geldmenge sich vervierzigfacht hat. Die reale Gütermenge aber hat sich nur vervierfacht. Ein Geldvermehrungskunststück, das allerdings im Faust II bereits weit übertroffen wurde. Denn über die dortige veloziferische Geldvermehrung berichtet der beglückte kaiserliche Schatzmeister, das Geld sei in einer einzigen Nacht durch „Tausendkünstler schnell vertausendfacht“. Auch die veloziferische Lichtgeschwindigkeit, mit der sich dieses „Tausendkünstler“-Geld global verteilt, wird vom Marshall des Kaisers bereits beschrieben: „Unmöglich wär’s, die Flüchtigen einzufassen; / Mit Blitzeswink zerstreute sich’s im Lauf“. Und es ist die Kaiserpfalz, wo zum ersten Mal das Kunststück gelingt, Mephistos sechs Hengste mit ihren vierundzwanzig Beinen in Geld mit unzähligen virtuellen Beinen zu verwandeln. Es ist die Geburtsstunde der modernen Finanzwirtschaft im Dienste einer Monetarisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche.
Mit dem Ergebnis einer rasant wachsenden Desynchronisation: Das heißt, einem temporalen Auseinanderklaffen zwischen turbobeschleunigten Finanzmärkten einerseits und der abgehängten Realökonomie andererseits. Denn am Kaiserhof besteht in der Tat bereits ein dringender Bedarf nach beschleunigter Geldvermehrung im Dienste der modernen Devise: „Wir müssen alle Tage sparen und brauchen alle Tage mehr.“ Wir betreten hier nämlich die Vorstufen der modernen Anspruchs- und Forderungsgesellschaft gegenüber dem Staat. Der Staat kann jedoch den ständig wachsenden monetären Bedarf dieser Gesellschaft durch kleptokratische Umverteilung in Gestalt von Steuern nicht mehr befriedigen: „Subsidien, die man versprochen hatte, bleiben aus“. Mit der Folge, daß das Reich in Anarchie versinkt. Die Verschuldung des Staates wächst veloziferisch und das Kaiserreich steht am Rande des Staatsbankrotts.
Auf dem Höhepunkt der Insolvenz und Ratlosigkeit dient sich Faust – mit Hilfe Mephistos – als Finanzberater und Haushaltsexperte an. Sein Konzept lautet: schnelle und grenzenlose Geldvermehrung durch Papiergeldschöpfung. Binswanger hat diesen Vorgang der märchenhaften Geldvermehrung durch Fausts Papiergeldschöpfung am Kaiserhof mit guten Gründen interpretiert als Fortsetzung der Alchemie bzw. der Magie mit anderen Mitteln. Statt Blei zu Gold verwandelt Faust Papier zu Geld. Goethe hat demgegenüber in Weimar als Finanzminister dieser modernen Versuchung der Harry-Potter-artigen Geldschöpfung aus dem Nichts widerstanden. Sein Vorgänger im Amt hatte eine gigantische Schuldensumme von 130.000 Reichstalern hinterlassen. Und Goethe kannte die katastrophalen Folgen der Papiergeldschöpfung seiner Zeit: Die französischen Assignaten von 1792, die preußischen Banknoten von 1806 und das österreichische Papiergeld von 1810. Er hat den Mut gehabt, seinem Herzog von der bitteren Notwendigkeit des Schuldenabbaus zu überzeugen. Er ist auf diese Weise der erste Kriegsminister geworden, der das Militär um die Hälfte reduziert hat. Anders also als Faust, der ja bereits in der Ursage Alchemist war. Das heißt, Faust bedient mit seiner magischen Geldvermehrung am Kaiserhof bereits jene Leistungsverweigerungstendenz, die Oswald Spengler dann als eines der zentralen Merkmale für seinen „Untergang des Abendlandes“ bezeichnen wird: den grenzenlosen „Durst nach Geld ohne Arbeit“.
In Goethes Kaiserpfalz erfindet man mit dem Papiergeld das hierzu passende Finanzprodukt. Es weist der Moderne den Weg zur grenzenlosen Beschleunigung und Diversifizierung weiterer virtueller Finanzprodukte. Mit dem Ergebnis, daß sich in den letzten 30 Jahren vor der Finanzkrise das westliche Wirtschaftswachstum nach vorsichtigen Schätzungen bis zu 40 Prozent auf ein Scheinwachstum stützte, das auf dem Handel von Finanzprodukten und Vermögenstiteln beruhte, die keinerlei Beziehung mehr zum Markt der Güter und Dienstleistungen hatten. Denn die Produktion von Gütern und Dienstleistungen ist bekanntlich zeitaufwendig, und selbst der Konsum kann trotz ständiger künstlicher Bedürfnisweckung nicht beliebig beschleunigt werden.
Goethe antizipiert in der Kaiserpfalz aber nicht nur die immer höhere Umschlaggeschwindigkeit virtuellen Kapitals. Er antizipiert auch gleichzeitig das Versagen der Aufsichtseliten beim Auseinanderdriften von Finanz- und Realwirtschaft. Wobei dieses Versagen unter anderem zurückzuführen ist auf die wachsende kognitive und prognostische Inkompetenz dieser Eliten angesichts immer rascher wachsender neuer und abstrakter Finanzprodukte. In diesem Sinne versagt auch der Kaiser als höchste monetäre Kontrollinstanz. Er billigt das rasant sich verbreitende Papiergeld und die von Mephisto organisierte Urkundenfälschung auf der kaiserlichen Schuldverschreibung mit den leichtsinnigen Worten: „So sehr mich’s wundert, muß ich’s gelten lassen.“ Und sein Finanzminister, der Schatzmeiser, rühmt noch bedenkenloser Faust und Mephisto als die monetären Magier: „Soll zwischen uns kein fernster Zwist sich regen! Ich lobe mir den Zaubrer zum Kollegen.“
Kaiser und Schatzmeister sind froh, daß der Staat sich auf diese Weise scheinbar seiner Schulden entledigen kann. Der Einzige, der die möglichen Folgen dieser alchemistischen Geldvermehrung erkennt, ist der Hofnarr. Er tritt eilig die Flucht in die Sachwerte an und nutzt die paradox-absurde Situation. Er erwirbt Realwert durch Zahlung mit virtuellem Geld: „Heut abend wieg ich mich in Grundbesitz.“ Und es ist Mephisto, der ihn ironisch lobt mit den Worten: „Wer zweifelt noch an unseres Narren Witz!“ Der Kaiser aber hofft vergeblich, daß das neu geschaffene Geld zur Wertschöpfung genutzt wird und spricht diese Hoffnung aus: „Ich hoffe Lust und Mut zu neuen Thaten“ Um resigniert festzustellen: „Ich merk es wohl, bei aller Schätze Flor, / Wie ihr gewesen, bleibt ihr nach wie vor.“ Das heißt, die Gesellschaft verlangt weiterhin Weltverbesserungen ohne die Anstrengung eigener Selbstverbesserung. Und sie entschuldigt das Fehlen von Leistungs- und Verzichtbereitschaft mit dem Hinweis auf die Sachzwänge einer grenzenlosen Konsum-Idolatrie nach der bereits erwähnten Devise: „Wir wollen alle Tage sparen, und brauchen alle Tage mehr.“
Es ist eine Devise, die Goethe kannte durch die Lektüre zeitgenössischer nationalökonomischer Schriften. Christoph Binswanger hat (in Geld und Magie) gezeigt, daß durch diese Lektüre Goethe im Übergang vom Metall- zum Papiergeld und damit zum Kreditwesen den Beginn der ungeheuren Dynamik der modernen Geldwirtschaft erkannt hat. Goethe führe im Faust sogar bereits in Gestalt der drei Helfer Fausts (Habebald, Haltefest und Raufebold) ein Beispiel der frühkapitalistischen Produktionsweise vor. Goethe ist zu diesen frühen Einsichten gelangt, weil er vor allem jene Autoren seiner Zeit studiert hat, die bereits dem Geld eine primäre Rolle im Wirtschaftsprozeß zuerkannten: Johann Georg Schlosser (Basel), Johann Georg Büsch (Heidelberg), Henry Thornton (London) und Claude-Henri de Saint-Simon (Paris). Und Goethe hatte selber schon 1769 in seinem Theaterstück Die Mitschuldigen (ein Dieb öffnet hier die Geldschatulle) die Geldtheorie dieser Ökonomen dichterisch vorweggenommen mit dem Satz: „O komm, du Heiligtum! Du Gott in der Schatulle. Ein König ohne dich wär eine große Nulle.“
Vor allem Saint-Simon hatte 1814 schon eine Beschleunigung des Papiergeldumlaufs gefordert, „um der französischen Industrie Aufschwung zu verleihen“. Das heißt, mit der Umstellung der Ökonomie von der klassischen Bedarfsbefriedigung auf die Mehrwertproduktion war (in der Frühzeit der Industrialisierung) das entstanden, was Goethe im Faust auf die erwähnte lapidare Formel bringt: „Wir brauchen alle Tage mehr.“ Das heißt vor allem: mehr Geld. Denn der alte Zirkulationsprozeß von der Ware – Geld – Ware-Form war jetzt umgestellt auf einen völlig neuen dynamischen, auf Geld basierenden Zirkulationsprozeß: Geld – Ware – mehr Geld. Und gleichzeitig war mit diesem Umstellungsprozeß die Grundlage für die spezifisch kapitalistische Ökonomie der beschleunigten Zeit geschaffen. Im Sinne der bekannten Formel Benjamin Franklins „Time is Money“ galt jetzt das Beschleunigungsprinzip als Möglichkeit der Profit-Maximierung. Und damit verbunden die immer schnellere Nachfrage nach mehr Geld für Investitionen zur Produktionsbeschleunigung.
Goethe hat es jedoch nicht bei der Schilderung der Geburtsstunde der modernen Finanzkrise am Kaiserhof belassen. Er hat im Faust auch die geistigen, moralischen und ökologischen Kollateralkrisen dieser Geburtsstunde einer radikalen Monetarisierung und Ökonomiesierung aller Lebensbereiche metaphorisch gespiegelt. Goethe kennt daher auch schon den modernen Menschentyp im Weltinnenraum des virtuellen Kapitals. Es ist der Mensch als „Humankapital“. 1825 erläutert Goethe seinem Freund Zelter in Berlin, daß das „Durchrauschen des Papiergeldes“ und das „Anschwellen der Schulden, um Schulden zu machen“ die ungeheuren Elemente sind, „auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist.“ Um hieraus den Schluß zu ziehen: „Alles aber, mein Teuerster, ist jetzt ultra, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt … Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen. Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.“
Mit der Formulierung „niemand kennt sich mehr“ gibt Goethe zugleich Einblick in das Psychogramm des Menschen als „Humankapital“. Er ahnt, daß der Zeitstrudel des „Reichtums und der Schnelligkeit“ zur Selbstentfremdung führen muß. Denn das Leben wird – wie es Kierkegaard formuliert hat – zwar nach vorwärts gelebt, aber nur nach rückwärts verstanden. Und es ist Faust, der im Schlußakt der Tragödie als Turbokapitalist und Projektemacher im Namen des Fortschritts bereits jedes Verstehen des Lebens nach rückwärts ablehnt. Sein Vergangenheitshaß gipfelt in der Liquidierung der Repräsentanten des alten Gedächtnisses: Philemon, Baucis und Göttervater Zeus. Sie sind die Opfer einer rapiden Erosion des kulturellen Gedächtnisses. Die Folgen dieser Erosion sind inzwischen ablesbar an der Situation der Geisteswissenschaften, die als Bewahrer des kulturellen Gedächtnisses heute gezwungen sind, sich monetär durch Drittmitteleinwerbung zu legitimieren.
Für die zukunftsorientierten Naturwissenschaften sind sie hierbei zum Opfer einer Anekdote mutiert. Es ist die Geschichte eines Physikers und eines Soziologen, die beide zum Tode verurteilt sind, aber noch einen letzten Wunsch äußern dürfen. Als der Soziologe bittet, noch einmal einen Vortrag halten zu dürfen, bittet der Physiker darum, dann eine Stunde eher sterben zu dürfen.
Mit Philemon und Baucis liquidiert Faust aber auch das materielle kulturelle Erbe: Seine bereits erwähnten Helfershelfer (Habebald, Raufebold und Haltefest) zerstören die Kapelle, die Hütte und die alten Bäume. Faust stammt offenbar aus Dresden, denn er setzt sich im Namen des Fortschritts bereits vor 180 Jahren über UNESCO-Kulturerbe-Vorschriften hinweg. Die salvatorische Vollzugsmeldung seiner eiligen Helfershelfer der Mobilmachungsgesellschaft lautet denn auch: „Hier kommen wir im vollen Trab. Verzeiht, es ging nicht gütlich ab.“
Mit dem Verlust des kulturellen Gedächtnisses antizipiert Faust auch die Entwicklung des modernen Bildungsbegriffs: An die Stelle von Bildung als gedächtnisgestützter Urteilskraft tritt der durch den Bologna-Prozeß beschleunigte Erwerb von Zukunftskompetenz ohne Herkunftskenntnisse. Das Gedächtnis wird im übrigen delegiert an elektronische Speicher mit immer rascheren Innovationszyklen und sinkenden Halbwertzeiten. Das Motto der damit einhergehenden progressiven digitalen Demenz lautet: „Gespeichert, das heißt vergessen“ (H. M. Enzensberger). Mit dem Ergebnis, daß sich bereits als Historiker verstehen darf, wer die Tageszeitung von gestern gelesen hat. Im übrigen gilt das gebrochene Wort, da niemand sich zu erinnern vermag, was gestern gesagt worden ist. Ein Amnesie-Prozeß, der einhergeht mit einer Inflation an Beratungsbedarf für die Funktionseliten und dem Ergebnis einer Rechtschreibreform, die keine Unterscheidung mehr zuläßt zwischen einem viel versprechenden und einem vielversprechenden Politiker.
Die Gefahren dieser nicht mehr gedächtnisgestützten Bildung hatte der Goethe-Bewunderer Grillparzer bereits 1849 auf die Formel gebracht: „Der Weg der neueren Bildung geht von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität.“ Und Goethe selber führt im Faust II die Folgen der „Bestialität“ im Zeichen gedächtnisloser Bildung vor. Es sind Folgen vor allem für die alternde Gesellschaft, erläutert am Beispiel eines jungen Bachelors, der den als alten Gelehrten verkleideten Mephisto mit der Entsorgungsformel überrascht: „Hat einer erst die dreißig Jahr vorüber, ist er schon so gut wie tot. Am besten wärs, euch zeitig totzuschlagen.“
Zu spät bereut Faust die Kollateralschäden seiner eigenen Fortschrittsdynamik: „Geboten schnell, zu schnell getan.“ Karl Valentin hat im 20. Jahrhundert seine Zuhörer mit der Einsicht überrascht, daß alle Menschen eigentlich klug seien: „Die einen vorher, die anderen nachher.“ Faust gehört bereits zur letzten Kategorie. Er ist unfähig, das Leben nach rückwärts zu verstehen. Mit der Folge, daß sein ausschließlich Profit-orientiertes Zukunftsbewußtsein ihm die modernste aller Krankheiten beschert, die Blindheit im Zeichen der Sorge. Die Sorge, die in Gestalt einer alten Frau Faust das Augenlicht raubt, erläutert diese Krankheit mit Worten, die die Frage berechtigt erscheinen lassen: Ist Goethe der Schwarzseher des 21. Jahrhunderts? Denn die Worte der Sorge lauten: „ Wen ich einmal mir besitze / Dem ist alle Welt nichts nütze / … / Glück und Unglück wird zur Grille / Er verhungert in der Fülle / … / ist der Zukunft nur gewärtig, / Und so wird er niemals fertig.“ Faust wird nicht fertig, weil er durch seine Fortschritts-Orientierung gezwungen ist, immer schneller höheren Gewinn zu erwirtschaften. Er muß daher auch den Mehrwert der Arbeit seiner Mitarbeiter steigern. Das heißt, der blinde Faust glaubt zwar, mit freiem Volk auf freiem Fuße zu stehen. In Wahrheit aber stehen seine Mitarbeiter unter immer höherem Zeit- und Leistungsdruck. Sie sind bereits die Zwangsarbeiter der Moderne. Ihre Situation wird im Faust II mit den Worten beschrieben: „Nachts erscholl des Jammers Qual / Menschenopfer mußten bluten.“
Diese Wachstums- und Fortschrittsorientierung resultiert im Faust allerdings nicht nur in der gezeigten Menschenunterwerfung unter das Diktat der profitorientierten Beschleunigung. Goethe weiß, daß ein entscheidender Baustein noch fehlt: die Unterwerfung der Natur. Faust, der in seiner Blindheit am Ende nicht erkennt, daß das emsige Klappern der Spaten seinem eigenen Grab gilt, hinterläßt nämlich die Erde als Riesenbaustelle seiner Naturbeherrschungs-Obsessionen. Wir sehen als Schlußbild der Tragödie nicht nur Fausts Palast als Denkmal seiner Profit-Orientierung. Wir sehen auch zerstörte Biotope und gigantische Damm- und Kanalkonstruktionen gegen das Meer, das trockengelegt werden soll, um Land zu gewinnen. Es ist Mephisto, der diese Baustelle bereits erkennt als die Ursache künftiger Rachefeldzüge der Natur, als die Geburtsstunde globaler Klimakatastrophen aus dem Geist der Kollateralschäden faustischer Fortschritts-Idolatrie. Hinter vorgehaltener Hand flüstert Mephisto die apokalyptischen Worte: „Du bist doch nur für uns bemüht / Mit deinen Dämmen, deinen Buhnen; / bereitest Du dem Wasserteufel großen Schmaus. / Auf jede Art seid ihr verloren; – / Die Elemente sind mit u n s verschworen, / und auf Vernichtung läuft’s hinaus.“ Es ist auch Mephisto, der die dreifache Unterwerfung von Mensch und Natur unter das Diktat des Wachstums als fatales Nullsummenspiel bilanziert mit den Worten: „Was soll uns denn das ewige Schaffen! / Geschaffenes zu Nichts hinwegzuraffen! / Es ist so gut, als wär es nicht gewesen, / und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre. / Ich lobe mir dafür das Ewig-Leere.“
Womit sich denn zum Schluß die Frage stellt: Hat Goethe als Krisenphänomenologe auch über Therapiemöglichkeiten reflektiert? Er war in der Tat nicht nur Schwarzseher. Denn Goethe hat die Widersprüche geliebt. So hat er denn auch das Gegenteil apokalyptischer Szenarien gefordert: „Gedenke zu leben! Wage es, glücklich zu sein!“ Aber wie läßt sich das Leben bewältigen angesichts einer inzwischen alle Lebensbereiche erfassenden Licht-Geschwindigkeit von 300.000 Kilometern pro Sekunde, die sich als irreversibel erweist? Sicher ist, daß dem antiquierten Menschen das Großhirn nur rund 200 Kalkulationen pro Sekunde erlaubt. Das Fazit im Faust lautet daher: „Die kühnsten Kletterer sind jetzt konfus.“ Goethe kennt jedoch einen Ausweg in Gestalt „sehr ernster Scherze“. Dieser ironische Ausweg trägt den Namen Homunculus. Das heißt, im Faust läßt Goethe durch den zum Molekularbiologen avancierten Famulus Wagner künstlich ein Wesen entstehen mit einem optimierten Gehirn, das sich möglicherweise auch eignet für die Bewältigung moderner Beschleunigungsturbulenzen. Es ist die Science-Fiction-Vision eines Eingriffs in den Genotyp des Menschen mit dem Ziel einer Veränderung seins antiquierten Phänotyps. Die Frage bleibt allerdings, ob der Mensch diesen Weg gehen sollte, um die kognitive Krise durch beschleunigte scientistische Evolution des menschlichen Phänotyps mit ungewissem Ausgang zu bewältigen.
Goethe hat es allerdings nicht bei diesem „sehr ernsten Scherz“ als Therapievorschlag belassen. Er kennt auch ein ernstes und sehr unbeliebtes Rezept. Es findet sich in Goethes Roman Die Wanderjahre. Das Rezept lautet dort: „Der verständige Mann braucht sich nur zu mäßigen, so ist er auch glücklich.“ Das heißt, Goethe war davon überzeugt, daß Weltverbesserung nur durch Selbstverbesserung möglich ist im Sinne einer Genügsamkeit, einer Kultur des Maßhaltens, des Verzichts und der Nachhaltigkeit. Er schlägt daher im Sinne dieser neuen Genügsamkeit einen ökonomischen Paradigmenwechsel vor, wenn er behauptet: „Nur in der Mäßigkeit ist der Reichtum“ (an P.Ch. Kayser, 20.01.1780). Was er damit meint, hat er erläutert anhand einer Neudefinition von Reichtum und Eigentum. Er hat dies in einem Gedicht getan, das den Titel „Eigentum“ trägt. Das Gedicht enthält eine provozierend kühne Feststellung mit einem geheimen Entschleunigungsrezept für denLeser: „Ich weiß, daß mir nichts angehört. Als der Gedanke, der ungestört / Aus meiner Seele will fließen, / Und jeder günstige Augenblick, / Den mich ein liebendes Geschick / Von Grund aus läßt genießen.“
Goethe ist aber andererseits zu Recht als einer der größten Realisten anzusehen. Immerhin war er fünf Jahre lang Finanzminister in Weimar. So ist denn bei dieser Neudefinition des Begriffs Eigentum und dessen Chancen einer globalen Akzeptanz zu berücksichtigen, was Goethe über die Herkunft und Zukunft des Menschen 1829 gegenüber Eckermann geäußert hat: „ Übrigens aber ist der Mensch ein dunkles Wesen, er weiß nicht woher er kommt, noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt um am wenigsten von sich selber. Ich kenne mich auch nicht und Gott soll mich auch davor behüten.“ Optimismus in Sachen Zukunft wäre also im Falle Goethes nichts anderes als Mangel an Information. Aber er hätte wahrscheinlich dennoch der Maxime des österreichischen Komödiendichters Nestroy zugestimmt: „Wenn alle Stricke reißen, hänge ich mich auf, aber erst dann.“