Als ich meiner Frau erzählte, man habe mich eingeladen, am 6. Dezember 2018 im Bremer Rathaus den Vortrag beim Jahresschluss-Collegium des Bremer Tabak-Collegiums zu halten, wie ich fand eine buchenswerte Nachricht, sah sie mich, wie soll ich sagen? aufmerksam-neutral an und fragte in beiläufigem Tone: „Und über was willst Du sprechen?“ Die Auskunft, so genau wisse ich es noch nicht, aber vermutlich würde es um ‚Kultur‘ und ‚Moderne‘ gehen, verwandelte ihren Gesichtsausdruck ins entschieden Gelangweilte. „Immerhin“, sagte sie noch, „brauchst Du Dich dann nicht vorzubereiten, denn erstens redest Du sowieso immer entweder von dem einen oder dem anderen und zweitens hat ja auch wirklich so gut wie alles entweder mit ‚Kultur‘ oder mit ‚Moderne‘ oder mit beidem zugleich zu tun.“
Meine Herren, vielleicht ist es Ihnen, als Sie die Einladung zum heutigen Abend studiert haben, so ähnlich gegangen wie meiner Frau. Ich würde Ihnen das in keiner Weise übel genommen haben. Wie über die Ufer getretene Fluten sind ‚Moderne‘ und ‚Kultur‘ tatsächlich allüberall.
Beide Begriffe stehen seit etwa zwei Jahrhunderten in einer besonders dynamischen, die Geschichte dramatisch vorantreibenden Beziehung zueinander. In dem Meer möglicher Anknüpfungspunkte, das sich als mein Operationsfeld vor mir ausbreitet, nutze ich drei Leuchtbojen, an denen ich den Gang meiner Gedanken festmache.
Erstens: Das ‚Bauhaus‘, international die Inkunabel der ‚Moderne‘, wird im kommenden Jahr 100 Jahre alt. Ich komme nach Bremen sozusagen mit lehmverschmutzten Schuhen. Denn in Weimar bauen wir ein Bauhaus-Museum. Noch ist es nicht fertig, aber wir sind fest entschlossen, es zum großen Geburtstag im April 2019 zu eröffnen. Im ‚Bauhaus-Museum‘ verbinden sich ‚Kultur‘ und ‚Moderne‘ zu einer Einheit: Bauhaus gleich ‚Moderne‘, Museum gleich ‚Kultur‘.
Zweitens: Vom Bauhaus gehe ich dann 100 Jahre zurück ins Jahr 1818, zweite Boje. Es ist das Geburtsjahr von Jacob Burckhardt. Als Burckhardt 50 Jahre alt geworden war, also 1868, hielt er in seiner Heimatstadt Basel das erste Mal eine Vorlesung für Studenten der Geschichte unter dem Titel ‚Über das Studium der Geschichte‘. Dieser wirkmächtige Text scheint mir für mein Thema grundlegend.
Drittens: Um Ihnen zu zeigen, dass ich nicht nur olle Kamellen auftische, werde ich schließlich, dritter Fixpunkt, ein soeben erschienenes Buch mit dem etwas seltsamen Titel ‚Die Gesellschaft der Singularitäten‘ heranziehen. Erwarten Sie keine Buchbesprechung. Vielmehr geht es mir darum, die Gesellschafts-Theorie von Andreas Reckwitz, das ist der Autor des Buchs, auf uns anzuwenden. Was tun wir heute Abend hier im Bremer Rathaus und was hat dies Tun mit ‚Kultur‘ und ‚Moderne‘ zu tun?
Drei Bojen im Meer von ‚Kultur‘ und ‚Moderne‘ werden uns den Weg weisen: Bauhaus, Burckhardt, Bremer Rathaus. Ob Sie jetzt, meine Herren, in einen freudigen Gesang des Aufbruchs einstimmen: ‚Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise!‘ oder ob Sie inzwischen entschlossen sind, den Abend in ruhender Haltung ausklingen zu lassen, beides ist gerechtfertigt. Auch die Muße der Schaffenden ist eine ‚Kultur‘-Ressource der ‚Moderne‘.
Das Bauhaus-Jahr 2019 wirft seine Schatten voraus, seine Bilder-Schatten und seine Schatten-Bilder. Da kam mir doch vor zwei Monaten eine Ausgabe des ‚Magazin‘ auf den Tisch, das die Frankfurter Allgemeine Zeitung gelegentlich produziert und ihren seriösen Verlautbarungen beilegt. Diesmal machte das Magazin mit dem programmatischen Titel „100 Jahre Bauhaus“ und dem nicht weniger programmatischen Editorial „Bauhaus heute“ auf, kein Wunder, dass mein Interesse augenblicklich geweckt war. Das editorische Vorwort nimmt munter Anlauf und erklärt sein Anliegen, also das historische Bauhaus zu präsentieren, als eine Ersatzvornahme, denn: „Das Bauhaus baut. Und wie! Fürs Bauhaus-Jahr 2019 putzen sich Weimar, Dessau und Berlin heraus.“ Das stimmt. Und es ist richtig, dass deshalb in allen drei Städten derzeit nur sehr wenig Bauhaus zu sehen ist. Als Verantwortlicher für Weimar kann ich sagen, dass das neue Bauhaus-Museum am 5. April 2019 eröffnet werden kann. Dessau wird im September 2019 seine Pforten öffnen. Das Bauhaus-Archiv in Berlin wird seinen Neubau vermutlich erst 2022 – in Berlin ist man bei solchen Angaben froh, wenn man immerhin das richtige Jahrzehnt trifft – eröffnen.
Nur in Weimar wird man zum Jubiläum der Gründung des Bauhauses das aus diesem Anlass errichtete Museum besuchen können. Das ist gerecht, weil das Bauhaus in Weimar gegründet wurde. Man könnte es aber auch einen lustigen Schildbürgerstreich nennen. Zwei der drei Bauhaus-Sammlungen in Deutschland werden zum Jubiläum teilweise oder ganz geschlossen sein. Dem ‚Magazin‘ der FAZ sei umso herzlicher dafür gedankt, dass es schon 2018 kompensiert, was man erst 2019 wirklich vermissen wird.
Ich möchte noch einen Moment bei der Bauhaus-Ausgabe des ‚Magazins‘ verweilen, obwohl ich das Druckerzeugnis, das mir dann und wann aus meiner grauen Zeitung bunt und glänzend vor die Füße fällt, nicht mag. Denn die Beilage nötigt mich, durch eine Mall von Luxusmarken zu blättern, bis ich schließlich, etwa auf Seite 20, das Inhaltsverzeichnis erreiche. Dann schaue ich mir die Karikatur von Karl Lagerfeld an, der sich, gern auch in rassistischer Weise, an der Bundeskanzlerin abarbeitet. Habe ich das eklige Dokument der Zeit zur Kenntnis genommen, lege ich das Luxusprodukt beiseite, um mich der Zeitung zuzuwenden.
Das Bauhaus-‚Magazin‘ war anders. Eine vorzügliche Auswahl von Themen, Autoren und Gestaltern hatte ein wirkliches Themenheft zustande gebracht, das seinem Gegenstand adäquat war. Lagerfeld kam nicht vor. Die Rede vom Bauhaus als Wiege der ‚Moderne‘ in Deutschland, seine Bedeutung für unsere Auffassung davon, was ‚Kultur‘ heute ist, all das wurde schlüssig und überzeugend entwickelt in Bild und Text. Wäre das Ganze gebunden gewesen, man würde es sich ins Regal gestellt haben.
Am meisten aber ist mir die Werbestrecke aufgefallen, also, wie der Wiener sagt, das Um und Auf des ‚Magazins‘. Wo sonst eine beliebige Abfolge von Uhren, Schmuck, Parfums und Luxusgütern aller Art den Parcours bestimmt, gab es diesmal fast nur Reklame für Möbel zu sehen, genauer: Schlaf- und Sitz-Möbel, noch genauer: das kombinierte Sitz-Schlaf-Möbel. Ob insoweit zutreffend von Möbeln gesprochen werden kann, muss dahingestellt bleiben, Tatsache ist, dass es sich eher um Landschaften als um Möbel handelt. Früher gab es das Sofa, die Liege und das Bett. Das ist die Welt von gestern. Heute gibt es eine Polster- und Kissenlandschaft, die mal mit ‚Sitzsystem‘, mal mit ‚Sectional Sofa‘ mehr umschrieben als benannt ist. Da ich noch nie in einer Wohnung Rast gemacht habe, in der solche Möbster stehen, also Hybride aus Möbel und Monster, gleichsam das immobile Gegenstück zum SUV, kann ich mich nur auf die Werbung im Bauhaus-‚Magazin‘ verlassen, um auf die soziale Funktion zu schließen, der die Entwicklung solcher SSM, Sitz-Schlaf- Möbel, dient. Jeder Laie sieht sofort, dass die Lebensräume dieser Gegenwart mit denen der Bauhaus-‚Moderne‘ nichts zu tun haben: Die Fenster reichen bis zum Fußboden. Man lebt entweder hoch über historischen Stadtzentren oder gleich neben dem Dschungel, jedenfalls in strikter Isolation von jeder ‚Allgemeinheit‘. Distanz scheint ein wichtiges Motiv zu sein – Distanz zu wem?
Vielleicht zu denen, die in ihren Fünf-Zimmer-Altbauwohnungen leben und stolz darauf sind, dass um den Esstisch ein buntes Ensemble von Bauhausstühlen aus der Thonet-(Nach)Produktion klassischer Bauhausentwürfe steht? Es können die Stühle von Mart Stam sein, die das ‚Magazin‘ auf dem Titel zeigt, ein Baushäusler nebenbei, der nie am Bauhaus gearbeitet hat. Wem dieser Bauhaus-Anspruch zu anstrengend ist, liest das ‚Bauhaus-Magazin‘, mit dem er sich, auf seiner Polster- Landschaft ruhend, um nicht zu sagen lümmelnd, lustvoll in die kargen Entwürfe vertiefen kann, ohne auf ihnen sitzen zu müssen. Das Bett, der Diwan, das Sofa, sie sind alle eher marginal in der Klassischen Moderne. Die Idée fixe des Bauhauses war hingegen der Stuhl, und zwar der Arbeitsstuhl. Die Wickelkommode für Erwachsene unserer Tage wäre einem Gropius nicht in den Sinn gekommen. Könnte sie das Signalmöbel eines Erschöpfungssyndroms, das unter den Erfolgreichen grassiert, und der Trost des Premium Mediocre sein, jener sozialen Mittelmäßigkeit, die dem Mittelmaß der anderen mit dem Anspruch zu entkommen sucht, ihnen sozial ein bisschen überlegen zu sein? Natürlich ist diese Lebensform enorm anstrengend: „Ach läg‘ ich doch schon auf meinem Möbster!“
Zum Schluss noch dieses: Das fein ponderierte Themenheft – auch das ein Zeichen der Rast- und Ruhelosigkeit – konnte keine Schule machen. Keine zwei Wochen nämlich, nachdem es erschienen war, kam die Punk-Band ‚Feine Sahne Fischfilet‘ über das arme Bauhaus in Dessau. Ich kann die interessante Geschichte hier nicht erzählen, weil ich zu Jacob Burckhardt aufbrechen muss, aber so viel sei gesagt: Derselbe Journalist, der eben noch im ‚Magazin‘, umgeben von Werbung für spätmoderne Tagesbetten, eine kluge ‚Ehrenrettung‘ für das Bauhaus abgegeben hatte, schreibt nun im Feuilleton der Zeitung von einer ‚Selbstversenkung‘ in Dessau. Man sah das Welterbe und Inbild der ‚Moderne‘, Gropius‘ Bauhaus, im medial aufgepeitschten Wellenmeer verschwinden. Das Bauhaus, sollten die Leser glauben, sei nicht mehr, weil nach dem Willen der Bauhaus-Direktorin und ihres vorgesetzten Ministers eine Punk-Band nicht im Weltkulturerbe ‚Bauhaus‘ auftreten sollte. Kann die Wiege der ‚Moderne‘ in Deutschland so schnell zuschanden werden? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass der Journalist einfach mal ausruhen müsste auf dem Sectional Sofa, ausruhen von seinem turbo-beschleunigten Leben? Wo Gropius, der Architekt der ‚Moderne‘, einen Fussel vom Ärmel seines Anzugs geschnipst hätte, diagnostiziert die ‚SSM-Spätmoderne‘ die ‚Selbstversenkung‘ der musealisierten ‚Moderne‘ in Dessau.
Jacob Burckhardt, den Sohn des Basler Bürgertums – eigentlich müsste man, in Anlehnung an die ‚Hoch-Aristokratie‘, vom Basler ‚Hoch-Bürgertum‘ sprechen –, heute zu lesen, ist eine der erstaunlichsten Erfahrungen, die man machen kann. Als die frühe Industrialisierung im 19. Jahrhundert eine Elite hervorbrachte, die nichts verächtlicher fand als das ‚dunkle Mittelalter‘, schrieb Burckhardt: „Das Mittelalter ist vielleicht im großen eine Zeit der heilsamen Zögerung. Hätte es die Erdoberfläche ausgenützt wie wir, so wären wir vielleicht gar nicht mehr vorhanden. (Ob es schade um uns wäre?)“ – historisches Bewusstsein als Quelle visionärer Einsichten.
Gewiss hätten wir nicht mit seinem Widerspruch zu rechnen, wenn wir behaupten, seinem Lebensplan habe eine Goethe‘sche Maxime zu Grunde gelegen. Goethe kritisierte 1800 ‚patriotische‘, d.h. stolz-national daherkommende Tendenzen, die er unter den Wissenschaftlern und Künstlern seiner Zeit entdeckt zu haben glaubte, mit folgenden Worten: Wissenschaft und Kunst „gehören wie alles Gute der ganzen Welt an und können nur durch allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden, (und) in steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist, gefördert werden.“ Abgesehen davon, dass Goethe hier avant la lettre eine Definition der Idee des World Wide Web vorgelegt hat – ‚die allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden‘ – erkennen wir erstmals Konturen eines neuen historischen Bewusstseins. Alle Kunst und jede Wissenschaft, also auch die Naturwissenschaft, können nur „in steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist“, also in historischer Perspektive, betrieben werden. Diesem Ansatz folgt Burckhardt, ganz im Sinne Goethes, und in universalistischer Absicht.
Damit wird er zum ersten Historiker, der einen weiten Kulturbegriff zur Grundlage eines neuen Fachs macht: der Kulturgeschichte. Geschichte ist nicht länger mehr oder weniger mit der politischen Geschichte identisch, die von großen Ereignissen und Personen erzählt. Stattdessen erkennt er in der ‚Cultur‘ einen wesentlichen Antrieb allen geschichtlichen Wandels. Sie steht in seinem Konzept neben dem ‚Staat‘ und der ‚Religion‘, die beide als die stabilen, normgestützten Akteure der Geschichte erscheinen. In diesem Zusammenhang steht die berühmte Definition von ‚Cultur‘, die er 1868 in der Vorlesung ‚Über das Studium der Geschichte‘ gleich zu Beginn vorlegt: „Die Cultur, d. h. die ganze Summe derjenigen Entwicklungen des Geistes, welche spontan geschehen und keine universale Zwangsgeltung in Anspruch nehmen. Sie wirkt unaufhörlich modifizierend und zersetzend auf die beiden stabilen Lebenseinrichtungen ein; – ausgenommen insofern dieselben sie völlig dienstbar gemacht und zu ihren Zwecken eingegrenzt haben – sonst ist sie die Kritik der beiden (also des Staates und der Religion), die Uhr, welche die Stunde verräth, da in jenen Form und Sache sich nicht mehr decken. … Ihre äußerliche Gesamtform aber gegenüber von Staat und Religion, ist die Gesellschaft im weitesten Sinne.“
Keine Bange, meine Herren, hier ist nicht von ‚Hochkultur‘ die Rede, von Raffael, Shakespeare und Bach – so sehr Burckhardt alle drei bewunderte – sondern von Ihnen: Keiner hat Sie gezwungen heute hier zu sein, Sie kamen spontan und aus freien Stücken, um sich mit anderen Herren auszutauschen, dabei wohl auch ein Gläschen guten Weines zu trinken und vielleicht sogar ein Pfeifchen zu schmauchen. All das ist ‚Cultur‘, jene ‚ganze Summe‘, von der Burckhardt spricht, in der sich der menschliche Geist spontan entwickelt. Kaufmannschaft und Seefahrt gehören unbedingt dazu, Handel und Wandel nicht weniger. Keine Bange also, aber bitte auch keine Blauäugigkeit. Denn Sie wissen es nur zu genau. Hier, in der Hohen Halle des Bremer Rathauses, ist’s gemütlich, aber die ‚ganze Summe‘ des Geistes ist sein Drang zur Zersetzung: „Der Geist ist ein Wühler“, schrieb der Basler Bürger. Die festen stabilen Elemente des Geschichtlichen sind niemals vor ihm sicher. Er, der ‚Cultur‘-Geist, ist insubordinativ wie das Kind, das die Eltern, also Staat und Religion, fortwährend mit der Frage „Warum?“ auf die Probe stellt. Er ist im Kern: Kritik. Burckhardt machte in diesem Zusammenhang auf eine grundlegende Komplementarität aufmerksam: „Die Geschichte hat zu zeigen und davon auszugehen: wie alles Geistige, auf welchem Gebiet es auch wahrgenommen werde, eine geschichtliche Seite hat, an welcher es als Wandelung, als Bedingtes, als Vorübergehendes und in ein großes, für uns unermeßliches Ganzes aufgenommenes Moment erscheint, und wie alles Geschehene eine geistige Seite hat, von welcher aus es an der Unvergänglichkeit Theil nimmt. Denn der Geist hat Wandelbarkeit, aber nicht Vergänglichkeit.“
Hat er einmal angefangen, sich über sich selbst im Klaren zu sein, ist dieser ‚Geist‘ nicht mehr mundtot zu machen. Alles wird nun wandelbar und eben historisch, selbst das Gewissen, wie Burckhardt anmerkt. In der Nussschale seines Daseins hat der Mensch vom sicheren Ufer abgelegt. Die ‚Moderne‘ beginnt.
Die Epoche der ‚Moderne‘, ansonsten ein bis zur Unbrauchbarkeit abgenutzter Begriff, kann so vielleicht doch noch zu etwas nützlich sein, wenn wir nämlich sagen: ‚Moderne‘ ist schlichtweg das Zeitalter der ‚Kultur‘, die Phase mithin, in der ‚Staat‘ und ‚Religion‘, die traditionalen Pfeiler der Unveränderlichkeit und Normativität, von der ‚Kultur‘ und der durch sie konstituierten Gesellschaft nach und nach zersetzt werden.
Meine Heimat Weimar ist schön, übersichtlich, provinziell und vielfach museal. Aber gerade hier lässt sich genau beobachten, wie sich von der Reformation des 16. Jahrhunderts über die Aufklärung des 18. Jahrhunderts und den Beginn der politischen Moderne an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bis hin zur kulturellen Moderne des frühen 20. Jahrhunderts ein neues, kulturbestimmtes Leitbild menschlicher Vergesellschaftung durchsetzt, eben das Leitbild der ‚Moderne‘.
Edward Said, der maßgebliche Begründer dessen, was wir heute weltweit ‚Postcolonial Studies‘ nennen, hat in seinem epochemachenden Werk „Orientalism“, 1978/dt. 2009, ausgeführt: Niemand findet „Gefallen an der Aussage, dass die menschliche Realität einer ständigen Umbildung unterliegt, also im wesentlichen immer bedroht bleibt. Patriotismus, fremdenfeindlicher Nationalismus und giftiger Chauvinismus sind bekannte Reaktionen auf die daraus erwachsende Furcht. Wir alle brauchen festen Boden unter den Füßen, die Frage ist nur, wie fest und unerschütterlich er sein muss.“
Aber woher nehmen und nicht stehlen? Wenn wir wirklich auf uns selbst gestellt sind, dann gilt, was Goethe – und eben darin ist er modern! – in dem Gedicht ‚Grenzen der Menschheit‘ über diesen historischen Menschen schrieb: „Was unterscheidet/ Götter von Menschen?/Daß viele Wellen/Vor jenen wandeln,/Ein ewiger Strom:/Uns hebt die Welle,/Verschlingt die Welle,/Und wir versinken.“
Wollen wir jetzt an ‚Werte‘ glauben, universale, die uns, selbstgemacht, wie sie sind, in das Reich der Götter erheben sollen? Daran hätte jedenfalls Burckhardt nicht geglaubt. Ihm war bei der Entwicklung seines Zeitalters aufgefallen, dass es „mehr und mehr die ‚Kultur‘ (im weitesten Umfang des Wortes) ist, welche an die Stelle der Religion tritt, sobald es sich darum handelt, wer den Staat bedingen soll.“ Das weltgeschichtliche Gefüge von Religion, Staat und ‚Kultur‘ löst sich in der ‚Moderne‘ zugunsten der ‚Kultur‘ auf. In vergröbernder Rede, die Burckhardt als die eines ‚terrible simplificateur‘ erschienen wäre, könnte man sagen: ‚Moderne‘ ist das Zeitalter, in dem die ‚Cultur‘ die stabilen Strukturen der Weltgeschichte, nämlich ‚Staat‘ und ‚Religion‘, zersetzt.
Zunächst waren das nur die einsamen Gedanken eines Weisen, der, seiner Zeit seltsam enthoben, zwischen Studierstube und Hörsaal hin und her flanierte, den überaus ehrenden Ruf auf den Berliner Lehrstuhl (als Nachfolger Leopold von Rankes) ausschlug, auf Veröffentlichungen bald ganz verzichtete und sich ausschließlich der Forschung und – dies vor allem! – der Lehre widmete.
Sein Jahrhundert war mit sich selbst beschäftigt, es hatte viel zu tun. Die industrielle Revolution, die Unterwerfung der Welt durch die europäischen Nationen, die Triumphe der Wissenschaft und der Technik – all das hielt die Menschen in Atem. Im Gefolge der ‚Kultur‘ traten die Gesellschaft und die Wissenschaft von ihr, die Soziologie, ihren Siegeszug an, und die Soziologen erkannten in der radikalen Veränderung der Welt die Zeichen formaler Rationalisierung und rasanter Beschleunigung aller Lebensverhältnisse, letztlich also den allgegenwärtigen ‚Fortschritt‘. Da saß er hoch überm Rhein, der alte wunderliche Mann, dessen Haupt wie das eines Seeadlers aus den viel zu weiten Hemdkragen, die er bevorzugte, hervorschaute, und schrieb: „Die dem Bösen aufs stärkste entgegenwirkende sittliche Kraft: Es ist die rätselhafte Mischung aus Gewissen und Selbstsucht, welche dem modernen Menschen noch übrig bleibt, auch wenn er alles Übrige, Glaube, Liebe und Hoffnung eingebüßt hat.“ Mehr hatte er nicht aufzubieten gegen seine Gewissheit, dass die Freiheit und Spontaneität der ‚Cultur‘ ohne eine regulative Idee von Ordnung nur in den Untergang führen könne. Denn die ‚Macht‘, das hatten seine Studien ihn gelehrt, ist ‚böse‘. Das 20. Jahrhundert lasse ich aus.
Denn ich möchte endlich im Bremer Rathaus einlaufen, das ‚Große Heute‘ ausrufen und mich fragen, was wir hier eigentlich gerade tun – wenn auch, wie immer, „in steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist“. Ist es ‚Kultur‘, ist es ‚Moderne‘? ‚Kultur‘ doch auf jeden Fall, was denn sonst? Ein gesellschaftliches Ereignis, spontan entstanden und ohne universale Zwangsgeltung: Da machen wir einen Haken dran.
Aber ist unsere Zusammenkunft ‚Moderne‘? Ist das Bremer Tabak-Collegium in der Gegenwart der Spätmoderne angekommen? Um darauf eine Antwort zu finden, möchte ich Sie mit Andreas Reckwitz, einem späten Nachfahren Jacob Burckhardts, bekannt machen. Der Kultursoziologe aus Frankfurt – zu Ihrer Verblüffung und meiner Freude aus Frankfurt/Oder! – hat im vergangenen Jahr das Buch ‚Die Gesellschaft der Singularitäten‘ veröffentlicht. Der Titel ist ein ‚hölzernes Eisen‘, das der Autor dem Leser vorsätzlich entgegengeschleudert, scheinen doch ‚Singularität‘ und ‚Gesellschaft‘ einander zu widersprechen. Derzeit wird das Buch mit dem sonderbaren Titel ins Englische, Koreanische und Chinesische übersetzt, will sagen: Es hat in der intellektuellen Welt wie eine Bombe eingeschlagen, was heutzutage bei anspruchsvollen Theorie-Offerten eher selten geschieht – man versteht, dass die Erschöpften auf ihren Sectional Sofas weitgehend theorieresistent ausspannen.
Reckwitz‘ Ausgangsthese ist, dass wir einerseits weiterhin in der ‚Moderne‘ leben, dass sich diese ‚Moderne‘ aber vor knapp fünfzig Jahren, also in den 70ern, so maßgeblich zu wandeln begann, dass er seitdem die Spätmoderne am Werk sieht. Spätmoderne unterscheidet sich von ‚Moderne‘, die durch industrielle Rationalisierung und Bürokratisierung gekennzeichnet war, dadurch, dass sich das Verhältnis zwischen der sozialen Produktion des Allgemeinen und der des Besonderen umkehrt. Formale Rationalisierung und die soziale Logik des Allgemeinen sind an Prozessen des ‚doing generality‘ orientiert. Doing generality war Kennzeichen der ‚Moderne‘ von Beginn an: Strenge Wissenschaft, Standardisierung, universelle Normierung sind typisch für sie. All dies schreitet auch heute global weiter voran – aber: Es ist nicht mehr charakteristisch, sondern tritt zurück als die für unser Leben unerlässliche Hintergrundstruktur.
Stattdessen strebt die kosmopolitisch und neoliberal orientierte neue Mittelschicht nach Singularität. ‚Doing singularity‘: Produkte, Lebensformen, Beziehungen, Orte, Ereignisse, alles muss nun authentisch, besonders, einzigartig, kreativ sein. Gehandelt werden die Produkte der Singularität auf neuen Anerkennungs- und Aufmerksamkeitsmärkten, die es vor einem halben Jahrhundert noch gar nicht gab. Offensichtlich spielen bei alledem die digitale Welt und das Netz eine herausragende Rolle.
Reckwitz macht es am Reiseverhalten deutlich. Nach dem Krieg wollten alle Deutschen, wenn sie Fernweh hatten, nach Rimini an den Strand, wenn sie die Heimat liebten, an die Nordsee in die Sandburg. Der ‚Kodak-Moment‘, den sie suchten, war das Klicken des Auslösers. Nun war bewiesen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten: Die glückliche Kleinfamilie des Wirtschaftswunders am Strand der Nordsee, respektive der Adria, kurzum das ‚doing generality‘. Wenn heute eine Destination die Chance bietet, to snag an instagrammable moment, dann ist das genaue Gegenteil gemeint. Jetzt geht es um den Augenblick, in dem es gerade und nur Dir gelungen ist, das noch nie gesehene Motiv einzufangen: ‚Doing singularity‘. Das ganze Leben schießt in diesem Moment der Instagrammibilität zusammen. Unweigerlich denken wir an Andy Warhol, der schon 1968, also noch vor dem Beginn der Spätmoderne à la Reckwitz, die Vision aussprach: „In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes.“ Joseph Beuys, der Johannes der Spätmoderne, verkündete „Jeder Mensch ist ein Künstler“, was fünfzig Jahre danach René Pollesch zu dem Aperçu veranlasst: „Die Kunst war kreativer, als wir noch keine Künstler waren.“
Das Bremer Tabak-Collegium begann sein segensreiches Wirken vor mehr als sechzig Jahren. Wann genau, scheint umstritten, klar aber ist, dass der Beginn deutlich vor jener Zeitenwende liegt, an der die ‚Moderne‘ in die Spätmoderne überging. Ging das Collegium mit, oder blieb es in der ‚Kultur‘ der ‚Moderne‘ hängen?
In den 60er bis 80er Jahren gehörte der bis heute hochverehrte Rechtsanwalt Dr. Albrecht Schackow, das Inbild des Bremer Kaufmanns, zu den Habituées des Collegiums. Durch einen freundlichen Spender gelangte ich in den Besitz einer zweibändigen Publikation, in der die Reden und Ansprachen des 1992 verstorbenen Dr. Schackow unter dem Titel ‚Im Wandel der Jahre‘ versammelt wurden. Schon der Titel verweist auf Burckhardt, der von dem Geist, der in der Gesellschaft unablässig wirkt, gesagt hatte, er sei wandelbar, aber unvergänglich. ‚Cultur‘ eben. Dass das Collegium ‚Kultur‘ sei, wussten wir schon, zu beantworten bleibt die Frage nach seiner Modernität. Was sollte rumkommen, wenn Herren mit Herren gesellig rauchten?
Wer bei Dr. Schackow nachliest, ist doppelt verblüfft. Zum einen überrascht ihn die unkonventionelle, auf Singularität setzende Rhetorik des Tabak-Meisters. Nur ein Beispiel, bestehend aus drei Sätzen, mag meine Behauptung belegen. 1. Satz: „Die meisten von Ihnen, meine Herren, werden mit den Gesetzen und Vorschriften des Bremer Tabakkollegiums nicht vertraut sein.“ Der Zuhörer erwartet nun umständliche Erläuterungen. Stattdessen der 2. Satz: „Ich selbst bin es auch nicht.“ Überraschung – Dr. Schackow, ein Anfänger? Conclusio, 3. Satz: „Es gibt nämlich keine.“ Das ist eine skurrile Volte des Begrüßenden, zumal er gerade einer unverbrüchlichen Vorschrift, der Begrüßung vor dem Löffeltrunk, Folge leistet.
Den Verdacht, beim Tabak-Collegium der frühen Jahre könne es sich um ein frühes doing singularity gehandelt haben, wischt Dr. Schackow souverän vom Tisch, indem seine Rhetorik ständig um den Tabak kreist. Ein einziges Loblied singt er auf ihn: „Symbol geselligen Behagens“ sei er, „als beruhigender Geist bei liberalen Gesprächen in einigen Stunden der Entspannung“ preist er ihn. Dann folgt der markante Satz: Die „Kunst der Entspannung, meine Herrn, ist ja sicher ein Teil der Kunst des Arbeitens.“
Es gibt keinen Zweifel: Tabak, in einer Runde entspannungs-bedürftiger und nach erfolgreich getaner Arbeit auch –williger Herren genossen, dient – der Arbeit. Die Elite aller gesellschaftlichen Sparten rauchte im Dienst der modernen Erwerbsgesellschaft. 1972 war das Tabakkollegium also eindeutig ein Fall von ‚doing generality‘. Das soziale Handeln zielte auf gesellschaftliche Integration und Gemeinwohl, es hatte das Allgemeine im Sinn.
Dahin führt kein Weg zurück. Denn weder das Rauchen noch die gesellige Runde leitender Herren ist allgemeinheitskompatibel. Es gibt in der Spätmoderne für das Collegium deshalb nur zwei Wege: Entweder das Rauchen verbieten und beide Geschlechter paritätisch einladen. Das würde den Weg für ‚doing generality‘ in der Spätmoderne wieder öffnen; aber, meine Herren, welch kultureller Verlust, welche Langeweile!
Will das Collegium dies nicht, bleibt ihm nur der entschlossen-aufrechte Gang in die spätmoderne Singularität, ‚doing singularity‘. Jedes Bremer Tabak-Collegium eine eigene Einzigartigkeit. Das Collegium als solches, der singuläre Ort, die schrille, immer einzigartige Diversität von Herkünften, Identitäten, Veranlagungen aller Art – eine Super-Singularität mit exzellenten Aufmerksamkeitswerten! Instagrammibel in höchstem Maß: Kult. Meine Herren, die Identität von ‚Kultur‘ und Spätmoderne manifestiert sich als Bremer Ritualhandlung.
Andreas Reckwitz bliebe hinsichtlich einer Prognose für die weitere Entwicklung des Bremer Tabak-Collegiums dennoch skeptisch, denn er weiß, dass es nicht nur um Aufmerksamkeitsmärkte, sondern immer zugleich auch um Valorisierungsprozesse geht. Jedes Collegium muss den Wert seiner sozialen Plastik steigern. Es muss gelingen, zwei Identitätsmakel zu kompensieren: Den Tabak und den Geruch der Männerhorde. Wie kann das gelingen?
Es ist ganz einfach, nämlich: „In steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist“. Wir stellen umgehend den Antrag auf Eintragung des Bremer Tabak-Collegiums in die UNESCO-Welterbe-Liste des immateriellen Kulturguts. Eingeladen, ein wertvolles einzigartiges Kulturgut zu erhalten, das in der untergegangenen Epoche der ‚Moderne‘ das Allgemeine förderte, kann werden, wer bereit ist, einen Smoking anzuziehen, zu rauchen und gesellig zu sein. Die regelmäßige Arbeit am kulturellen Erbe wird so zu einem hoch valorisierten spätmodernen ‚doing singularity‘. Mit Tabak, ohne Damen, ohne Herren, aber mit Instagrammibiltätsgarantie.
Was sich Simon Strauß kürzlich von einer jungen ostdeutschen Politikergeneration erhoffte, dass nämlich von ihr „in unseren identitätspolitischen Zeiten … ein Fanal ausgehen (könnte), eine selbstbewusste Abkehr vom Partikularen und eine neue, überraschende Hinwendung zum Ganzen“, dieses Rauchzeichen wird dreimal im Jahr, geschichtsgestützt und wirkmächtig, das Bremer Tabak-Collegium aussenden.
Ich danke Ihnen.