Über Demokratie zu reden, ist immer die reine Freude, über Europa zu reden fast immer. Deswegen bedanke ich mich für die Gelegenheit, in einem außergewöhnlichen Rahmen über ein scheinbar gewöhnliches Thema reden zu können, jedenfalls über einen Zusammenhang, der uns längst selbstverständlich erscheint und inzwischen ganz offenkundig häufig eher lästig vorkommt denn als eine historische Errungenschaft.
Ich will Sie gerne mit einem Datum befassen, mit zwei im Titel angekündigten Begriffen und mit drei Herausforderungen: Das Datum ist der heutige Tag, der 25. September. Das ist nämlich der Geburtstag von Friedrich Wilhelm II., der am 25. September 1744 als Neffe des großen Preußenkönigs geboren wurde. In seine Regentschaft fallen die Revolutionskriege in Europa, die zweite und dritte Polnische Teilung unter maßgeblicher Beteiligung Preußens und Russlands, was – wie wir heute besser wissen als man es damals ahnen konnte – keineswegs zu einer vorübergehenden Episode, sondern zum nachhaltigen Ereignis im Gedächtnis des damals eliminierten polnischen Staates wurde. In die Regentschaft von Friedrich Wilhelm II. fällt die Verabschiedung des allgemeinen Preußischen Landrechts, er hat das Brandenburger Tor errichten lassen, und auch das Schloss Charlottenburg fand in seiner Amtszeit mit Schlosstheater und kleiner Orangerie seine heutige Form.
Das Thema „Demokratie in Europa“ wäre Friedrich Wilhelm II. wohl außerordentlich merkwürdig vorgekommen. Sein Onkel hätte sich sicher weder mit dem einen noch mit dem anderen Thema auch nur befasst. Wenn überhaupt, dann hätte er zu beiden Begriffen völlig andere Vorstellungen gehabt als sie uns heute angemessen, notwendig, vielleicht sogar selbstverständlich erscheinen.
Wenn wir heute über Demokratie und über Europa reden, reden wir über zwei Errungenschaften der europäischen Geschichte, die ganz offenkundig nicht vom Himmel gefallen sind, sondern nur über einen außergewöhnlich langen Zeitraum und erst am Ende zweier Weltkriege zu haben waren. Ohne die traumatische Erfahrung dieser beiden Weltkriege und die Lektionen, die die meisten der beteiligten Staaten und Nationen daraus gezogen haben, würden wir heute über Europa vermutlich nicht einmal reden. Dass es zu den monströsen Weltkriegen gekommen ist, hat wiederum nicht unwesentlich mit der Geschichte der europäischen Nationalstaaten zu tun und der zweifellos nicht exklusiven, aber auch keineswegs bedeutungslosen Rolle, die Preußen auf dem Weg zur Bildung des deutschen Nationalstaates gespielt hat. Dieses Deutsche Reich, entstanden nicht durch Verträge, sondern durch Kriege, die man beschönigend Einigungskriege genannt hat, wollte in der denkwürdigen Formulierung des deutschen Kaisers seinen eigenen „Platz an der Sonne“ haben. Das ist zugegebenermaßen eine Weile her, aber es gehört zur Entstehungsgeschichte des Europas, über das wir heute reden. Denn der Erste Weltkrieg, dessen Ursachen komplex waren, hatte eine wesentliche, vielleicht seine wichtigste Ursache in der Rivalität europäischer Nationalstaaten, die sich eben nicht mit der Frage beschäftigten, ob und wie dieses Europa einen gemeinsamen Zukunftsentwurf realisieren könnte, sondern vorrangig, wenn nicht ausschließlich mit der Frage, wer und auf welche Weise dieses Europa dominieren könnte. Die Folgen sind bekannt.
Wir haben es heute mit einem Europa zu tun, das nach dem Zweiten Weltkrieg bemerkenswert schnell entstanden ist. In seiner denkwürdigen Rede an der Universität Zürich 1946 forderte der damalige britische Premierminister Winston Churchill gerade ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges dazu auf, endlich die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen, wobei für Churchill damals völlig klar war, dass das nur Kontinentaleuropa betreffen solle und mit Großbritannien selbstverständlich nichts zu tun haben würde – ein Missverständnis, das, wie wir heute sehen, nachhaltige Wirkung im früheren britischen Empire erzeugt hat. Jedenfalls ist es unter den sich schnell herauskristallisierenden Bedingungen des Kalten Krieges mit zwei rivalisierenden und bis an die Zähne bewaffneten Bündnissystemen zur Gründung eines europäischen Gemeinschaftswerks gekommen. Es spricht manches dafür, diesen europäischen Integrationsprozess, der sich seit Mitte der 1950er Jahre sowohl quantitativ wie qualitativ in eine bemerkenswerte Richtung fortentwickelt hat, auch unter Berücksichtigung manch problematischer, nicht immer rundum überzeugender Erfahrungen für die wichtigste Innovation des 20. Jahrhunderts zu halten.
Navid Kermani, ein besonders kluger Beobachter des Zeitgeschehens, in Siegen geborener Sohn islamischer Eltern, habilitierter Islamwissenschaftler und vielfach preisgekrönter Schriftsteller, der vor ein paar Wochen im Deutschen Bundestag die Festrede zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes gehalten hat, hat vor wenigen Jahren im Deutschen Theater hier in Berlin seine Wahrnehmung des europäischen Integrationsprozesses zusammengefasst. Im Rahmen der Reihe „Reden über Europa“ sagte er: „Die Europäische Union ist mitsamt ihren Vorläufern die größte politische Errungenschaft auf diesem Kontinent im vergangenen Jahrhundert, wenn nicht in der europäischen Geschichte. Sie hat nicht nur Völker befriedet, die sich in Hass und Kriegswut gegenüberstanden, sie hat dem Kontinent auch Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ökonomischen Wohlstand beschert. Europa ist eben nicht nur ein Friedensprojekt, es ist auch ein Projekt der Freiheit: Es war die Verankerung in Europa, die die Demokratie in Deutschland erstmals gelingen ließ; es war der Druck aus Europa, der entscheidend zum Sturz der Diktaturen im Süden des Kontinents beigetragen hat, wir vergessen das heute zu leicht, in Spanien, in Portugal, in Griechenland; es war die Aussicht, zu Europa zu gehören, die später die osteuropäischen Staaten und in jüngster Zeit die Länder des Balkans und die Türkei angestiftet hat, demokratische Reformen einzuleiten.“ Das ist eine – wie mir scheint – gelungene Zusammenfassung der Substanz der historischen Veränderungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattgefunden haben und bis in die Gegenwart reichen. Dass es sich bei einer nüchternen Saldierung von Erfolgen und Irrtümern, von Errungenschaften und Missverständnissen im Ganzen um ein gigantisches Erfolgsprojekt handelt, kann man eigentlich nur mit einer zum Prinzip erhobenen Ignoranz bestreiten.
Ich möchte Sie auf drei Herausforderungen aufmerksam machen, die im Kontext dieser Erfolgsgeschichte – vielleicht unvermeidlich – stattgefunden haben und mit denen wir nach meiner Beurteilung bis heute nicht fertig geworden sind; vielleicht haben wir nicht einmal ernsthaft begonnen, damit fertig zu werden.
Nach meinem Verständnis begleiteten den europäischen Integrationsprozess drei Asymmetrien, die sich mir als hartnäckige Probleme, jedenfalls als schwer bestreitbare Herausforderungen in der Gegenwart und für die weitere Entwicklung des europäischen Projektes darstellen. Die erste Asymmetrie ist das Ungleichgewicht zwischen dem ökonomischen und dem politischen Integrationsprozess. Die europäische Integration fand ihren Anfang in einem besonders ehrgeizigen, letztlich aber gescheiterten Anlauf der politischen Integration: in Gestalt der Gründung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit dem Ziel der Vergemeinschaftung des klassischen Souveränitätsattestes eines Staates, nämlich der Sicherheit. Dieser Anlauf war nicht nur bis zur Vertragsreife gediehen, sondern von beiden Regierungen unterschrieben und im Deutschen Bundestag bereits ratifiziert worden, als er schließlich in der Assemblée Nationale scheiterte – aus, wie ich rückblickend finde, sehr plausiblen Gründen. Denn der Kern dieses Vertrages war die Aufgabe von Souveränität an nicht irgendeiner, sondern an einer ganz besonders empfindlichen Stelle. Das haben die Deutschen damals schon deswegen nicht als Zumutung empfunden, weil sie gar nicht souverän waren, während die Franzosen damals noch glaubten, dass sie souverän wären.
Der zweite Anlauf erfolgte auf einer völlig anderen Ebene. Die Römischen Verträge haben eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft begründet, die EWG. Das leuchtete allen ein, jedenfalls sofort den sechs Gründungsstaaten Deutschland, Frankreich, Italien und den drei Beneluxstaaten. Das Ziel, gemeinsame ökonomische Interessen auch gemeinsam zu verfolgen, hatte scheinbar überhaupt nichts mit Souveränitätsverlusten zu tun (was sich übrigens als nächster Irrtum erwies), und es lag erkennbar im Interesse aller Beteiligten. Die EWG entwickelte sehr schnell eine große Faszination auf die Nachbarländer, die nicht zu den Gründungsstaaten gehört hatten und sowohl vom Konzept wie dem empirischen Nachweis ihres Erfolges so angezogen waren, dass wir seit dieser Zeit eine sich stetig verlängernde Liste von Staaten haben, die diesem „Club“ möglichst bald mitangehören wollen. Es gehört zu den regelmäßig unterschätzten Folgen der europäischen Erfolgsgeschichte, dass mit jeder Beitrittsrunde zur Europäischen Gemeinschaft der Kreis der Bewerberstaaten nicht kleiner, sondern größer geworden ist; und während die Clubmitglieder sich über die Lästigkeiten der Clubmitgliedschaft beklagen, beklagen sich die, die nicht drin sind, dass sie so lange warten müssen.
Das erklärte Ziel der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war die Herstellung eines Binnenmarktes, in dem es möglichst keine Behinderungen für den Austausch von Waren und Dienstleistungen, für den Verkehr von Menschen, von Arbeitskräften und Kapital geben sollte. Auch das ist gelungen. Und natürlich lag es in der Logik der Herstellung eines solch größer werdenden Binnenmarktes auch das größte verbliebene Hindernis für die Integration eines Marktes zu beseitigen: die verschiedenen Währungen.
Ich denke, dass spätestens an dieser Stelle deutlich wird, was ich mit der Asymmetrie zwischen ökonomischer und politischer Integration meine. Die Einführung einer gemeinsamen Währung für die zwischenzeitlich mehr als 20 Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft war der überaus ehrgeizige Entschluss, den ökonomischen Integrationsprozess zu komplettieren – unter weitgehender Vermeidung der damit eigentlich notwendigerweise verbundenen politischen Integrationsschritte.
Ich muss hier nicht erläutern, wie die vertraglichen Vereinbarungen im Zusammenhang mit der europäischen Währung im Einzelnen ausgesehen haben. Ich begnüge mich mit dem Hinweis, dass ich keinen Anlass habe, daran zu zweifeln, dass die Vereinbarungen, die man damals miteinander getroffen hat, für die Einführung dieser Währung (und damit die Aufgabe der bislang existierenden eigenen nationalen Währungen) von allen Beteiligten ernst gemeint waren. Es lohnt auch gar nicht darüber zu spekulieren, ob sie wirklich von allen ernst gemeint waren. Für das, worauf es mir ankommt, reicht es völlig aus, darauf hinzuweisen, dass im ersten konkreten Belastungsfall und in Ermangelung durchsetzbarer Sanktionen das handfeste Interesse an Dispens von den selbst eingegangenen Verpflichtungen vitaler war als die Einsicht in die Notwendigkeit der Einhaltung dieser Regeln – und ich rede jetzt nicht über Griechenland, sondern über Deutschland und Frankreich, zwei Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft, ohne deren enge Zusammenarbeit weder die früheren Integrationsschritte noch der Euro entstanden wäre.
Der Euro wurde in einem gemeinsamen Markt eingeführt, in dem es weder eine gemeinsame Wirtschaftspolitik noch eine gemeinsame Steuerpolitik noch eine gemeinsame Wirtschaftsförderung noch gemeinsame Sozialsysteme gab, aber immerhin Vereinbarungen, die jeder einhalten muss, damit eine solche Währung stabil bleiben kann. Ich halte das für eine der drei zentralen Herausforderungen des europäischen Integrationsprozesses: die Asymmetrie zwischen der ökonomischen Integration und der politischen Integration. Allerdings ist nicht wirklich erkennbar, das wir bereit sind, diese Asymmetrie aufzuarbeiten. Vereinfacht gesprochen gibt es zwei Möglichkeiten: Die eine besteht darin, die ökonomische Integration auf das Maß zurückzuführen, dass wir uns politisch zumuten wollen, was aber niemand so richtig will. Die andere Möglichkeit, um diese Schieflage zu beheben, besteht darin, die politische Integration auf das Niveau zu heben, das die ökonomische Integration schon längst erreicht hat. Das will aber auch niemand so richtig. Und so – zugespitzt formuliert – „basteln“ wir an Symptomen und Folgeproblemen herum, weil wir das Kernproblem entweder nicht für lösbar halten oder bestreiten, dass es überhaupt existiert.
Die zweite Asymmetrie, die ich im europäischen Integrationsprozess sehe, ist das Missverhältnis zwischen Erweiterung und Vertiefung der europäischen Gemeinschaft. Der europäische Integrationsprozess ist schnell erfolgreich und attraktiv geworden, aus den sechs Mitgliedern wurden zehn, aus den zehn fünfzehn, aus den fünfzehn 21 Mitglieder. Inzwischen haben wir 28 Mitgliedsstaaten und jeder weiß, dass der Prozess auf der nach oben offenen Richterskala damit nicht zu Ende ist. Ich möchte – ausdrücklich mit der Anmerkung, dass ich niemandem einen Vorwurf mache und auch nicht behaupten will, dass man es ganz sicher anders hätte besser und erfolgreicher machen können – darauf hinweisen, dass im Ergebnis immer die Erweiterung Vorrang vor der Vertiefung hatte.
Der spektakulärste Vorgang folgte sicher dem gigantischen Transformationsprozess in Mittel- und Osteuropa, mit dem sich zum ersten Mal die historische Chance bot, diesen Teil Europas wieder mit Westeuropa, das sich bis dahin für Europa gehalten hatte, zusammenwachsen zu lassen. Dass Helmut Kohl als damaliger Kanzler dies für eine historische Chance gehalten hat, wird man ihm nicht ernsthaft vorhalten können. Aber dass auch diese Erweiterungsrunde auf Kosten der eigentlich längst überfälligen Vertiefung im Sinne einer politischen Integration gegangen ist, wird man schwerlich bestreiten können. Hinzu kommt, dass in einer Gemeinschaft von Staaten jede substanzielle Veränderung auf dem Einstimmigkeitsprinzip beruht, was unvermeidlich bedeutet, dass mit jedem weiteren Mitglied einer solchen Gemeinschaft jede substanzielle Veränderung nicht nur nicht leichter, sondern notwendigerweise schwieriger wird. Mit anderen Worten und zugespitzt formuliert: Je länger die Erweiterung Vorrang vor der Vertiefung hat, desto sicherer ist, dass die Vertiefung gar nicht stattfinden kann. Ein Beispiel: Derzeit gibt es im Zusammenhang mit Fragen wie einer Bankenunion und dem Nacharbeiten der institutionellen Rahmenbedingungen im europäischen Wirtschafts- und Währungssystem eigentlich unter beinahe allen Beteiligten die Einsicht, dass wir dazu eine Vertragsänderung brauchen. Gleichzeitig erklären aber alle Beteiligten, dass diese nicht zustande kommt.
Für mich ist in dieser Asymmetrie zwischen quantitativem Wachstum der Gemeinschaft und zögerlicher Bearbeitung der qualitativen Handlungsfähigkeit dieser Gemeinschaft zugleich ein Grundsatzproblem angelegt, von dem ich den Eindruck habe, dass es zu den noch gar nicht ernsthaft angegangenen Herausforderungen gehört. Was in Europa seit 50 Jahren stattfindet, ist ein in der Weltgeschichte beispielloser Vorgang: Staaten übertragen freiwillig Souveränitätsrechte, die sie als Staaten haben, an eine Gemeinschaft, die kein Staat ist und über die bei jeder Vertragsänderung erneut ausdrücklich erklärt wird, dass sie auch kein Staat werden soll. Das hatten wir in der Menschheitsgeschichte noch nie.
Ich persönlich habe wachsende Zweifel daran, wie lange dieses „Geschäftsmodell“ funktionieren kann. Denn das, was diese ständig wachsende Gemeinschaft beständig tut, ist – wie ich ausdrücklich hinzufügen will in der Regel aus sehr guten Gründen – die Übertragung staatlicher Zuständigkeiten auf eine Gemeinschaft, die kein Staat ist, die sich aber wie ein Staat verhält und von der die Beteiligten erklären, dass sie keiner sei. Wobei die Lage noch dadurch zusätzlich verkompliziert wird, dass diejenigen, die mit oder ohne herausragendem politischem Amt dieses Problem sehen und bereit wären, es im Sinne einer Staatlichkeit der Gemeinschaft zu lösen, den zutreffenden Eindruck haben, dass es in der europäischen Gemeinschaft dafür ganz sicher keine Mehrheit gibt. Jedenfalls habe ich keine Illusionen über den voraussichtlichen Ausgang von Referenden, wenn sie über diese und vergleichbare Fragen befinden müssten. In der Mentalität der jeweiligen Bevölkerungen ist die Orientierung am Nationalstaat immer noch so stabil, wie der Nationalstaat – diametral zu diesen Erwartungen an seine Leistungsfähigkeit – aus guten Gründen immer mehr seiner Zuständigkeiten an die Gemeinschaft übertragen hat.
Es gibt eine dritte Asymmetrie im europäischen Integrationsprozess: die zwischen Exekutive und Legislative. Der europäische Integrationsprozess ist ein im Wesentlichen von der Exekutiven angetriebener historischer Prozess gewesen, wie anders hätte das auch sein sollen. Verträge kommen durch Verhandlungen zwischen Regierungen zustande, die das, was sie am Ende vereinbart haben, ihren jeweiligen Parlamenten zur Ratifizierung vorlegen. Im Kern völlig zu Recht beschrieb man über viele Jahre hinweg als Demokratiedefizit des europäischen Integrationsprozesses die Übertragung von Zuständigkeiten, für die in den Nationalstaaten Parlamente zuständig waren, auf eine Gemeinschaft, in der diese Aufgaben Regierungen erledigten. In nicht öffentlichen Ministerratssitzungen und europäischen Ratssitzungen entwickelten und vereinbarten sie zusammen mit der Kommission die Richtlinien, die dann anschließend von den nationalen Parlamenten in nationales Recht umzusetzen waren. An diesem Prozess hat über viele Jahre hinweg das Europäische Parlament überhaupt keinen Anteil gehabt, weil – wiederum historisch zu erklären – der Prozess nicht mit einem starken Europäischen Parlament begonnen hat (das es am Anfang noch nicht einmal gab), sondern mit einer parlamentarischen Versammlung als so etwas wie die parlamentarische Dekoration des exekutiven europäischen Integrationsprozesses. Aus den jeweiligen nationalen Parlamenten wurden gewählte Parlamentarier entsendet, die das, was auf europäischer Ebene stattfand, beobachten durften, auch kommentieren, aber nicht wirklich beeinflussen konnten. Das hat sich nun allerdings im Laufe der Zeit deutlich anders entwickelt, was für mich ein zusätzlicher Grund ist, vom europäischen Integrationsprozess im Ganzen als einer bemerkenswerten Erfolgsgeschichte und Errungenschaft zu sprechen. Denn wir haben heute nicht nur ein direkt gewähltes Parlament, sondern wir haben heute eine Mitwirkung des europäischen Parlamentes am Entstehen und an der Legitimierung europäischer Richtlinien/Gesetze, die der Rolle der nationalen Parlamente faktisch nicht mehr nachsteht. Bis hin zu der wiederum erstaunlichen Veränderung, die es in der Architektur des politischen Systems der europäischen Gemeinschaft nach den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament gegeben hat: Bei der Frage, wer nun eigentlich die neue europäische Kommission führt, ist das faktische Entscheidungsgewicht zum ersten Mal, und wie ich sicher bin: irreversibel von den europäischen Regierungschefs ans Europäische Parlament abgewandert. Diejenigen, die das als außergewöhnlich, gar als vertragswidrig oder demokratiefeindlich bezeichnen, sollten gelegentlich darauf hingewiesen werden, dass das, was wir jetzt als Verfahren für die Etablierung der Europäischen Kommission haben, dem Verfahren erstaunlich ähnelt, mit dem wir in Deutschland nach unserer Verfassung Regierungen etablieren. Nach dem Grundgesetz liegt nämlich auch das Vorschlagsrecht für die Wahl des Kanzlers beim Bundespräsidenten und nur bei ihm. Faktisch aber kann der Bundespräsident niemand anderen vorschlagen als den, der unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses voraussichtlich eine Mehrheit im Deutschen Bundestag hat. Ziemlich präzise ist dieser Zustand jetzt auf europäischer Ebene hergestellt. Das Vorschlagsrecht für den Präsidenten der Europäischen Kommission liegt beim Europäischen Rat, also bei den Regierungschefs. Aber faktisch haben diese zum ersten Mal nur noch jemand vorschlagen können, der unter Berücksichtigung des Wahrergebnisses (und eines Wahlkampfes, an dem sie fast alle beteiligt waren) im Europäischen Parlament tatsächlich eine Mehrheit hat.
Es entwickelt sich also tatsächlich jetzt so etwas wie Demokratie in Europa. Nach wie vor ist aber die gefühlte Identifikation mit dem eigenen Staat, teilweise auch mit der eigenen Region, deutlich ausgeprägter als die mit dem europäischen System. Denn das liegt weit weg und unterliegt vielerlei objektiv schwierigen Rahmenbedingungen, zu denen nicht zuletzt die Sprachenvielfalt in Europa gehört – und damit die auch deswegen nicht entstehende europäische Öffentlichkeit.
Mit Blick auf das Thema Demokratie in Europa möchte ich noch einmal festhalten: Solange es die Europäische Gemeinschaft gibt, also seit der Mitte der 1950er Jahre, diskutiert sie mit einer stetig wachsenden Zahl von Mitgliedsstaaten nicht nur über die Ausweitung und Vertiefung ihrer gemeinsamen Zusammenarbeit, sondern auch und gerade über deren demokratische Legitimation. Das heißt: Uns interessiert in Europa nicht nur, ob das, was wir zusammen machen, effizient ist, ob es transparent ist, ob es Akzeptanz findet, sondern auch und gerade, ob es eine nachweisbare, belastbare demokratische Legitimation besitzt. Das kann man für eine luxuriöse Fragestellung halten, sie ist jedenfalls weltweit einzigartig. Ich sehe auf dem Globus keine zweite auch nur annähernd vergleichbare Region, in der es ein ähnliches Anspruchsniveau für die Konditionierung der jeweiligen Zusammenarbeit gibt. Gelegentlich wird ein Demokratiedefizit in Europa beschworen, das aber eher eingebildet denn tatsächlich vorhanden ist. Die Europäische Union ist aus den genannten Gründen ihrer historischen Entwicklung kein Staat, sie soll nach Willen der Mitgliedsstaaten auch keiner werden, sondern ein Bündnis souveräner Staaten bleiben. Als Bündnis souveräner Staaten gibt es aber weltweit keine zweite Organisation, die es an demokratischer Legitimation auch nur annähernd mit der Europäischen Gemeinschaft aufnehmen könnte, weder geographisch noch konzeptionell. Da, wo es Unterschiede zwischen dem europäischen und den nationalen Entscheidungsprozessen gibt, was ja nicht zu bestreiten ist, erklären sich diese aus der Architektur dieser quasi-staatlichen Gemeinschaft, die aber, wo immer sie berät und entscheidet, auf jeweils nachweisbare demokratische Legitimationsmuster zurückzuführen ist. Denn die Regierungschefs oder die Minister, die auf der exekutiven Ebene in dieser europäischen Gemeinschaft miteinander reden und verhandeln, sind ausnahmslos demokratisch legitimiert. Auch einen solchen Zustand gab es in Europa übrigens nie.
Die Europäische Kommission kommt – wie gerade geschildert – durch das Europäische Parlament ins Amt. Das ist eine Prozedur, die sich übrigens auch in Deutschland nur einige Länder leisten, etwa bis 2006 Berlin, wo die Senatoren der Bestätigung des Abgeordnetenhauses bedurften. Auf die Idee aber, dass wir die Mitglieder der Bundesregierung jeweils einzelnen Voten des Bundestages unterwerfen, ist bislang noch niemand ernsthaft gekommen. Ich schlage das auch ausdrücklich nicht vor. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass ich an dieser Stelle kein besonderes Demokratiedefizit in der Europäischen Gemeinschaft erkennen kann, sondern eher einen Übereifer an demokratischer Legitimation. Dass das Europäische Parlament inzwischen direkt gewählt und alle Zuständigkeiten eines tatsächlichen Parlaments hat, ist auch nicht mehr ernsthaft bestreitbar.
Es gibt eine andere Baustelle, nämlich all die Aktivitäten und Initiativen, die im Zusammenhang mit den Währungs- und den Finanzturbulenzen, den Haushaltsproblemen und der gigantischen Staatsverschuldung vieler, um nicht zu sagen aller Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft zusammenhängen. Es geht vor allem um die von vielen besonders aufmerksam verfolgte „Troika“, die mit der Beobachtung und Steuerung der Anpassungsprozesse in den sogenannten Programmländern beauftragt ist, wo das Ausmaß der Turbulenzen die Stabilität nicht nur der Finanzen, sondern der Staaten zu gefährden drohte. Gegenüber der Tätigkeit dieser Troika und den damit verbundenen Prozessen wird immer wieder der Vorwurf des Demokratiedefizites geltend gemacht. Dieser Troika, so heißt es, mangele es an Transparenz und parlamentarischer Kontrolle und auch an demokratischer Legitimierung. Ich kann diese Beurteilung nicht teilen. Ich kann sie vor allem deswegen nicht teilen, weil es sich bei den Hilfsprogrammen für die „Programmländer“, also Griechenland, Portugal, Spanien, Irland usw., erkennbar nicht um eine Verpflichtung aus den europäischen Verträgen handelt. Im Gegenteil: Nach den geltenden europäischen Verträgen besteht eine solche Verpflichtung ausdrücklich nicht. Wenn Staaten, ohne dazu verpflichtet zu sein, eine solche Verpflichtung eingehen, dann haben sie dafür sicher gute Gründe. Ich selbst glaube, dass die Verweigerung der Hilfe mit Abstand das größere Problem gewesen wäre. Wenn sie aber eine nicht vorhandene Verpflichtung freiwillig eingehen, dann sind sie doch mindestens legitimiert, sich um die Einhaltung der Vereinbarungen zu kümmern, die mit diesen Hilfsmaßnahmen verbunden sind. Die Staaten haben die Troika, also die Europäische Zentralbank, den Internationalen Währungsfonds und die Europäische Kommission, gewissermaßen als Treuhänder beauftragt, die Interessen des Gläubigers wahrzunehmen, der gegenüber den „Programmländern“ hilfestellend tätig wird.
Ich habe zunehmend den Verdacht – und ich meine damit keine bestimmten Länder, schon gar nicht bestimmte große Nachbarländer –, dass die Debatte über das vermeintliche Demokratiedefizit eine Ersatzhandlung ist, um die Debatte zu verhindern, die eigentlich geführt werden muss: Welche Maßnahmen sind in welchen Ländern erforderlich, um mittelfristig ohne Hilfsmaßnahmen dritter Staaten die Stabilität der eigenen Finanzen und damit des eigenen Staates selbst herzustellen. Die Debatte darüber, ob das, was in den jeweiligen Hilfsprogrammen vereinbart worden ist, wirklichkeitsnah ist und ob es unter dem Gesichtspunkt von Stabilität auf der einen Seite und Wachstumsperspektiven auf der anderen Seite erfolgversprechend oder zu ehrgeizig ist, ist natürlich legitim, und sie muss man führen. Aber sie hat mit einem Demokratiedefizit nichts zu tun, sondern allein mit der Effizienz von Politik.
Ich hatte Ihnen zu Beginn gesagt, ich wollte zu drei Herausforderungen, zu zwei Begriffen und zu einem Datum etwas sagen. Zum Datum habe ich bereits zu Beginn auf den Geburtstag Friedrich Wilhelms II. hingewiesen. Es gibt aber noch einen zweiten interessanten Bezug: den 25. September 2001. An diesem Tag, heute vor 13 Jahren hat der damalige und heutige russische Staatspräsident Wladimir Putin im Deutschen Bundestag gesprochen. Er hat damals mit seiner teilweise in fließendem Deutsch vorgetragenen Rede nicht nur die anwesenden Abgeordneten, sondern sicher auch einen beachtlichen Teil der deutschen Öffentlichkeit beeindruckt. Ich will aus aktuellem Anlass einen Schlüsselsatz aus dieser Rede vortragen: „Was die europäische Integration betrifft, so unterstützen wir nicht einfach nur diese Prozesse, sondern sehen sie mit Hoffnung. Wir tun das als ein Volk, das gute Lehren aus dem Kalten Krieg und aus der verderblichen Okkupationsideologie gezogen hat.“
Vor gut einer Woche hat im Deutschen Bundestag der polnische Staatspräsident Bronislaw Komorowski gesprochen. Ich hatte ihn gebeten, aus Anlass des 75. Jahrestages des Zweiten Weltkrieges im Deutschen Bundestag seine persönliche und die polnische Wahrnehmung der Bedeutung dieses historischen Ereignisses und der sich daran anschließenden Entwicklungen vorzutragen. Die unter vielerlei Gesichtspunkten bemerkenswerte Rede des polnischen Staatspräsidenten war eine anrührende Vertrauenserklärung an den einen der beiden für die polnische Geschichte so schwierigen Nachbarn: an Deutschland. Und sie war eine unmissverständliche Ansage zu den Herausforderungen für die Demokratie in Europa, die es an den Grenzen dieser Gemeinschaft heute gibt: „Vor unseren Augen vollzieht sich die Wiedergeburt einer nationalistischen Ideologie, die unter dem Deckmantel humanitärer Parolen über den Schutz nationaler Minderheiten die Menschenrechte und das Völkerrecht verletzt. Wir kennen das allzu gut aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts.“ Komorowski beschloss seine Sicht der preußisch-polnischen und deutsch-polnischen Geschichte mit dem geradezu sensationellen Satz: „Wir brauchen eine deutsch-polnische Verantwortungsgemeinschaft für die Zukunft Europas.“ Das wird sicher nicht reichen, aber es gehört dazu. Wir alle haben bis vor wenigen Monaten kaum noch für möglich gehalten, dass wir im 21. Jahrhundert in einem Europa, von dem wir uns eingebildet hatten, dass es seine Lektionen gelernt habe, mit offenem Vertragsbruch und offener völkerrechtswidriger Verletzung der territorialen Integrität von Staaten konfrontiert würden. Das aber geschieht.
Wir leben nicht in einer problemfreien Welt, aber Europa, dass sich – gewiss nicht perfekt und mit einer Reihe von offenkundig offenen Fragen – in Gestalt einer heute 28 Staaten umfassenden Gemeinschaft organisiert hat, gibt mindestens Anlass zur Zuversicht, dass wir die Herausforderungen bewältigen können. Diese Perspektive lässt sich mit Tabak noch besser ertragen als ohne, jedenfalls glaube ich, dass wir es heute mit einer Aufgabe zu tun haben, um die uns viele Generationen von Deutschen und Europäern früher beneidet hätten.
Vielen Dank für Ihre Geduld!