Vortrag
Dr. Rainer Hermann
„Kein arabischer Frühling. Krisenbogen vom Hindukusch zum Atlantik“
Meine sehr geehrten Damen und Herren, verehrtes Tabak-Collegium!
Da es hier in Herrenhausen starke britische Bezüge gibt, liegt es nahe, dass ich meinen Vortrag mit einem britischen Premierminister beginne. Harold MacMillan war von 1957 bis 1963 britischer Premierminister. Sein Antrag, der EWG beizutreten, scheiterte an De Gaulles‘ Veto, und Skandale überschatteten das Ende seiner Amtszeit.
Da wurde er von einem Journalisten gefragt, was für einen Staatsmann die größte Herausforderung sei. MacMillan antwortete: „Events, my boy, events.“ Ereignisse. Events, wie man sie nicht bei einem Veranstalter buchen kann. Events wie Charles de Gaulle oder wie die Profumo-Affäre. Wie sie unvorhergesehen, unverhofft über einen hereinbrechen. Wichtig wird dann, wie man auf sie reagiert und ob man die richtigen Schlüsse zieht.
Ein außerordentliches Ereignis war die Pandemie. Unverhofft brach sie über uns herein, stellte uns vor neue Herausforderungen. Eine der geringeren war, dass sie den Kalender des Bremer Tabak-Collegiums durcheinandergebracht hat. Die 189. Zusammenkunft hätte im Juni 2020 stattfinden sollen. Die Pandemie hat es verhindert, und so spreche ich drei Jahre später zu ihnen.
Seither gab es eine Reihe von Events: Der überhastete Abzug aus Afghanistan: Hat er Folgen für unsere Sicherheit? Die Proteste in Iran: Leiten sie einen revolutionären Prozess ein? Die Erdbebenkatastrophe in der Türkei: Erdogan kam nach einem Erdbeben an die Macht, muss er nach diesem Erdbeben gehen?
Natürlich der russische Überfall auf die Ukraine. Er hat die Welt verändert. Uns im Westen beschert er eine Zeitenwende. Russland fällt als Partner weg, schrittweise ziehen wir uns bereits aus China zurück. Wir müssen aber auch erkennen, dass nicht die ganze Welt es so sieht mit dieser Zeitenwende.
So haben sich vor einer Woche Iran und Saudi-Arabien in die Hände Chinas gegeben, um ihre Beziehungen zu normalisieren. Zum ersten Mal tritt China im Nahen Osten nicht mehr nur als Handelsnation auf, sondern auch als politische Macht. Künftig bedeutet im Nahen Osten weniger Amerika mehr China.
Eine Folge der Zeitenwende ist für uns, dass es noch schwieriger wird, Partner zu finden, wollten nur noch mit den Ländern Handel treiben, die unsere Werte teilen. Wie steht es dann mit der arabischen Welt, unserem schwierigen Nachbarn im Süden? Die meisten ihrer Staaten werden autoritär regiert. Die arabische Welt sollte dennoch eine Partnerregion sein. Was immer dort geschieht, es betrifft uns. Zudem, Deutschland ist der Wunschpartner vieler arabischer Länder bei der industriellen Entwicklung. Diese Länder wiederum bieten sich für Energiepartnerschaften an.
Der Haken dabei: Deutschland verliert in der arabischen Welt an Relevanz und Ansehen, Deutschland verspielt seine Glaubwürdigkeit. Unser Image hat vor allem unserer moralischen Überheblichkeit wegen gelitten. Der deutsche Gutmensch erwartet so selbstverständlich, dass andere sich an uns orientieren. Das mag gut gemeint sein, zeugt aber von mangelndem Respekt für andere Gesellschaften, die anders funktionieren. So wie wir auf die Menschen dort blicken, blicken sie auf uns auch zurück.
Zwei Beispiele. Erstens, Qatar. Wie hat sich der Gutmensch an den Zuständen in Qatar abgearbeitet, am liebsten noch mit der „Binde“. Unbestritten ist, dass dort vieles nicht den europäischen Standards entspricht. Unbestritten ist aber auch, dass sich dort sehr vieles zum Besseren entwickelt hat. Gerade die WM und der Blick der Welt auf Qatar haben dafür gesorgt, dass es etwa den asiatischen Bauarbeitern besser geht. Ihre Lage hat sich schneller verändert als unsere Vorurteile folgen konnten. Manche tun sich wohl schwer zu akzeptieren, dass ein Glas auch halb voll sein kann. Lieber bleibt es halb leer.
Oder das Beispiel Saudi-Arabien. Wenn wir an den Kronprinzen denken, haben wir auch die Knochensäge im Kopf. In der saudischen Bevölkerung erfreut sich der Kronprinz aber einer breiten Unterstützung, weil er die überfällige Öffnung des Landes eingeleitet hat. Das Land entspricht im Inneren nicht dem, was wir von außen darauf projizieren. Zudem, wir können es uns gar nicht leisten, ein Land zu ignorieren, das auf absehbare Zeit das einzige stabile und handlungsfähige große Land der arabischen Welt sein wird.
Meine Damen und Herren, wir haben gute Gründe, uns mit dem langen Krisenbogen vom Hindukusch bis an den Atlantik zu beschäftigen. Seine Länder und seine Gesellschaften stehen vor Jahrzehnten des Umbruchs. Was immer dort geschieht, es hat Auswirkungen auf uns. Drei gewaltige Herausforderungen rollen auf die Länder zu, und nur wenige sind darauf vorbereitet.
Erstens, das Bevölkerungswachstum. Die Bevölkerung der 22 Staaten der arabischen Welt wächst Jahr für Jahr um 8 Millionen, das ist die Größe Österreichs. 1970 lebten in der arabischen Welt 128 Millionen Menschen. Heute sind es 450 Millionen. Nach einer Projektion der Vereinten Nationen wird die Bevölkerung auf 600 Millionen im Jahr 2050 wachsen.
Für den Zuwachs von 8 Millionen Menschen im Jahr braucht es Wohnungen, Schulen, Arbeitsplätze. Bereits heute hat jeder zweite Jugendliche keine Arbeit. Finden sie keine Arbeit und haben sie keine Perspektive, steigt zweierlei: die Bereitschaft zu politischer Gewalt und der Migrationsdruck.
In der arabischen Welt ist die Hälfte der Bevölkerung jünger als 25 Jahre, in Afghanistan ist die Hälfte sogar jünger als 19 Jahre. In Deutschland liegt das Medianalter bei knapp 50 Jahren. In Afghanistan wächst die Bevölkerung in einem Maße, wie es auch ein funktionierendes Land kaum verkraften würde. Als die Sowjetarmee einmarschierte, waren es 13 Millionen, heute sind es 40 Millionen, 2040 sollen es nach Projektionen der Weltbank 55 Millionen sein.
Zweitens der Klimawandel. Er setzt keiner anderen Region weltweit mehr zu als dem Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika. Die Weltbank erwartet, dass bis zum Jahr 2060 die Temperaturen um bis zu 4 Grad steigen. Bereits heute ist der Nahe Osten die wasserärmste Region überhaupt. Steigen die Temperaturen um 2 Grad, geht die Niederschlagsmenge weiter um 20% zurück. Künftig wird es also noch weniger Niederschläge geben und noch längere Dürren.
Weniger Wasser bedeutet weniger Viehzucht und weniger Feldanbau, also noch mehr Nahrungsmittelimporte und eine größere Abhängigkeit von den Preisschwankungen auf dem Weltmarkt. Zudem braucht die wachsende Bevölkerung mehr Lebensmittel. Brotunruhen sind programmiert.
Der Klimawandel schafft Konflikte, und er befeuert Konflikte. Denn für mehr Menschen gibt es weniger Wasser. Dürren historischen Ausmaßes suchen Iran und Afghanistan heim. Hitzewellen und Sandstürme werden manche Regionen unbewohnbar machen. Im Irak drohen Euphrat und Tigris auszutrocknen. In Ägypten führt der Nil als Folge des Staudamms in Äthiopien weniger Wasser, und der Anstieg des Meerwasserspiegels droht weite Teile des Nildeltas zu überfluten.
Für Europa sind die Folgen des Klimawandels in der arabischen Welt von großer Bedeutung. Denn der Verlust der Existenzgrundlagen wird viele Menschen in die Migration treiben.
Die dritte Herausforderung ist das nahende Ende des fossilen Zeitalters. Die Internationale Energieagentur (IEA) hat errechnet, dass die Nachfrage nach Erdöl bis zum Jahr 2040 um ein Drittel auf 67 Millionen Barrel zurückgehen muss, soll die Zunahme der Erderwärmung auf 2 Grad beschränkt werden.
Das erfordert einen gewaltigen wirtschaftlichen Anpassungsprozess. Zum einen für die Ölproduzenten: Sie müssen ihre üppigen Wohlfahrtsstaaten zurückbauen; damit haben sie begonnen. Sie müssen auch ihre Volkswirtschaften diversifizieren; dazu haben sie mit Programmen wie den „Visionen 2030“ begonnen. Eventuell zu spät?
Gravierender ist die Anpassung für die ärmeren Länder: In den Ölförderstaaten werden Millionen Gastarbeiter nicht mehr gebraucht. Sie kehren in ihre Länder wie Ägypten, Jordanien, den Libanon zurück und vergrößern dort das Heer der Arbeitslosen. Ihre Gastarbeiterüberweisungen werden zurückgehen, in einigen Staaten tragen sie ein Zehntel zu den Devisenerlösen bei.
Drei gewaltige Herausforderungen rollen auf die arabische Welt und den gesamten Krisenbogen zu. Die entscheidende Frage lautet: Wie sehr sind die Länder und ihre Regierungen darauf vorbereitet?
Sie sind nicht vorbereitet. Vielmehr steht für die Machthaber der kurzfristige Erhalt ihrer Macht im Vordergrund. Sie igeln sich mit ihrer Politik der „autoritären Stabilisierung“ ein und hoffen, so Änderungen fernhalten und den Status quo bewahren zu können. Anstatt Strategien zu entwickeln, diesen drei Herausforderungen die Wucht zu nehmen, geht es ihnen um das tägliche Überleben. Anstatt die Gesellschaft zu mobilisieren und Kräfte freizusetzen, ersticken starke Sicherheitsapparate alle dissidenten und kreativen Stimmen. Abschreckende Beispiele sind Ägypten und Algerien.
Vorsicht! Eine autoritäre Stabilisierung führt nicht zu dauerhafter Stabilität, sie schafft nur die Illusion von Stabilität. Eine autoritäre Stabilisierung löst keine Konflikte. Es sind wieder diese vermaledeiten Events, die über Nacht Energien freisetzen und ein Konstrukt zum Einsturz bringen können. Wie der Gemüsehändler in Tunesien oder die gefolterten Kinder im syrischen Daraa.
2011 war der Anstoß für die Massenproteste in jedem Land der arabischen Welt ein anderer. In allen Ländern begehrten die Menschen aber gegen Ordnungen auf, die sie als ungerecht und unfrei empfunden haben. Ihre Motive lassen sich auf die Formel PPP bringen: Sie forderten politische und wirtschaftliche Teilhabe (participation), ein Leben in Würde (pride), ein Ende der Armut (poverty). Sie forderten faire Lebens-, Arbeits- und Zukunftschancen. Sie forderten nicht Demokratie, sondern Freiheit und soziale Mobilität.
Es war kein arabischer Frühling. Der Begriff wurde in einer amerikanischen Talkshow erfunden, noch bevor in Tunesien Ben Ali und in Ägypten Mubarak gestürzt waren. Der unselige Begriff hat unseren Blick darauf verstellt, was wirklich geschah. Es war keine Welle der Demokratisierung wie 1989 in Osteuropa. Diese Massenproteste, diese Events waren ein Anlauf zu einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse, von Machtstrukturen, wie sie sich seit dem Beginn der Unabhängigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg zementiert haben, meist um das Militär und die Sicherheitsapparate. Die FAZ hat diese Events daher nicht Arabischer Frühling genannt, sondern Arabellion.
Was 2011 begonnen hat, ist noch lange nicht an seinem Ende angelangt. Denn was 2011 schlecht war, ist seither in den meisten Ländern noch schlechter geworden. Die Wiederkehr noch größerer Events ist daher eine Frage der Zeit. Nirgends, auch nicht in Tunesien, wie wir in den letzten Tagen gesehen haben, haben sich die Hoffnungen derer erfüllt, die demonstriert hatten. Der Knoten wird platzen, wenn die Not größer sein wird als die Angst vor den Sicherheitsapparaten.
Im Inneren igeln sich die Machthaber in ihrer Wagenburg ein und verteidigen sich mit ihrer Politik der autoritären Stabilisierung. Im Äußeren schließen sich die Staaten zu Zweckbündnissen zusammen. Geschichte ist das Zeitalter der leidenschaftlichen und heroischen Ideologien. Erst hatten die Unabhängigkeitskriege große Emotionen geweckt, dann der arabische Nationalismus und der Pan-Arabismus des Ägypters Gamal Abd al-Nasser.
Danach wurden aber kleinere Brötchen gebacken, regionale Zusammenschlüsse wie der Golfkooperationsrat (GCC) oder die Maghreb-Union sollten zu einer Integration nach dem Vorbild der EU führen. Auch diese Hoffnungen haben sich zerschlagen. Denn die einzelnen Staaten haben zu unterschiedliche Prioritäten.
Stattdessen schließen die Staaten nun taktische Zweckbündnisse, sie sollen weniger ambitionierte, kleinere Ziele erreichen und helfen, den Status quo zu erhalten. Etwa wenn Ägypten mit dem Sudan und Somalia kooperiert, um Äthiopien in die Zange zu nehmen. Dazu zählen auch die Abrahams Accords, also die Normalisierung der Beziehungen einzelner Staaten mit Israel.
Bei den Abrahams Accords winken konkrete Vorteile für ein Land: Die amerikanische Verpflichtung, für die Sicherheit eines Landes einzustehen; die Aussicht auf amerikanische Waffen, die Aussicht auf israelische Technologie. Um das zu bekommen, legen sich Regierungen wegen der Palästinenser keine Fesseln mehr an. Zumal der Konflikt zwischen dem jüdischen Israel und den muslimischen Arabern kaum lösbar ist: Bei Heiligem, und Jerusalem ist beiden Religionen heilig, geht man keine Kompromisse ein.
Soweit die Politik der autoritären Stabilisierung. Der Gegenentwurf dazu wäre der Mut zu einer Demokratisierung, sie wäre stark islamistisch geprägt. Denn der politische Islam ist in der arabischen Welt stark verankert, die Islamisten haben in der Bevölkerung oft eine größere Glaubwürdigkeit als die Regime.
Die erste große Welle geht auf den ägyptischen Präsidenten Sadat zurück; er öffnete in den 1970er Jahren die Gefängnisse und ließ tausende Muslimbrüder frei. Als der saudische König Fahd in den 1980er Jahren in Saudi-Arabien moderne Institutionen massiv ausbaute, holte er diese Muslimbrüder ins Land. Als es 2011 nach dem Sturz von vier Langzeitherrschern erste freie Wahlen gab, waren es die Muslimbrüder, die siegten. Seither werden sie mit eiserner Faust verfolgt. Sie sollen nie wieder eine politische Kraft werden.
Meine Damen und Herren,
kein Land ist wie das andere, Tunesien nicht wie Ägypten, der Libanon nicht wie Syrien, der Jemen nicht wie Algerien. Es gibt aber einen Punkt, der – bis auf die jungen und reichen Golfmonarchien — auf die meisten zutrifft: Sie sind schlecht regiert, und es wird eher schlechter als besser.
Die drei großen Herausforderungen rollen auf Staaten zu, die überwiegend dysfunktional sind. Sie sind dysfunktional, weil sie schlecht regiert sind; weil gute öffentliche Dienstleistungen für alle (wie Bildungswesen und Gesundheitsvorsorge) fehlen; weil die Korruption tief verwurzelt ist, weil die Teilhabe am politischen Prozess und am wirtschaftlichen Wohlstand verwehrt wird; weil es keinen Wettbewerb gibt, sondern Pfründe verteilt und Einzelne bevorzugt werden.
Eine Folge davon ist, dass zu wenige Arbeitsplätze geschaffen werden und dass die Mittelschicht erodiert. Nirgendwo sonst sind weltweit Einkommen und Vermögen ungleicher verteilt als in der arabischen Welt. Nirgendwo sonst ist die Konfliktdichte so groß; die Region ist ein Produzent von Unsicherheit und Terror.
Nirgendwo sonst in der Welt geben Staaten, gemessen an der Wirtschaftsleistung, mehr für Rüstung aus wie im Nahen und Mittleren Osten. Wir streiten erbärmlich um das 2%-Ziel. Im Nahen Osten fließen knapp 6 Prozent der Wirtschaftsleistung in Rüstung und Verteidigung. Diese Mittel fehlen bei der Bildung, der Gesundheit und in der Infrastruktur.
So wird das nördlich des Mittelmeers liegende Europa für viele Menschen zum hell leuchtenden Gegensatz: Mit Menschenrechten, wie sie das Grundgesetz garantiert; mit einem funktionierenden Staat, der dem Gemeinwohl dient; mit einem Rechtstaat, der gewährleistet, dass vor dem Gesetz alle gleich sind.
An dieser Stelle ist die Frage legitim, was das mit dem Islam zu tun hat, mit der Religion. Da ist Demut geboten. Unser heutiges Christentum ist auch nicht wie Manna vom Himmel gefallen. Die katholische Kirche hatte nicht aus eigener Einsicht Frieden mit der säkularisierten Welt geschlossen. Und die ersten Generationen der Reformatoren waren intolerante Eiferer, erst ihre Söhne wurden als Händler aufgeklärte, weltoffene und liberal denkende Bürger. Ähnliche Prozesse sehe ich auch in der islamischen Welt.
Nicht alles, was in der islamischen Welt geschieht, lässt sich mit dem Islam erklären. Die Religion ist nur eine von vielen Kräften, die die Region prägen. Auch junge Araber streben nach Bildung und einem guten Leben, auch dort gibt es Verteilungskonflikte, Hoffnungen und Ängste. Auch dort streben Menschen nach Macht.
Zurück zur Frage: Was hat der Zustand der Region mit dem Islam zu tun? Sie provoziert die Gegenfrage: Mit welchem Islam? Der heute vorherrschende Islam ist ein frisierter, verfälschter Islam. Denn die Herrschenden bedienen sich des Islams, um ihre Politik zu rechtfertigen; das führt zu einem Glaubwürdigkeitsdefizit. Ihm gegenüber steht der bürgerliche Islam, der versucht, autonom zu sein, mit Religionsgelehrten, die nicht im Dienste der Macht stehen.
Im sunnitischen Islam eint diese beiden Strömungen, dass sie den Status quo per se nicht in Frage stellen. Der Religionsgelehrte Ibn Taimiyah brachte das im 15. Jh. auf die Formel: „60 Jahre Tyrannei sind besser als eine Nacht ohne Herrscher.“ Revolutionäre Umstürze haben im sunnitischen Islam also keine theologische Begründung. Ein Herrscher darf Gehorsam einfordern. Dem muss aber eine bai‘a, ein per Akklamation vollzogener Treueid, vorausgegangen sein. Für diese Legitimation braucht der Herrscher gefügige Religionsgelehrte. Die Krise des Isams hat auch damit zu tun, dass er nicht autonom ist.
Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Drei gewaltige Herausforderungen rollen auf die Region zu; die Regierenden ziehen sich in ihre Wagenburg der autoritären Stabilisierung zurück; ihre Regierungsführung ist dysfunktional. In der Summe ist das bereits erschreckend genug. Ein weiterer destabilisierender Faktor gesellt sich in diesem Streifen der Instabilität aber hinzu: externe Einflüsse.
Eine schwache Staatlichkeit und scheiternde Staaten laden externe Akteure geradezu ein. Größere und kleinere Regionalmächte konkurrieren miteinander, ohne dass eine von ihnen stark genug wäre, sich durchzusetzen. Jeder will ein Stück vom Kuchen. Etwa die Türkei und Iran, auch die VAE mit ihrer muskulösen Diplomatie und auch Russland.
Das führt nicht zu mehr Stabilität, sondern wie in Libyen und im Jemen zu gewaltsamen Konflikten. Oder aber wie in Syrien, wo sich Machthaber Assad nur dank der externen Akteure Russland und Iran halten kann. Zwar ist die Gewalt rückläufig, das Land zerfällt aber in mehrere Interessengebiete. Es herrscht ein negativer Friede, jeder hat, was er will: Assad sitzt im Palast, Russland und Iran setzen sich im Land fest, die Türken haben ihren Teil und die Kurden mit den Amerikanern.
Meine Damen und Herren,
einst hatten Ägypten, der Irak, Syrien und Saudi-Arabien das Kleeblatt der arabischen Ordnungsmächte gebildet. Übrig blieb Saudi-Arabien. Das alte Arabien mit Ägypten, dem Irak und Syrien hat keine politische Kraft mehr. Es ging mit und unter seinem ideologischen Ballast zugrunde. Die arabische Welt hat ein neues Gravitationszentrum: das neue Arabien mit den reichen Monarchien am Golf. Sie zeichnen sich durch relative good governance aus, durch gute öffentliche Dienstleistungen und eine gute Infrastruktur. Wie steht es um die anderen?
Nehmen wir uns beispielhaft einige Länder vor und beginnen mit Ägypten. Die Bevölkerung wächst jedes Jahr um 2 Millionen Menschen, von derzeit 105 Millionen auf 160 Millionen im Jahr 2050. Ich sehe vier Gefahren.
Erstens, das Wirtschaftsmodell der Streitkräfte ist nicht zukunftsfähig und schafft zu wenig Arbeitsplätze. Die Streitkräfte kontrollieren zwei Drittel der Wirtschaft, ihre Unternehmen zahlen keine Steuern und keine Zölle. Wettbewerb dagegen ist zwecklos.
Zweitens, Ägypten ist auf externe Hilfen angewiesen. Megaprojekte wie die neue Hauptstadt und der Suezkanal sorgen zwar für konjunkturelle Strohfeuer. Die Schuldenlast des Landes ist aber gewaltig angewachsen. Gläubiger wie Saudi-Arabien und China wollen dafür nun Vermögenswerte, was in der Bevölkerung Unmut erzeugt. In der Diskussion ist gar, Anteile des Suezkanals abzutreten. Die Kritik der GCC-Staaten an der Großmannssucht der Generäle wächst.
Drittens, Sisis Machtkonstrukt ist brüchig. Im innersten Ring verlässt er sich auf seine Familie und enge Weggefährten, die sich hemmungslos bereichern. Der ebenso stabile zweite Ring besteht aus erfahrenen Technokraten im Präsidialamt. Ein Fragezeichen setze ich beim dritten Ring, den mehreren Tausend aktiven und pensionierten Offizieren, die im ganzen Land leitende Positionen in der Bürokratie und Wirtschaft innehaben. Bei ihnen macht sich wegen Frühverrentungen und der Halbierung des Versetzungsrhythmus‘ Unzufriedenheit breit. Viertens, wegen des Staudamms in Äthiopien droht Wasserknappheit.
Bei Saudi-Arabien, dem zweiten unserer Beispiele, bin ich hingegen zuversichtlich. Die Frage lautet, gelingt dem Königreich der Umbau, wie ihn die „Vision 2030“ vorsieht, und geschieht er rasch genug? Denn jedes Jahr drängen 400.000 Saudis auf den Arbeitsmarkt. Die Reformen sind bemerkenswert. Auch wenn eine politische Mitsprache der Untertanen tabu bleibt, genießen sie heute als Bürger gesellschaftliche Freiheiten, die selbst vor zehn Jahren noch undenkbar waren.
Dadurch verändert sich der Gesellschaftsvertrag. Der Kronprinz entmachtet die Religionsgelehrten, die bislang die Herrschaft des Hauses Saud legitimiert hatten. An ihre Stelle treten die saudischen Bürger, tritt die saudische Gesellschaft. Bislang haben sie als Untertanen keine Steuern bezahlt, der Wohlfahrtsstaat hat sie umfassend.
Jetzt zahlen sie Steuern, der Wohlfahrtsstaat wird abgebaut, und sie müssen arbeiten. Daher fordern sie nun Freiheiten und eine gute Arbeit. Die Zukunft Saudi-Arabiens steht und fällt mit der „Vision 2030“. Scheitert die Vision, scheitert Saudi-Arabien.
Das heutige Saudi-Arabien ist das dritte Königreich des Hauses Saud. Vorausgegangen waren das erste und das zweite Königreich im 18. und 19. Jahrhundert. Das dritte wurde vor einem Jahrhundert von Abd al-Aziz, dem Großvater des heutigen Kronprinzen Muhammad Bin Salman, gegründet.
Heute vollzieht der 37 Jahre alte Kronprinz den Übergang vom dritten in das vierte Königreich Saudi-Arabien. Das dritte Königreich stand stabil auf den Säulen von AAA: Al Saud (die Dynastie), Allah (die Religion) und Amerika. Das vierte Königreich des künftigen Königs Muhammad Bin Salman hat die AAA gegen ein MMM ausgetauscht:
M wie Muhammad Bin Salman: Er ist der alleinige Herrscher, die Prinzen des Hauses Saud spielen keine Rolle mehr. Die Apanagen wurden massiv beschnitten. Nur so konnte es geschehen, dass vor wenigen Wochen einem ranghohen Prinzen das Geld ausging und er deshalb seine teure Immobilie im Londoner Regent’s Park verkaufen muss. M wie Money: Es wird nicht mehr blind Geld ausgegeben, etwa für islamische Mission oder für brüderliche Länder wie Ägypten und Pakistan. Investitionen werden sorgfältig ausgesucht, sie müssen sich auszahlen. M wie Multilateralismus: Die USA bleiben zwar der wichtigste Partner; 80 pensionierte Pentagon-Generäle bauen derzeit das Verteidigungsministerium um und stellen eine schlagkräftige Armee auf. Das zweite Standbein aber wird, siehe die Vermittlung gegenüber Iran, China.
Stichwort Iran. In der Islamischen Republik sollten wir zwei Trends im Auge behalten. Erstens, das Regime, zumindest die Fraktion der revolutionären Hardliner strebt nach der Atombombe. Die iranische Bombe wäre einer der ganz großen Gefahren für die heutige Welt. Nicht zuletzt, weil sie ein nukleares Wettrüsten auslösen würde. Der letzte Schritt der Anreicherung, von 84% auf 90%, ist klein. Ich sehe keine Anreize, die wir dem Regime bieten könnten, damit es von dem letzten Schritt absieht. Und so reden wir nicht mehr mit dem Regime: Es gibt nichts mehr zu besprechen. Wir reden auch nicht wegen der erschreckenden Brutalität, mit der die Proteste unterdrückt werden.
Zweitens, in Iran hat ein revolutionärer Prozess eingesetzt. Etwa 80% der Iraner wünschen sich eine andere Republik. Der revolutionäre Prozess hat so lange keine Chance, wie alle bewaffneten Einheiten loyal zur Islamischen Republik stehen. Ein Wendepunkt wird sein, wenn Revolutionsführer Khamenei stirbt. Wer übernimmt dann? Der tiefe Staat um die Revolutionswächter? Ein demokratisches Iran halte ich kurz- und mittelfristig jedenfalls nicht für ein realistisches Szenario.
Afghanistan ist Irans Nachbar im Osten. Das Land am Hindukusch ist heute weit weniger relevant als vor zwei Jahrzehnten. Von ihm geht nicht mehr eine Bedrohung aus wie nach 9/11. Die Terrorbedrohung hat sich von Territorien entgrenzt. Unregierte Gegenden gibt es heute in vielen Teilen der Welt, blicken wir in die Sahelzone. Das zweite Emirat der Taliban wird ebenso scheitern wie das erste. Da sind: die Narben von einem halben Jahrhundert Krieg; eine Wirtschaft, die außer Mohn nichts Nennenswertes produziert; Fachkräfte, die ausgewandert sind; eine Bevölkerung, die unaufhaltsam wächst. Afghanistan war immer schwer zu regieren. Hören wir noch einmal Harold MacMillan: „Regel Nummer eins in der Politik: Niemals in Afghanistan einmarschieren.“ Viele haben die Lektion gelernt. Beschäftigen wird uns das Land weiter.
Meine Damen und Herren,
fragen wir zum Schluss: Was dann können wir tun, was sollten wir tun? Der Krisenbogen, den wir im Blick haben, stellt uns mit seiner Instabilität vor große sicherheitspolitische Herausforderungen. Der Transformationsprozess läuft in vielen Ländern viel zu langsam, wenn er sich überhaupt bewegt.
Ich will nicht der Festung Europa das Wort reden. Selbstredend können und wollen wir aber nicht alle aufnehmen, die ihre Heimat verlassen. Also muss ihre Heimat attraktiver werden. Ich schlage dazu sechs Instrumente vor, wie wir dazu beitragen können.
Erstens, die EU braucht eine aktive Mittelmeerpolitik. Die EU hatte bereits vor dem Schicksalsjahr 2011 die Nachbarschaft am Mittelmeer im Blick. Die Lektion des Kriegs in der Ukraine ist, dass wir auf stabile Nachbarn angewiesen sind. Dabei ist Bescheidenheit angesagt. Europa hat keine hard power, wir müssen mit soft power auskommen.
1995 war der sogenannte Barcelona-Prozess mit dem Ziel gestartet worden, eine euro-mediterrane Partnerschaft zu begründen. Irgendwie ist sie sang- und klanglos im Sande verlaufen. Die Mittelmeerpolitik ist zwar Teil der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Es ist aber nicht zu erkennen, dass sie einen besonderen Stellenwert hätte.
Um das zu ändern und um außenpolitisch handlungsfähiger zu werden, sollte beispielsweise der EU-Außenbeauftragte, derzeit der Spanier Josep Borrell, im Namen aller 27 EU-Staaten in den Anrainerstaaten auftreten. Wie bei den Atomverhandlungen mit Iran können dazu einzelne Staaten hinzukommen. Immerhin heißt es in der Erklärung des Europäischen Rates vom 11. Dezember 2020: „Eine demokratische, stabilere, grünere und wohlhabendere südliche Nachbarschaft ist eine strategische Priorität für die EU.“ Das muss mit Leben gefüllt werden.
Zweitens, wir kommen nicht umhin, unsere Nachbarn am Wohlstand teilhaben zu lassen. Nur bei einem steigenden Wohlstand oder der Aussicht auf einen solchen steigen die Menschen nicht in ein Boot nach Europa. Wir müssen bereit sein, unsere Märkte zu öffnen, beispielsweise die Märkte für Agrarprodukte. Dagegen erhebt sich Widerstand. Wie soll man das gegen französische Landwirte durchsetzen?
Es führt kein Weg daran vorbei: Die südliche Nachbarschaft muss enger an den EU-Binnenmarkt angebunden werden. Geschehen kann das über faire Handelsregelungen, der Schaffung belastbarer Lieferketten – das ist die große Chance — und gezielte Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur. So würde die Region wirtschaftlich und sozial gestärkt.
Drittens, viele Länder bieten sich für grüne Energiepartnerschaften an. Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs sind sie ein großes Thema. Im Zuge der Energiewende muss es sich um erneuerbare Energie handeln, im Fokus steht insbesondere grüner Wasserstoff. Wasserstoff ist keine Primärenergie, sondern ein Energiespeicher. Speichert der Wasserstoff erneuerbar erzeugten Strom, nennt man ihn „grünen Wasserstoff“, und der kann über weite Strecken transportiert werden. Deutschland prüft derzeit, mit welchen Ländern solche Energiepartnerschaften geschlossen werden können. Geschlossen wurden sie im vergangenen Jahr etwa mit Qatar und Ägypten. Seit 2012 besteht eine solche mit Marokko.
Viertens, und jetzt gelangen wir in unruhiges Gewässer: Es führt kein Weg daran vorbei, in der arabischen Welt Impulse für eine Verbesserung der Regierungsführung zu geben. Geschehen könnte das in Zusammenarbeit mit arabischen Staaten, die bereits good governance praktizieren, etwa die kleinen Golfstaaten. Ohne good governance wird sich die Region nicht grundlegend verändern. Das beinhaltet auch Bürgerorientierung, was einen Mentalitätswechsel erfordert. Bislang kann man in vielen arabischen Ländern nicht gerade den Eindruck haben, dass der Staat für die Bürger da sein sollte.
Eine Lektion bietet Tunesien. Nach 2011 öffnete sich die Gesellschaft, es gab eine politische Dividende, aber eine wirtschaftliche blieb aus. Der Grund dafür war governance. Die neue herrschende Klasse war ebenso dysfunktional wie es ihre Vorgänger waren. Tunesien zeigt, dass politische Änderungen nicht reichen. Auch die governance muss sich ändern.
Fünftens, wir sollten gesellschaftliche Prozesse in den Ländern fördern, vor allem Versöhnungsprozesse. Das ist wichtig, um in einer Gesellschaft Konflikte zu entschärfen und gesellschaftlichen Frieden herzustellen. Das sind langfristige Prozesse, sie sind aber unumgänglich. Die Vereinten Nationen, die EU und auch die Bundesregierung haben derartige Projekte laufen. Dabei handelt es sich etwa um einen Nationalen Dialog, wie wir ihn aus Libyen, dem Irak und aus Libyen kennen. Ägypten entzieht sich solchen Projekten völlig. Von außen können diese Prozesse nur angestoßen werden. Letztlich liegt es an den Menschen, sie fortzuführen und abzuschließen.
Das sechste und letzte Instrument wird bei uns auf Widerstand stoßen. Wir täten gut daran, Migrationsinstrumente partnerschaftlich umzusetzen. Hierzulande sehen noch immer viele Deutschland nicht als Einwanderungsland. Schnell kommt beim Thema Migration ein Abwehrreflex auf. Demnach habe das Ausländerrecht den Auftrag, uns diese Ausländer vom Leib zu halten.
Aber: Wir sind längst ein Einwanderungsland. Nur gehen wir nicht so selektiv und interessenorientiert vor wie etwa die USA, wie Kanada oder wie Australien. In Europa altert die Bevölkerung, südlich des Mittelmeers ist sie noch jung. Wir brauchen eine gezielte Anwerbung. So sollte der Austausch bei Waren enger sein, auch der bei Personen, etwa mit einem Austausch von Fachkräften oder bei einem Austausch im Rahmen des Erasmus-Programms.
Meine Damen und Herren,
zu welchem Fazit kommen wir? Von dem Krisenbogen wird noch lange Instabilität ausgehen. Jedes Land steht in diesem Ring of Fire vor großen Herausforderungen. Nicht wenige Länder stehen mit dem Rücken zur Wand. Sie lassen sich von einem moralisch überheblichen Deutschland nichts sagen, nähmen aber gerne unser Geld, um so ihre Existenz zu verlängern.
Andere Länder denken konstruktiv und an die Zukunft. Sie brauchen industrielle Technologien aus Deutschland sowie deutsche Expertise in Sachen Justiz, Polizei und Verwaltung, Bildung und Gesundheitswesen. Deutschland hat trotz der „Binde“ in Qatar in der arabischen Welt ein Potential, das es auszuschöpfen gilt. Das ist auch zu unserem Vorteil: Denn so entschärfen wir in dem Krisenbogen Gefahren, die uns bedrohen würden. Denn nicht alle Events, von denen Harold MacMillan sprach, geschehen unvorhergesehen. Man kann sich auch rechtzeitig dagegen wappnen.
Ich danke für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf Ihre Fragen und die Diskussion.