Vortrag
Prof. Dr. Ursula Münch
„Braucht die Gesellschaft den Zusammenhalt?“
Sehr geehrter Herr Dr. Bremer, sehr geehrter Herr Präsident Schreiber, sehr geehrte Mitglieder des Bremer Tabak-Collegiums,
zwei Feststellungen gleich zu Beginn des Vortrags. Grundsätzlich vertrete ich die Auffassung, und werde diese im Anschluss auch begründen, dass unsere Gesellschaft nicht gespalten ist:
Die weit überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung bewegt sich in der politischen „Mitte“.
Aber ich muss zugeben: Die Vielfalt und Vielzahl der Krisen und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft, Politik und Wirtschaft bereiten auch mir Sorgen. Und diese Sorgen werden angesichts aktueller Meinungsumfragen und der im Herbst 2024 anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen nicht kleiner. Und wir alle kennen weitere Gründe zur Besorgnis: Nicht zuletzt die Unversöhnlichkeit, mit der Debatten über „Klimakleber“, „Gendersternchen“ und Heizungen (!) geführt werden. Ich kann also durchaus nachvollziehen, dass mancher Beobachter von einer „Spaltung“ der Gesellschaft spricht. Gleichzeitig halte ich die häufigen Appelle in Festreden, „wir“ bräuchten dringend „mehr Zusammenhalt“ für nicht angemessen.
Dies werde ich im Folgenden begründen und nähere mich meinem Thema dazu in drei Schritten:
- Die Herausforderung der Demokratie
- Warum die These von der gesellschaftlichen Spaltung zwar populär, aber meines Erachtens sachlich falsch ist.
- Warum es weniger um „den Zusammenhalt“ als um etwas anderes geht
Die Herausforderung der Demokratie
Wir sind Zeitzeugen von einschneidenden Entwicklungen, die sich direkt oder indirekt auf den Bestand unserer Demokratie auswirken:
- Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion entwickelt sich die multilaterale Weltordnung immer weiter zu einer „Weltunordnung“,
- Die Klimakrise zeitigt bereits jetzt katastrophale Folgen für große Teile der Menschheit,
- Die Digitalisierung wälzt nicht nur das Leben und Arbeiten komplett um, sondern bedroht womöglich auch unsere offene Gesellschaft.
- An den Krieg in Europa haben wir uns als Beobachter zwar einerseits gewöhnt, andererseits treibt uns das mit ihm verbundene Eskalationspotential sehr um.
Es ist keineswegs nur das Ausmaß der jeweiligen Krise und Notlage brisant. Vielmehr müssen wir die Folgen dieser Krisen für die Stabilität unserer Demokratie bedenken.
Schließlich gibt es schon deshalb einen Zusammenhang zwischen Krisen und Demokratiegefährdung, weil all diese Umbrüche ausgerechnet in einer Zeit großer gesellschaftlicher Veränderungen über uns hereinbrechen. Woran lassen sich die gesellschaftlichen Veränderungen festmachen?
Ich nenne als Beispiele
- die wachsende gesellschaftliche Heterogenität und der demografische Wandel insgesamt,
- Emanzipationsprozesse, Wertewandel, Individualisierung,
- Orientierungsverlust durch die Vielfalt an Optionen der Lebensführung.
Zu den Folgen dieser Veränderungen gehört, dass Identitätsthemen mehr Bedeutung erhalten. Woher kommt das?
Das hat damit zu tun, dass weite Teile der Bevölkerung sich in ihrer eigenen Identität und ihrer eigenen Lebensführung gefährdet sehen. Dazu tragen gerade auch Heizungsgesetze bei.
Viele Leute befürchten, dass sie selbst oder ihre Kinder angesichts der Umbrüche nicht mehr mithalten können und den Anschluss verlieren. Das leistet dem Gefühl des Ausgeliefertseins und der Machtlosigkeit Vorschub. Von den etablierten Parteien, die man jahrzehntelang gewählt hat, fühlt man sich dabei im Stich gelassen. Wer Machtlosigkeit empfindet, will zurück in die Zeit des Bekannten und Vertrauen; der setzt verstärkt auf Tradition, Kultur, Sprache, nationale Grenzen – und wird darin von populistischen oder extremistischen Parteien bestärkt. Eine Partei wie die AfD besinnt sich genau auf jenes Altbewährte. Ihr gelingt es, den abstrakten „Feind“ durch einen konkreten zu ersetzen: etwa den Flüchtling.
Identitätskonflikte äußern sich auch in nationalistischem Denken sowie in Unverständnis zwischen der Bevölkerung in Stadt und Land (Zentrum-Peripherie-Konflikte) oder im Einfordern von Proporzregeln durch Minderheiten bzw. Aktivisten, die die Wiedergutmachung früherer und aktueller Benachteiligungen reklamieren.
Zu allem Überfluss verzeichnen wir außerdem, dass die Bindung an gesellschaftliche Organisationen nachlässt.
Parteien, Kirchen und Verbände verlieren aus unterschiedlichen Gründen Mitglieder, Unterstützung und damit Bedeutung.
Im Zuge dieses sog. „Strukturwandels des Intermediären“ geht uns allen etwas verloren:
- Erstens die Fähigkeit dieser Institutionen zur Reduktion von Komplexität und
- zweitens die (politische) Mäßigung.
Beispiele dafür, dass dem öffentlichen Diskurs die Mäßigung abhandengekommen ist, kennen Sie alle: Ich nenne nur die Debatte um die sog. „Klima-Kleber“. Deren Bereitschaft, den Rest der Bevölkerung zu nötigen, kann man als besonnener Mensch nicht gutheißen. Gleichzeitig sollte man m.E. aber auch nicht übersehen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Desinteresse von Öffentlichkeit und Politik an den berechtigten Anliegen dieser Aktivisten und deren zunehmender (und zu verurteilender) Radikalisierung.
Es ist jedoch nicht nur eine Verhärtung des öffentlichen und politischen Diskurses zu beklagen, sondern auch dessen Manipulation. Das hat damit zu tun, dass die Lücke, die durch den Bedeutungsverlust der intermediären Organisationen entstanden ist, durch digital vernetzte Extremisten und Störer besetzt wird.
Überhaupt scheint mir, dass den wenigsten Zeitgenossen bewusst ist, wie dramatisch die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten die Gesellschaft und die Politik in Deutschland, in Europa, in der Welt tatsächlich verändern.
Sowohl auf der „Senderseite“ als auch auf der „Empfängerseite“ erzeugen die Digitalisierung der Kommunikation und der damit einhergehende Bedeutungsverlust sog. „Gatekeeper“ einen großen Einschnitt:
- Journalisten sind nicht mehr die exklusiven Mittler zwischen Individuum und Welt: Sie haben ihre zentrale Rolle bei der Einordnung und der Prüfung von Wahrheit und Relevanz verloren.
- In der Folge prasseln Informationen (richtige und falsche) ohne die Einordnung ihrer Glaubwürdigkeit und Relevanz auf die Öffentlichkeit ein.
Die neue Unübersichtlichkeit angesichts der vielen digitalen Absender von Informationen birgt Risiken – gerade auch für unsere freiheitliche Demokratie.
Diese ist nämlich auf etwas Elementares angewiesen: auf eine durch die Medien vermittelte öffentliche Debatte, die möglichst frei von Manipulationen stattfindet.
Natürlich. Auch in vordigitalen Zeiten gab es Meinungsmonopole und Verzerrungen.
Aber die Unterschiede sind empirisch nachweisbar: Im gerade erst beginnenden digitalen Zeitalter schaukeln sich die Debatten schneller hoch als dies bis zum Jahr 2007 der Fall war, also dem Jahr als Apple sein erstes iPhone auf den Markt brachte.
Wie gesagt: Wir stehen gerade erst am Anfang der Beeinflussung öffentlicher Meinung durch digitale Werkzeuge. Über das diesbezügliche Potential sog. „Generativer KI“ können wir derzeit nur mutmaßen. Wir wissen aber durchaus, dass sog. Sprachmodelle wie etwa Chat-GPT ihren „output“ auf der Grundlage der Texte produzieren, auf die sie trainiert wurden: also dem Geschriebenen im gesamten Internet. Werden immer mehr Texte durch KI „generiert“, dann sinkt der Anteil der menschenproduzierten Diskussionsbeiträge kontinuierlich. Hannes Bajohr beschrieb eines der damit verbundenen Probleme vor einigen Wochen in der NZZ folgendermaßen: „In der Datenmenge schwimmen auch all die „biases“, also die Vorurteile und Irrtümer, Rassismen und Sexismen, die die digitale Sphäre beinhalten“ (NZZ 25.4.2023).
Krisenzeiten gehen mit Unsicherheit einher, also mit der Wahrnehmung von Instabilität und Bedrohungsgefühlen. Die Konfrontation mit unvorhergesehenen negativen Ereignissen und Veränderungen verstärkt zum einen bei manchen Menschen das Gefühl, einen Kontrollverlust zu erleiden. Zum anderen führen Krisen häufig zu Enttäuschung über bestehende staatliche Strukturen und Institutionen. „Der“ Politik wird unterstellt, nicht angemessen auf die Krise zu reagieren oder einzelne Gruppen unfair zu handeln.
Aber natürlich gibt es immer auch die Krisenprofiteure: In diesem Fall sind es extremistische Gruppen, die sich als vermeintliche Lösung bzw. Alternative zu den angeblich weltfremden Eliten in den Hauptstädten präsentieren:
- Diese Extremisten bieten Gruppengefühl statt individueller Verunsicherung, also Zusammenhalt in der Gemeinschaft und damit Zugehörigkeit als Schutz vor Bedrohung und als Alternative zu offiziellen Strukturen.
- Sie halten ein Angebot an Erklärungen für die Ursachen der Krise parat. Damit ermöglichen sie die Identifikation von vermeintlich Schuldigen bzw. Verantwortlichen für die Krise.
- Und vor allem bieten sie den Verunsicherten alternative Ideologien und Visionen für eine (vermeintlich) gerechtere Gesellschaft an.
Doch selbst der große Teil der Bevölkerung, der auf Abstand zu Extremisten bleibt, verändert in Krisen die Einstellungen und die Erwartungen an den Staat.
Den damit verbundenen Erwartungsdruck haben sich die Parteien auch selbst zuzuschreiben. Sie haben ihn schließlich über Jahre hinweg (v.a. aber während Corona) fleißig genährt.
In der Folge haben wir neben all den akuten Problemen noch ein ganz grundsätzliches: Immer mehr Menschen sehen den Staat nicht mehr in erster Linie als eine die Freiheit und den Frieden sichernde demokratische staatliche Ordnung. Sondern: Viele sehen ihn vor allem als Dienstleister – mit den Bürgern als Konsumenten dieser Dienstleistungen. Das ist nicht das Menschenbild unserer freiheitlichen Demokratie und schon gar nicht einer Marktwirtschaft – auch nicht unserer sozialen Marktwirtschaft.
Umfrageergebnisse
Dass Ost- und Westdeutsche unsere demokratische Ordnung recht unterschiedlich beurteilen, ist bekannt. Zuletzt zeigte das eine Umfrage im Auftrag des Ostbeauftragten der Bundesregierung, die Anfang Oktober 2022 veröffentlicht wurde. Zentrale Ergebnisse zur Zufriedenheit mit der Demokratie:
- 59 % der Westdeutschen sind zufrieden
- Nur 39 % der Ostdeutschen
Auffallend an der Studie sind die großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen: vor allem in Abhängigkeit von ihrer sozialen Lebenslage und vom Wohnort. Besonders niedrig ist die Zufriedenheit der Leute, die selbst angeben, einen niedrigen sozialen Status zu haben und die in Gegenden leben, die vergleichsweise schlecht mit Infrastruktur und Daseinsfürsorge ausgestattet sind. Auch die Ergebnisse einer repräsentativen Allensbach-Umfrage vom Februar letzten Jahres irritieren: Immerhin 46 % aller Befragten (44 % Westdeutschland, 58 % Ostdeutschland) stimmten der Aussage zu, „Wir brauchen einen starken Politiker an der Spitze, keine endlosen Debatten und Kompromisse“.
Dass es also Belege für eine gewisse Radikalisierung gibt, ist nicht zu übersehen. Das spricht also durchaus für die These einer möglichen Spaltung der Gesellschaft.
Beendete ich meinen Vortrag an dieser Stelle, könnten Sie zurecht feststellen, dass das von mir gewählte Fragezeichen im Vortragstitel überflüssig ist. Aber: Es geht ja weiter.
Warum die These von der gesellschaftlichen Spaltung zwar populär, aber meines Erachtens sachlich falsch ist
Bei allem Respekt vor den derzeitigen Krisen und den harten Kontroversen in Politik und Gesellschaft. Wir sollten uns m.E. auch immer wieder daran erinnern, wie groß die gesellschaftlichen Konflikte z.B. in den 1970er Jahren waren: Auch diese Stichworte kennen Sie alle: „Radikalenerlass“, Wiederbewaffnung – Nachrüstung, § 218 StGB, WAA Wackersdorf u.a. .
Und: Es gibt weitere Argumente, die meine These unterstützen, dass wir uns nicht auf eine Spaltung der Gesellschaft zubewegen, in der sich Probleme überhaupt nicht mehr lösen ließen. Ich verweise auf eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Jahr 2021: Vor der letzten Bundestagswahl im September 2021 wurde die Bereitschaft abgefragt, neben der eigentlichen Parteipräferenz auch die Wahl einer anderen Partei in Betracht zu ziehen: Diese Bereitschaft war bemerkenswert groß (KAS-Studie: „Vermessung der Wählerschaft vor der Bundestagswahl 2021“).
Das heißt: Es ist nicht so, als hätte sich unsere Gesellschaft bereits in fundamentale Lager auseinanderdividiert, als hätten wir nur noch Grabenkämpfe. Wir befinden uns nach meiner Einschätzung nicht in einer Welt von zwei konträren oder miteinander in Konflikt stehenden Gesinnungslagern. Zweifelsohne: Unsere Gesellschaft ist nicht konfliktfrei, nicht einmal konfliktarm. Aber: Die Pufferzone innerhalb unserer Gesellschaft, diese Welt des Dazwischen, des „sowohl als auch“ – sie ist groß.
Warum dann dennoch ständig die Rede von der gespaltenen Gesellschaft? Warum behaupten manche, wir erlebten bereits etwas, was der Soziologe Steffen Mau von der Berliner Humboldt-Universität „die Kamel-Gesellschaft“ nennt: Polarisiert, zerstritten. Und das symbolisiert durch die beiden Höcker, mit einem tiefen Graben dazwischen.
Diesem seines Erachtens falschen Bild von der angeblichen „Kamel-Gesellschaft“ stellt der Kollege Steffen Mau sein empirisch untermauertes Bild von der einhöckrigen „Dromedar-Gesellschaft“ entgegen: Damit umschreibt er, dass wir eine Normalverteilung an Meinungen verzeichnen: Die meisten Menschen befänden sich in der Mitte des Meinungsspektrums, die meisten hätten zu den meisten Themen moderate Einstellungen.
Dieser beruhigende Sachverhalt lässt sich sogar an den schwierigen Themen Klimapolitik und auch Migration zeigen; ungeachtet durchaus erbitterter Meinungsverschiedenheiten beobachten wir hier auch viel Bewegung aufeinander zu:
- Anders als in den 1980er Jahren sorgen sich heute nicht mehr nur Personen mit hoher Bildung und höherem Einkommen sowie junge Menschen um Umwelt und Klima. Das Umweltbewusstsein ist vielmehr in die gesamte Gesellschaft diffundiert.
- Anders als in den 1970er und 1980er Jahren befürworten die meisten Bürgerinnen und Bürger inzwischen Migration. Einerseits aus humanitären Gründen, andererseits wegen unserer eigenen demografischen Entwicklung. Was fast alle aber entschieden ablehnen, ist der laxe Umgang mit „irregulärer“ Migration.
Warum ist die Spaltungsthese dennoch so verbreitet?
Unsere Wahrnehmung der Welt und damit auch die „Selbstbeobachtung“ der Gesellschaft werden uns überwiegend durch die Medien vermittelt.
Die Beschreibung einer angeblich gespaltenen Gesellschaft kommt uns auch deshalb plausibel vor, weil wir die fortwährende mediale und politische Inszenierung von Konflikten als Abbild realer Meinungslandschaften missverstehen.
Mit dieser Feststellung will ich keinesfalls Medienschelte betreiben, sondern weise lediglich auf eine zwangsläufige Folge der Funktionsweise auch seriöser Medien hin: Menschen interessiert nicht „das Normale“, sondern das Besondere. Das ist nicht ein Ergebnis des Geschäftsmodells aller Medien, sondern auch unserer eigenen Aufmerksamkeitsökonomie. Da nur jene Themen Nachrichtenwert besitzen, die kontrovers sind oder von einer bestimmten Norm abweichen, werden tendenziell Extrempositionen überbetont: An den Rändern wird „lauter“ (im Sinne von radikaler) gesprochen. Die digitalen Plattformen verstärken dabei die menschlichen Stimmen zusätzlich durch algorithmenbasierte Verstärkereffekte. Aber auch die analogen Zeitungen mit den großen Überschriften schüren gern Stimmungen und heizen die Debatten mit hoher Kontroversität und hohem Konfliktpotenzial weiter an.
Ich halte das Schlagwort von der angeblichen Spaltung der Gesellschaft aber auch deshalb für ungeeignet, weil es suggeriert, dass sich zwei ähnlich große Gruppen gegenüberstehen: zahlenmäßig stimmt das nicht. Wir sollten also genauer hinschauen: Das Bild, das sich dann bietet, ist zwar ebenfalls unerfreulich, aber es ist ein anderes. Es geht nämlich um die Abwendung einer radikalisierten Minderheit von der Mehrheitsgesellschaft und von den Grundprinzipien unserer demokratischen Gesellschaft.
Und diese Minderheit erhält sehr viel Aufmerksamkeit und erscheint uns größer als sie tatsächlich ist – nicht zuletzt wegen einer gekonnten Selbstinszenierung.
Wie geht eine Mediengesellschaft mit dieser Verzerrung um? Das Wichtigste ist sicherlich sorgfältige Berichterstattung. Aber: Das ist leichter gesagt als getan. Der Bedeutungsverlust öffentlich-rechtlicher Medien und der seriösen Lokalzeitungen ist offensichtlich – und er ist ein Problem mit beträchtlichen Folgen.
Warum es weniger um „den Zusammenhalt“ als um etwas anderes geht
Meine Diagnose, dass es keine gesellschaftliche Spaltung gibt, ist eine Beschreibung des Istzustands: Eine Prognose, ob das auch so bleiben wird, kann ich nicht treffen.
Was ist zu tun, damit wir auch weiterhin von einer gesellschaftlichen Spaltung, wie wir sie für die USA beobachten, verschont bleiben? Nicht nur „die Politik“, sondern gerade auch die schweigende Mehrheit ist meines Erachtens in der Pflicht, auf den Verlust an Vertrauen in Politik, Medien, Wissenschaft und Wirtschaft zu reagieren.
Ich beschränke mich auf einen Aspekt, der mir für die Mitglieder des Bremer Tabak-Collegiums besonders wichtig erscheint. Ich meine die Bedeutung von Unternehmen und Arbeitgebern und beziehe mich auf die Ergebnisse des „Edelman Trust Barometer“ für Deutschland:
In diesen jährlichen Befragungen zu Vertrauen und Glaubwürdigkeit schneidet die Wirtschaft anders als die Bereiche Politik und Medien gut ab.
Die Wirtschaft wird von den meisten Befragten nach wie vor als „kompetent“ und „ethisch“ angesehen: in den letzten drei Jahren sind die Ansehenswerte der Wirtschaft sogar gestiegen.
Aufschlussreich und durchaus überraschend: Den Unternehmen und ihrem Führungspersonal wird sogar Bedeutung für etwas zugewiesen, was die Herausgeber des Edelman Trust Barometers als „Informationsökosystem“ bezeichnen.
Damit ist gemeint, dass Unternehmen als eine Quelle für zuverlässige Informationen angesehen werden. Die darin zum Ausdruck kommende Vorbildfunktion erhält gerade in Zeiten digitaler Kommunikation eine immer größere Bedeutung: Je mehr Menschen ihre Informationen vor allem aus den digitalen Netzwerken und von online-Plattformen beziehen, umso bedeutsamer wird der persönliche Umgang mit integren Persönlichkeiten.
Egal ob man in einem Unternehmen oder in anderen Bereichen Verantwortung trägt:
Es liegt an uns, ob wir es zulassen, dass unsere demokratische Ordnung und unser Rechtsstaat herabgewürdigt werden oder weiterhin das Ansehen genießen, das diese Ordnung erstens uneingeschränkt verdient und das Sie (großgeschrieben) zweitens benötigen, um weiterhin erfolgreich Ihren Geschäften nachgehen zu können.
Es liegt auch an unserem Reden und Verhalten, ob Fehler und Fehlentscheidungen unserer politischen Repräsentanten zum Staatsversagen hochstilisiert werden.
Und es liegt an uns, ob die „kleinen Leute“ sich darauf verlassen können, dass auch ihre Interessen angemessen berücksichtigt werden.
Wer nach einer Anregung sucht, wie er oder sie einen Beitrag dazu leisten kann, dass auch die Generation unserer Enkel noch in Freiheit und Demokratie leben kann, könnte sich nach meiner Einschätzung mit folgenden Gegebenheiten auseinandersetzen:
- Gerade die Schwächeren in einer Gesellschaft sind auf zwei Dinge besonders angewiesen: auf die sicherheits- und sozialpolitische Handlungsfähigkeit der Politik und auf die Gewährleistungen des Rechtsstaates. Gerade die Schwächeren können sich nämlich weder die innere noch ihre soziale Sicherheit privat einkaufen. Und gerade die einfachen Leute sind darauf angewiesen, dass nicht „Vitamin B“ oder Bestechungsgeld entscheiden, sondern eine nach rechtsstaatlichen Grundsätzen arbeitende Verwaltung.
- Nationalismus fängt meist leise an, er geht weiter mit dem Rückzug aus wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Offenheit, und er kann im Desaster enden. Gerade weil der Nationalismus so schleichend daherkommt, will ich an eine Warnung des damaligen französischen Staatspräsidenten Mitterrand im Januar 1995 vor dem Europäischen Parlament erinnern. Mitterrand stellte damals fest: „Nationalismus heißt Krieg. Krieg, das ist nicht nur Vergangenheit. Er kann auch unsere Zukunft sein.“
- Unsere Gesellschaft braucht nicht „den Zusammenhalt“. Den kann es – jenseits einer grundsätzlichen Einigkeit über die Spielregeln in einer rechtsstaatlichen Demokratie – in einer so vielfältigen Gesellschaft ja auch gar nicht geben. Was wir aber brauchen, sind die Vorbilder. Also diejenigen, die ihrem Umfeld vorleben, dass sie verstanden haben, was es mit dem viel zitierten Böckenförde-Diktum auf sich hat, wonach der „freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.“
- Geschichte wiederholt sich nicht. Aber man kann das eine oder andere doch aus ihr lernen. Ich erlaube mir aus der Rede von Prof. Dr. Eric Voegelin anlässlich des Festaktes zur Eröffnung der Akademie für Politische Bildung im Februar 1959 zu zitieren:
„Eine Demokratie ist kein Schlaraffenland, in dem der friedliche Bürger seinen Geschäften nachgehen und sich des Wirtschaftswunders freuen kann, sondern ein Zustand der täglichen, wohlgeübten und zur Gewohnheit gewordenen Wachsamkeit und Disziplin in den Grundfragen des politischen Lebens.“
Das heißt: Von nichts kommt nichts. Die größte Gefahr für Demokratie und Pluralismus sind bekanntlich nicht ihre Gegner, sondern die Gleichgültigkeit ihrer Anhänger.
Wir brauchen also nicht „den Zusammenhalt“, sondern eine streitbare und urteilsfähige Bürger- und Unternehmerschaft, die sich verpflichtet fühlt, ihren eigenen aktiven Beitrag zum Erhalt unserer Demokratie und unserer rechtsstaatlichen Ordnung zu leisten.
Auch aus diesem Grund bedanke ich mich sehr für die ehrenvolle Einladung zur 195. Zusammenkunft des Bremer Tabak-Collegiums hier auf der Burg Trausnitz.