Vortrag
S.E. Reinhard Kardinal Marx
„Der Ort der Religion in der modernen Gesellschaft“
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freunde und Gäste, Mitglieder des Tabak-Collegiums,
ich freue mich über diese ehrenvolle Einladung. Sie haben vernommen, dass Professor Mellinghoff im ‚Kleinen Gremium‘ sehr eindringlich auf Rom hingewiesen hat. Als er mir von diesem Vorhaben berichtete, hat er gesagt: Herr Kardinal, dann müssen Sie aber auch den Vortrag halten. Da konnte ich mich nicht ganz wehren, und ich tue es auch gerne.
Ich habe diesen Vortrag überschrieben „Der Ort der Religion in der modernen Gesellschaft“, weil mich das – wie auch viele von Ihnen – umtreibt. Oder ist es ein Naturgesetz, dass die Religion verschwindet? Je moderner eine Gesellschaft ist, umso weniger Religion hat sie? Das war schon in den 1970er Jahren bei den Religionssoziologen und auch bei anderen Soziologen wie eine allgemeine Überzeugung. Es hat sich anders entwickelt. Nicht so, wie die Kirchen sich das gewünscht haben, aber auch nicht so, dass die Religion einfach verschwindet, wie manche meinten. Sie verschwindet nicht, sie verändert sich.
Aber was ist ihr Ort und was ist die moderne Gesellschaft? Glauben wir nicht, wir können heute Abend nur über Religion reden. Wir reden auch über die Zukunft der Demokratie. Diese Zusammenhänge kann man nicht ausblenden. Religion ist kein Spezialthema! Nein, es geht immer auch um das Ganze. Religion und Gesellschaft – das ist ein Menschheitsthema. Man könnte sagen, der Homo sapiens und Religion, das ist koextensiv. Seit es Menschen gibt, von Anfang an, erleben wir eine Selbstreflexion: die Erfahrung des Anderen, die Angst und die Ehrfurcht vor den Göttern, wie immer man das im Einzelnen fassen kann. Eine Menschheit ohne Religion ist eine Vorstellung, die aus der neueren Zeit stammt und wahrscheinlich auch noch nicht ganz durchdacht ist. Es ist ja nicht so, als würden alle über die Kirchenaustritte triumphieren; selbst Verächter der Kirche machen sich mittlerweile Gedanken, was es eigentlich bedeutet und welche Folgen das hat. Sie gehen zwar nicht sonntags zur Kirche, aber finden es doch bedauerlich, dass es so wenige tun. Das ist natürlich ein Widerspruch in sich, aber immerhin ein Aufmerken, es könnte etwas fehlen. Und was fehlt genau? Was ist das, was fehlt? Und wie können wir es ersetzen? Können wir es überhaupt ersetzen? Man spürt es an den Diskussionen in Deutschland und weltweit; hier in Rom natürlich besonders, wo der Papst im Mittelpunkt steht. Und was der Papst tut, ist doch weiterhin ein Thema.
In der Pandemie habe ich mir die Zeit genommen, von Jürgen Habermas die beiden Bände „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019) zu lesen. Es ist das Opus Magnum eines Menschen, der sich selbst als religiös-unmusikalisch schildert, und man spürt das Ringen dieses Mannes mit mittlerweile über 90 Jahren, der auf tausendfünfhundert Seiten über das Verhältnis von Gesellschaft und Religion reflektiert. Das Ganze endet mit einem Blick auf den Gottesdienst; ich werde darauf noch zu sprechen kommen.
Wir müssen feststellen, dass Glaube, Religion und Gesellschaft keine soziologisch trennbaren Größen sind. Das sind nur Begriffe. Jeder von Ihnen ist, wenn er Mitglied einer Kirche ist, gläubig oder nicht mehr gläubig, oder was auch immer, auch Mitglied der Gesellschaft. Es sind keine soziologisch eindeutig trennbaren Größen: Kirche und Gesellschaft kann man nicht trennen. Weder kann die Kirche ohne die Gesellschaft sein, noch ist die Gesellschaft, in der es Kirche gibt, von dieser getrennt, so dass eine Grenze bestünde, wo auf der einen Seite Kirche beginnt und auf der anderen die Gesellschaft. Das will ich nur als Vorbemerkung vorausschicken, damit wir es uns nicht zu leicht machen und zu unreflektiert Begriffe gebrauchen.
Wenn wir das einmal voraussetzen, dann können wir aus heutiger soziologischer, sozialwissenschaftlicher Sicht das Verhältnis von Religion und Gesellschaft anschauen und feststellen, dass es immer eine Geschichte der Gefahr einer gegenseitigen Funktionalisierung war. Politik, Gesellschaft hat immer Religion für die eigenen Zwecke benutzt, wie umgekehrt Religion versucht hat, Gesellschaft zu prägen, vielleicht sogar zu beherrschen. Das ist Thema der Religionskritik, bis hin zu Karl Marx. Er hat allerdings in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie nicht nur vom „Opium des Volkes“ gesprochen, sondern auch davon, dass Religion „Protestation“ sein kann. Er hatte beides im Blick und sah die Gefahr, dass Religion benutzt wird, um bestimmte Interessen durchzusetzen oder manche zu beruhigen, aber er sah auch das Potential und die Sprengkraft darin.
Diese verschiedenen Tendenzen sind auch in der biblischen Botschaft schon deutlich. Ich kann das jetzt nicht in einem exegetischen-wissenschaftlichen Beitrag im Einzelnen vorstellen. Die biblische Botschaft beginnt mit einer großen Aufklärung im Buch Genesis. Die vielen Götter werden „abgeschafft“, es gibt nicht mehr Sonne und Mond als Götter. Es gibt nur noch den einen Gott. Darin ist schon etwas Wesentliches für die Zukunft und für die Gegenwart unserer modernen Gesellschaft angelegt. In der biblischen Tradition gibt es schon die Tendenz zur Aufklärung, vernünftig nachzudenken, die Götter nicht zu instrumentalisieren, sie nicht zu Naturgöttern zu machen, nicht einfach die Mächte der Welt zu vergöttlichen und zu beschwören. Religion ist ein allgemeiner Begriff, den vielleicht Cicero eingeführt hat, und ich spüre immer deutlicher, dass man unter diesem Begriff aber nicht alles fassen und es als Religion benennen kann. Das ist eine Versuchung.
Lassen Sie mich als kurzen Zwischenruf auf eine Vorlesung von Joseph Ratzinger in Paris an der Sorbonne (1999), also an einer säkular organisierten Universität, hinweisen. Dort hat er als Kardinal den provokanten Satz gesagt: „Christentum ist nicht die Fortsetzung der Religion mit anderen Mitteln, sondern vernunftgeleitete Aufklärung.“ Es klang wie eine Provokation, aber es knüpfte natürlich an die große Geschichte der Bibel und des Christentums an. Die ersten Christen haben ihre Diskussionen nicht mit den Vertretern des Jupitertempel geführt, nicht mit den Priestern des Mithras, sondern: mit den Philosophen, mit den Intellektuellen. Man wollte auf dem denkerischen Level der Zeit deutlich machen: Hier ist eine Wahrheit, die hell macht, die erleuchtet, die uns weiterbringt, die uns nach vorne bringt.
Wir haben in der biblischen Geschichte natürlich auch das, was Karl Marx „Protestation“ genannt hat, sozusagen den Prophetismus, das auch etwas Eigenwillige in der Bibel. Schauen wir die ersten Jahrhunderte der biblischen Geschichte des Volkes Israel an: Nach der Landnahme dreht sich die Diskussion um das Königtum. ‚Wir wollen sein‘, heißt es im Buch Samuel, ‚wie alle anderen Völker auch, gib uns einen König‘, sagen sie dem Propheten Samuel, und Gott resigniert im Gespräch mit dem Propheten und sagt: ‚Gib ihnen einen König. Aber sie haben mich abgesetzt. Sich einen eigenen König zu nehmen, das sei dann so wie alle anderen Völker sich gebärden, eine Klassengesellschaft zu werden, arm und reich gegeneinander zu stellen, Gräben aufzureißen.‘ Die Propheten stehen dagegen auf: ‚Ihr wolltet einen König, bitte ihr habt ihn, und ihr habt die Klassengesellschaft, ihr habt Militär, ihr habt das, wie alle anderen Völker auch. Da seht ihr, wo ihr hingekommen seid.‘ (vgl. 1 Samuel 8)
Nach dem Exil stellt sich dann die Frage: Wie sind wir eigentlich in dieses schreckliche Ereignis hineingekommen, wie konnte der Tempel zerstört werden, wie konnte der Tempel, der von Gott doch als seine Wohnstatt genommen wurde, zerstört werden? Und sie fragen: Wollten wir nicht anders leben? Wollten wir nicht etwas anderes darstellen? Was bedeutet es, diesen Bund zu leben? Es zeigt sich also eine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Das wird hier ganz deutlich: keine Legitimierung der politischen Macht, sondern eine Kritik der politischen Macht.
Es gab immer dieses Element der Differenz, des Unterschiedlichen, und natürlich auch den Versuch der Vereinnahmung, also der Funktionalisierung, von beiden Seiten. Eine besondere Herausforderung ist sicher der Monotheismus. Das ist nicht so einfach zu fassen, wie wir uns das früher vorgestellt haben im Religionsunterricht – „sie glauben an den einen Gott“. Das war ein langer Weg bis zum Monotheismus.
Es hat mich überrascht und erstaunt, dass die vier Bände von Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens“ (2016) mit dem Satz beginnen: „Am Anfang war ein Glaube: der Glaube an einen Gott“. Da wird man hellhörig und schaut hin. Winkler beginnt natürlich mit Echnaton, aber dann kommt schon die Geschichte von Mose. Mit dem Monotheismus entsteht etwas Neues. Wir sehen die Welt anders, nicht mehr beherrscht von Göttern, Dämonen, die man „kaufen“ kann, die man „bestechen“ kann, die man „benutzen“ kann. Sondern der Monotheismus hat in sich das Potential, Gott als den ganz anderen zu denken, nicht als Teil der Schöpfung. Ich muss das immer wieder auch den Gläubigen sagen: Gott ist kein Teil der Schöpfung. Er ist der Schöpfer, aber nicht Teil der Schöpfung. Und damit kommt etwas Exklusives auf, natürlich auch etwas, das – darauf hat der Ägyptologe Jan Assmann auch aufmerksam gemacht – auch zur Gewalt und Intoleranz führen kann. Assmann hat das später relativiert, und deutlich gemacht, dass der Exodus, der ja sozusagen ein Paradigma ist für die europäische Geschichte, ein Weg der Befreiung ist, das Schaffen eines neuen Bundes und dass dieses Befreiungshandeln ein wichtiger Teil des Monotheismus ist. Wir können, glaube ich, Religion und Kirche, ohne diese Geschichte nicht verstehen.
Der zweite Punkt betrifft das Verhältnis von Religion und Kirche zum „Westen“. Das bezieht sich nicht nur auf Westeuropa. Im Prinzip geht es um das Konzept einer offenen, modernen Gesellschaft, das natürlich geprägt ist von der Geschichte Europas. Von daher sind die Ideen gekommen, sie sind nicht er¬funden von Europa, aber sie sind gefunden worden. Ob sie immer in rechter Weise vertreten wurden in der Welt, wollen wir einmal dahinstehen lassen. Es ist hier aber etwas aufgebrochen, was ohne den christlichen Glauben, ohne die Religion und ohne den Monotheismus nicht denkbar gewesen wäre. Ohne die klare Trennung von Schöpfer und Geschöpf, ohne die Freisetzung des Menschen in die Schöpfung hinein, wäre es nicht denkbar. Manchmal frage ich mich: Kann man sich den Westen, die Demokratie und die Zukunft der Demokratie ohne Religion vorstellen? Hat Demokratie überhaupt etwas mit Religion zu tun? Auf jeden Fall setzt Demokratie, wie immer wir sie verstehen, wie immer wir sie entfalten in kulturellen Unterschiedlichkeiten, ein paar klare Punkte voraus: Alle Menschen sind gleich; Männer und Frauen agieren auf Augenhöhe miteinander; es gibt die Freiheit der Religion und der Meinungsäußerung; es gibt einen unabhängigen Rechtsstaat. Und vielleicht noch einige andere Punkte, etwa die Achtung der Menschenrechte, in deren Kern es um die Freiheit, um verantwortliche Freiheit geht.
Aber: Das ist ein Glaube, eine Überzeugung, das ist kein Wissen. Dass alle Menschen gleich sind – müssen wir glauben, das können wir nicht wissen. Dass alle Menschen oder möglichst viele Menschen in der Lage sind, Gut und Böse auseinanderzuhalten, Falsch und Richtig – ist eine Grundvoraussetzung der Demokratie. Wenn das negiert wird, muss der Rechtsstaat Grenzen setzen. Aber niemand kann doch glauben, dass nur die Gesetze allein eine Demokratie herstellen, sondern das, was an Überschuss da ist, dass viele Menschen da sind, die sich engagieren und wissen, was Gut und Böse ist und was Richtig und Falsch ist. Dass dies so ist, dass Menschen so sind, glauben wir. Das ist die Zuversicht der Christen, die Zuversicht der gläubigen Menschen, die an einen Gott glauben, der Menschen so geschaffen hat und uns grundsätzlich den Raum ermöglicht, in Freiheit Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört, den Anderen als Anderen zu respektieren. Ob Schwarz oder ob Weiß, ob Flüchtling, ob homosexuell, heterosexuell, Mann, Frau, alt, jung: Wir sind Menschen.
Ich will das nur noch einmal betonen. Paul Kirchhof hat kürzlich in einem Artikel noch einmal deutlich gemacht, dass wir das unterschätzen. Manche denken, es gehe auch ohne Religion. Man muss den Ort der Religion in der Gesellschaft bestimmen. Aber die Kirche hat einen Beitrag zu leisten in der modernen Gesellschaft. Der Ort kann aber nur dort sein, wo diese Werte verteidigt und nicht mit Füßen getreten werden.
Papst Franziskus hat bei seinem aktuellen Besuch in der Mongolei gesagt, niemand brauche Angst zu haben vor der Kirche. Er meinte natürlich nicht die Mongolei, aber China, die Nachbarn, haben schon genauer hingehört, und konnten vielleicht etwas heraushören. Denn er hat dazu gesagt: Die Kirche hat keine politische Agenda. Und da würde ich sagen, das hat sie doch.
Ich kann mich gut erinnern – das als kleine Anekdote am Rande -, als mich in Trier eine Delegation aus Nordkorea besuchte, vermittelt durch Misereor, die Projekte in Nordkorea durchführen wollten. Und natürlich wollte die Delegation das Karl-Marx-Haus in Trier besuchen, der ja aus Trier stammt. Und Misereor hatte ihnen auch einen Besuch des Bischofs von Trier vorgeschlagen, der auch Marx heißt. Bei diesem Besuch haben wir viel diskutiert. Nachher sagten die Delegationsbegleiter von Misereor und auch aus der Politik, so scharf sei bisher noch nie gegengehalten worden. In all den Gesprächen zuvor – ob bei BMW, bei Audi oder bei anderen Business-Terminen – sei das viel zahmer gewesen. Ja, natürlich: weil die keine Bedrohung sind. Aber das Evangelium ist eine Bedrohung, ja, es ist eine Bedrohung für die, die meinen, die Menschenrechte und die Schwachen und die Armen mit Füßen treten zu können. Eine solche Bedrohung wirkt langfristig, nicht sofort. Die Nordkoreaner haben das besser verstanden als manche von den Begleitern. Nicht in dem Sinn, als müsste man Angst haben, dass mit Gewalt eine Revolution ausgerufen wird, aber dass Gedanken aufkommen können, die sich auf Dauer nicht mit Unfreiheit vertragen. Und manchmal sehen es die „Feinde“ der Religion dann deutlicher.
Aber zurück zur abendländischen Geschichte, der Geschichte des Westens, des lateinischen Westens: In den aktuellen Diskussionen um die Ukraine spüren wir ganz deutlich einen Einschnitt durch die „päpstliche Revolution“, wie wir sie nennen. Philippe Nemo, ein französischer Philosoph, schreibt in seinem Buch „Was ist der Westen?“ (2005) auch über die päpstliche Revolution als einem ersten Einschnitt in der Religions- und auch in der Geistesgeschichte. Der Papst und damit die Institution Kirche sagt, dass der Staat Grenzen hat: Der Staat ist nicht zuständig für das Heil der Menschen, für die Utopie, für den Himmel, für das vollkommen ewige Leben. Das ist unsere Sache, die Sache der Kirche. Da ist deine Grenze, und wenn du sie nicht beachtest, wirst du exkommuniziert. Das passierte, wenn auch nicht immer erfolgreich, wie Sie wissen. Es gab jedenfalls dieses Spannungsverhältnis. Diese „päpstliche Revolution“ – davon sind Säkularhistoriker überzeugt ist ein Einschnitt, der natürlich den abendländischen Westen, den lateinischen Westen, und da schließe ich die Protestanten mit ein, sehr prägte: die Trennung von Kirche und Staat. Nicht eine absolute Trennung aller Beziehungen zwischen Kirche und Staat, aber eine klare Relativierung der staatlichen Macht. Diese Macht hat sich auf die irdischen Dinge zu begrenzen. Deswegen müssen wir immer vorsichtig sein, wenn in Abkehr von diesem westlichen, offenen Modell Staaten entstehen, die Ideologien vertreten vom Heil für alle, vom Glück für alle, von der klassenlosen Gesellschaft. Das ist etwas, was über das Ziel hinausschießt. Ein Beispiel hierfür ist Russland.
Ich habe gerade ein interessantes Buch gelesen von Giuliano da Empoli: „Der Magier im Kreml“ (2023). Es handelt sich um einen fiktiven, aber empfehlenswerten Blick auf Russland, auch auf die Situation der letzten 20 Jahre. Hier sieht man die Gefahr, ein Land mit einer Mission zu vertreten, die weit über das praktische Arbeiten an einer je besseren Welt hinausgeht, eine heilige Mission für die ganze Welt. Russland wird als Land gesehen, das eine heilige Pflicht hat. Man will der ganzen Welt diese Botschaft, möglicherweise mit Gewalt, aufdrängen. Manchmal gibt es Vergleichbares bei den Amerikanern, wenn sie von „God‘s Own Country“ sprechen und meinen, wir müssen jetzt mit unseren Ideen alle erreichen. Wir Europäer sind als eine moderne, offene Gesellschaft doch hoffentlich pragmatischer aus der päpstlichen Revolution hervorgegangen. Wir sind zufrieden, wenn wir die Welt ein bisschen besser verlassen, als wir sie betreten haben. Wir wollen Schritt für Schritt bessere Verhältnisse schaffen, aber: Es ist uns klar, dass das nicht vollkommen sein wird. Ich meine, dass das eine ganz wichtige Ausrichtung für die Politik ist, um sie nicht zu überladen mit Heilsversprechungen. Das gilt auch in den aktuellen Debatten.
Und ein weiterer Punkt: Die Religion im Westen, jedenfalls in unserem Land, war auch eine Quelle des Unfriedens. Manche vertreten die These, die moderne Gesellschaft sei erst aus den Religionskriegen hervorgegangen. Thomas Hobbes formulierte „sed auctoritas, non veritas facit legem“. – „Eine Autorität, nicht eine Wahrheit schafft ein Gesetz.“ Hobbes hat das eher autoritär verstanden, also nicht auf Wahrheit hin. Aber man konnte es auch in anderem Sinne verstehen und kritisch fragen, wie kommt diese Autorität zustande. Sicher durch Verträge, durch Vertragsabschlüsse usw., aber was ist mit der Wahrheit? Wahrheitsfragen sollten doch bitte nicht gesellschaftlich diskutiert werden. Deswegen ist das auch ein wichtiger Punkt der modernen Gesellschaft, der vielleicht gegen die Kirche errungen ist, aber eben auch im Blick bleiben muss.
Es ist leider nicht vorbei, dass Religion benutzt wird. Wir wissen um das Trauma des Dreißigjährigen Krieges. Manche Historiker sagen, das sitzt den Deutschen so in den Knochen, dass sie die Konsensgesellschaft ersehnen, nach diesen Jahren der Selbstzerfleischung eines Landes im Zeichen der Religion. Es war nicht nur ein Religionskrieg, das wissen wir, aber er war es auch. Die Muttergottes von Altötting wurde mitgetragen, und umgekehrt hat Gustav Adolf auch die Überzeugung gehabt, dass die Reformation endgültig durchgesetzt wird. Das sind alles Erfahrungen, die dazu führen, dass wir versuchen, Religion in eine Toleranzgesellschaft einzubeziehen ohne die Wahrheitsfrage auszuklammern.
Wenn wir heute etwa an Patriarch Kyrill I. denken, dann sehen wir, dass Religion auch wieder benutzt wird. Das ist für mich erschreckend. Ich hätte noch vor 20 Jahren nicht gedacht, dass Religion wieder benutzt wird als Zeichen der Identität gegen andere, als Abgrenzung, als Polarisierung, mehr als je zuvor. Das gilt nicht nur für Kyrill I. und Putin. Das gibt es auch in den USA, das gibt es auch in unseren Kreisen. Wir haben die Versuchung, Religion wieder als politisches Instrument zu benutzen. Das ist etwas, das mir zutiefst Sorgen bereitet.
Paul Kirchhof hat einmal von der „Achillesferse der modernen und offenen Gesellschaft“ gesprochen. Ich habe es eben schon angedeutet: Die Achillesferse der modernen Gesellschaft ist die verantwortliche Freiheit. Die moderne Gesellschaft, die offene Gesellschaft, die niemandem vorschreiben will, welche Religion er hat, welche sexuelle Orientierung er oder sie hat, welche Wahl im politischen Feld getroffen wird, setzt voraus, dass Menschen in Freiheit handeln wollen. Sie setzt Bildung und Beteiligungsbereitschaft voraus.
Der entscheidende Punkt für die Zukunft ist das Ringen um die Demokratie. Untersuchungen zeigen, dass weltweit gesehen Demokratien abnehmen; es gibt eher eine Tendenz hin zu autoritären Regimen. Und selbst in Europa, etwa in Ungarn, spricht man nicht von der Zukunft der offenen Gesellschaft, sondern der illiberalen Demokratie. Das ist vor unserer Haustür. Das ist mein Thema, denn ich muss fragen, wo die Kirche zu stehen hat. Sie muss natürlich – für mich ist das selbstverständlich – auf der Seite der verantwortlichen Freiheit stehen und nicht auf der Seite der autoritären Regime, die Religion für ihre Zwecke zu benutzen versuchen. Deswegen haben Demokratie und Religion durchaus etwas miteinander zu tun. Es geht hier nicht nur um die Zukunft der Religion, es geht auch um die Zukunft der Demokratie und der offenen Gesellschaft, die nicht beliebig sein darf, die Werte haben muss, die Menschen voraussetzt, die sich engagieren und die deswegen auch Gemeinschaften braucht, die das tragen.
Wie sieht die Zukunft der modernen Welt aus, der westlich geprägten, der christlich geprägten Welt? Können wir uns diese Welt ohne Christentum vorstellen? Mir fällt es schwer, mir vorzustellen, dass Religion verschwindet. Was tritt an die Stelle? Ich weiß es nicht. Und das ist die Herausforderung für die Kirche. Wir wollen ja nicht wieder das Spiel betreiben, die moderne Gesellschaft habe die Kirche vergessen. Die Kirche kann auch nicht ohne die Gemeinschaft der Gläubigen, aber die Kirche, auch die katholische Kirche, kann ja nicht ohne den Einfluss der modernen Welt existieren. Sie muss sich ändern. Es ist ein Wechselverhältnis. Die Idee der verantwortlichen Freiheit gilt auch für die Kirche selbst. Wenn sie den Anschluss verliert oder gar nicht begreift, wie sie – in einer kirchlichen Weise – im Licht des Evangeliums das Konzept der verantwortlichen Freiheit selbst leben kann, dann wird sie den Kontakt verlieren und ihren Einfluss und ihren Ort. Dies gilt erst recht in einer modernen Gesellschaft. Dann wird es ein Restbestand, eine soziokulturelle Endmoräne, die man bestaunt wie ein Museum. Dann wird niemand den Eindruck haben, das ist die Institution der Zukunft, nicht der Vergangenheit. In der Vergangenheit stecken Motive vielleicht auch für die Zukunft; diese müssen wir herausarbeiten.
Die Privatisierung des Religiösen ist nicht der richtige Weg. Auch die weltanschauliche Neutralität im Sinne eines platten Laizismus ist für eine moderne Gesellschaft nicht geeignet. Auch soll es keinen neuen Weltanschauungsstaat geben. Ein konstruktives Miteinander von Religion und Gesellschaft ist wichtig. Aber die Religionen müssen sich auch in eine Diskussion hineinbegeben und nicht einfach nur ihren eigenen, selbstbezogenen Kurs fahren. Kein Weg ist sicher, auch nicht die Instrumentalisierung der Religion als Zivilreligion, Religion als Dekoration, politische und kulturelle Legitimierung, als schöner Brauch, der aber nichts mehr bewegt, sondern den man nur mehr anstaunt und vielleicht noch als Kindheitserinnerung mitnimmt.
Deswegen wird auch in Zukunft, wenn Religion lebendig und kraftvoll sein will, ein gewisser Dualismus da sein. Es geht hier nicht um Anpassung an den Zeitgeist, sondern darum, die Zeichen der Zeit aufzunehmen im Licht des Evangeliums (vgl. Lumen Gentium 1), und die Religion in einer modernen Gesellschaft als eine Kraftquelle zu sehen, auch als Widerspruch, als Anregung, als Kontrast. Es gilt aber auch, die Freiheit in Verantwortung zu leben, weil dies das christliche Menschenbild ist.
Man könnte vielleicht auch einen Blick auf die Kultur werfen; da ist es sehr ähnlich. Wir haben in der Pandemie die Diskussion geführt, was systemrelevant ist. Bei uns waren alle ein bisschen erstaunt, dass Religion auf einmal als nicht systemrelevant beschrieben wurde. Ich fand es gar nicht so schlimm. Denn die Frage ist, was man unter systemrelevant versteht. Aber einige haben dann in der Diskussion bemerkt, dass doch etwas fehlt. Das ist bei der Kultur ähnlich gewesen. Ein italienischer Theologe hat das einmal so formuliert „la necessità dell’inutile“, die Notwendigkeit des Nutzlosen, also dessen, was ich nicht verwerten, nicht berechnen, nicht bilanzieren, nicht kaufen und verkaufen kann. Was ist, wenn der Sonntag wegfällt? Das stärkste Symbol der westlichen Welt ist der Sonntag. Damit erklären wir den Menschen: Du bist nicht homo oeconomicus, und wir beurteilen die Welt nicht nach Kaufen und Verkaufen. Es geht nicht um reines Nutzendenken. Wir empfinden diese Notwendigkeit des Nutzlosen. Kultur gehört dazu, aber auch Religion gehört zur Notwendigkeit des Nutzlosen.
Schauen wir jetzt einmal konkreter auf die Kirche: Wie sind das Selbstverständnis und die Krise gerade der katholischen Variante des Christentums? Wie steht es um die katholische Kirche in einer freien und offenen Gesellschaft? Manche haben den Eindruck, die katholische Kirche tue sich besonders schwer mit der Moderne. Ja, das ist richtig, und das könnten wir jetzt noch bis zurück zu Pius IX. behandeln, wie er es im „Syllabus Errorum“ (1864), in seiner Ansammlung der Irrtümer, festgehalten hat, sinngemäß: „Wenn jemand behauptet, dieser römische Heilige Stuhl solle sich mit der modernen Welt versöhnen, verflucht sei er.“ Allerdings muss man auch dies im Kontext sehen: Es ging um den Liberalismus und es gab eine antiklerikale Bewegung. Die Möglichkeiten, dass Moderne und Christentums sich trafen, waren begrenzt; wenn man sich vorstellt, dass auf dem Altar von Notre-Dame eine nackte Frau als Göttin der Vernunft verehrt wurde – darüber war der Klerus nicht gerade begeistert. Hier konnten keine großen Dialogforen entstehen. Aber es hätte anders kommen können. Die Phasen davor waren anders. Es gab die Aufklärung, auch die katholische Aufklärung. Ich will das hier nicht vertiefen, sondern nur fragen: Was lernen wir daraus für das Kirche sein in einer offenen Gesellschaft, in einer modernen, pluralen, toleranten Gesellschaft?
Ich glaube, notwendig ist eine „Aufklärung der Aufklärung“. Eine Wissenschaft, die meint, Glaube habe nichts zu tun mit der Erklärung und Verständigung der Menschen untereinander, hat eine verkürzte Sicht. Habermas hat das in seinem Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ deutlich gemacht. Die Frage nach dem Glauben und nach Gott ist nicht sinnlos. Sich nur zurückzuziehen auf technische Erfindungen, empirische Daten und Bilanzen, ist nicht genug. So verstehen wir den Menschen nicht und auch nicht die verantwortliche Freiheit. Glaube und Vernunft sind aufeinander bezogen. Und deswegen brauchen wir, auch für die Kirche, ein Leben, ein Zeugnis für die Wahrheit.
Papst Benedikt XVI. hat einmal gesagt, nicht wir haben die Wahrheit, sondern „die Wahrheit hat uns, sie ist etwas Lebendiges“. Die Wahrheit sind nicht einzelne Sätze, sondern die Wahrheit ist Christus. Es gibt keine Möglichkeit, in Sätzen das Geheimnis Gottes auszusprechen. Das ist das Prinzip der Analogie: Jeder Satz über Gott, jedes Glaubensbekenntnis, jeder liturgische Text ist dem Geheimnis Gottes unähnlicher als ähnlich. Das ist die Lehre der Kirche. Aber: Kommt das rüber, haben wir das nicht reduziert?
Es geht um ein Zeugnis für die Wahrheit, aber mit der Toleranz, andere Wahrheiten anzuerkennen, Anerkennung des Anderen als wirklich Anderem. Sonst kann eine moderne Gesellschaft nicht bestehen. In einer Gesellschaft, in der die eine Gruppe sagen will, wir haben die Wahrheit und wer uns nicht folgt, den müssen wir dazu zwingen, mit dem reden wir nicht …: Das kann es nicht sein.
Ein weiterer Punkt ist der Universalismus: Wir können nicht Kirche sein, ohne den universalen Blick auf alle Menschen zu richten. Das ist die okzidentale, die abendländische Spiritualität, mit den beiden Worten Bethlehem und Golgotha. Da ist in einer radikalen Weise zusammengefasst, was noch nie auf dieser Welt so ausgesprochen wurde: dass das absolute Geheimnis, das niemand erklären kann, das sich nur selbst erklären kann, in der Geschichte dieses Mannes aus Nazareth gezeigt hat, in welche Richtung wir zu gehen haben. Dass er, der Bruder aller Menschen ist und dass er das Leiden in den Blick nimmt.
Ein weiterer Punkt ist die Begrenzung der menschlichen Macht, so wie es auch Habermas einmal gesagt hat, dass nur die Religion die Differenz von Schöpfer und Geschöpf wahren kann (vgl. Habermas, Glaube und Wissen, 2001). Wir reden heutzutage über Künstliche Intelligenz, früher ging es eher um bioethische Fragen oder gentechnische Veränderungen: Wenn der Mensch Schöpfer des Anderen ist, dann ist die Demokratie am Ende. Dann ist es nicht mehr die Gleichheit aller Menschen, sondern dann sind einige die Geschöpfe der anderen. Das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf ist ein völliges anderes Verhältnis als etwa das zwischen Eltern und Kindern. Eltern sind nicht Schöpfer ihrer Kinder, sie haben sie gezeugt, sie durften am Heilswerk, am Schöpfungswerk Gottes teilnehmen. Deswegen ist es weiterhin auch für die Grenzen aller menschlichen Macht wichtig, dass die Stimme des Glaubens lebendig bleibt.
Noch ein weiterer Punkt ist der Blick auf die Kranken, die Schwachen, die „nicht-Nützlichen“. Dieser Blick wird ohne die Religion, so hat es Heinrich Böll einmal gesagt, schwächer. Und solange es einen gesellschaftlich anschlussfähigen Kult gibt, also einen Gottesdienst, der inmitten der modernen Gesellschaft (wie in einem religiösen Kunstwerk) das ganz Andere aufruft und benennt, ohne es zu ergreifen, ohne es zu benutzen, sondern die Stelle des „offenen Himmels“ deutlich macht, solange das anschlussfähig geschieht, geht es auch mit dem Gottesdienst und dem Glauben weiter. Und: Ist sich die moderne Gesellschaft nicht vielleicht sogar gewiss, dass ihr etwas ohne den „offenen Himmel“ fehlen würde? Und zwar nicht im Sinne „schön wär’s“, sondern so, dass Gesellschaft insgesamt nicht organisiert werden kann, ohne diesen Blick auch immer wieder zu wagen, weil dann etwas fehlt. Das meine ich, ist ein wichtiger Punkt.
Sie können natürlich einwenden: Aber die Religion verschwindet nun einmal. Ich frage mich: Sind die Kirchenaustritte schon ein Zeichen dafür? So einfach ist das, glaube ich, nicht. Wir erleben eine große Transformation. Für mich ist klar, dass die Stimme der Religion und des Glaubens auch in einer zukünftigen Gesellschaft da sein wird. Diese Gesellschaft wird sich vielleicht verändern, so dass das auch nicht für alle erfreulich ist. Daher könnte es im Interesse aller sein, auch für die, die nicht glauben, auch für die, denen es schwerfällt, die suchende Menschen sind, was die meisten sind. Niemand ist 100%ig gläubig oder ungläubig. Vielleicht ist es doch gut, wenn diese Stelle da ist und dieser Ort da ist.
Dazu gehört aber, dass die Kirche ihre eigene Geschichte kritisch angeht und nicht etwas verschweigt. Von den negativen, dunklen Seiten war schon die Rede. Das gilt nicht nur für die vergangenen Jahrzehnte; sondern man muss insgesamt kritisch die eigene Geschichte anschauen und das, was nicht mehr wichtig ist, auch lassen können. Das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden, das will Papst Franziskus im Blick auf die synodale Kirche. Das soll gemeinsam geschehen. Synodale Kirche ist nicht dasselbe wie Demokratie, aber Demokratie ist ja auch kein Schimpfwort. Manchmal höre ich das so raus. Natürlich gibt es Verfahren, wie wir zur Einmütigkeit kommen, dass wir Geschichte aufnehmen, „diachrone und synchrone Communio“ haben wir das genannt. Dafür ist die Ämterstruktur wichtig. Die große Tradition besteht ja auch im Gemeinwesen. Es ist nicht so, dass es in anderen Bereichen völlig undenkbar wäre, auch eine Kontinuität mit bestimmten Quoren und Abstimmungen zu wahren. Aber synodal bedeutet eben, dass wir alle miteinbeziehen. Es wird eben nicht „der Zeitgeist“ propagiert, sondern es werden Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums gelesen (vgl. Lumen Gentium 1). Die Sozialgestalt der Kirche ist veränderlich. Die institutionelle Gestalt ist wichtig, natürlich das Bischofsamt, das Petrusamt, das Priesteramt; aber wie das gestaltet wird, da gibt es sehr, sehr viele Unterschiede. Deshalb ist es für mich wichtig, jetzt als Kirche zu beten und zu denken. Wir brauchen wissenschaftliche Theologie. Wir brauchen starke Erfahrung und Interpretationsrahmen, so hat es Hans Joas einmal in seinem Buch „Entstehung der Werte“ (1999) benannt. Denn wie entstehen Werte? Man braucht zwei Dinge, starke Erfahrung und Interpretationsrahmen. Interpretationsrahmen entstehen durch Reflexion, Unterricht, Bildung; aber man braucht immer auch die starken Erfahrungen, den großartigen Gottesdienst, die Nacht am Lagerfeuer mit Lesung der Heiligen Schrift. Man braucht das, und das können wir doch. Das muss zusammengehen, das brauchen wir für die Zukunft.
Die Theologie kann die Kirche nicht ersetzen, aber sie ist notwendige Beratung. So ähnlich wie die Politikwissenschaft die Regierung berät und nicht selbst die Regierung stellt. Zentral bleibt für mich, und damit schließe ich, nicht die Ethik steht an erster Stelle, sondern die Gottesfrage: Ob es auch weiterhin einen Sinn macht, das Wort „Gott“ auszusprechen und sich dann zu fragen, was verändert sich in meinem Leben, wenn dieses Wort da ist, wenn diese Wirklichkeit kommen könnte. Was heißt das eigentlich? Und das ist vielen unklar, selbst in der Kirche. Gott, den wir das absolute Geheimnis nennen – das ist ja nicht einfach wie ein Gegenstand in unseren Händen, als ob wir wüssten, was Gott redet, denkt, will….
Ich sage voraus: Eine Institution, die anderen sagen will, dass sie weiß, was Gott über jeden denkt, wird große Schwierigkeiten haben. Das heißt nicht, als wüssten wir nicht etwas und hätten keine Erfahrung, aber: Wir sind alle Suchende. Wir haben eine Erfahrung gemacht mit diesem Jesus aus Nazareth, und wir laden dazu ein, dass auch andere diese Erfahrung machen können. Aber die Erfahrung muss dann jeder selbst machen. Wir können dazu einladen. Und das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Ich habe vor einigen Jahren mit italienischen Seminaristen aus Mailand, die kurz vor der Priesterweihe standen, die Heilige Messe gefeiert und gesprochen. Sie fragten mich: Sie sind jetzt über 40 Jahre Priester, was ist in den 40 Jahren wichtig geworden? Dann habe ich etwas gezögert und gesagt: Das Geheimnis Gottes ist für mich größer und anziehender geworden, die Person Jesu attraktiver, faszinierender und die Kirche etwas weniger wichtig. Die Kirche ist nur ein Instrument, damit die Menschen dorthin finden. Man muss prüfen, ob sie dazu hilfreich oder hinderlich ist. Das ist ein ständiger Prozess und das, glaube ich, wird auch in Zukunft eine Aufgabe sein.
Was bedeutet es, wenn „das absolute Geheimnis“ ins Spiel kommt? Und was bedeutet es, wenn es fehlt? Ich glaube, das sollte die Kirche erfahrbar machen, öffentlich machen, im Gottesdienst und in der Rede. Das ist für mich Evangelisierung. Es geht nicht um „reconquista“ und Wiedereroberung verloren gegangenen Terrains. Als könnten wir sagen, es sei ja nur eine Frage der Mittel, der Instrumente, wie wir an die Leute „herankommen“. Wichtig ist, glaubwürdig Zeugnis in einer lebendigen Gemeinschaft zu sein und dazu einzuladen und vielleicht dafür zu sensibilisieren, es könnte etwas fehlen, wenn der „offene Himmel“ nicht mehr ab und zu sichtbar wird.
Deswegen: Sehen Sie auch mit ein wenig Wohlwollen auf diese Gemeinschaft, die unterwegs ist, die sich transformiert, die vor großen Herausforderungen steht und auch Ihre Hilfe braucht, Ihre tatkräftige Mitsuche, Ihre Fragen und Ihr Mitgehen. Das ist es, was der Kirche hilft, ihren Ort in der Gesellschaft zu finden.
Nein, die Religion verschwindet nicht, die Kirche verschwindet nicht. Aber sie verändert sich. Und die Gesellschaft verändert sich. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Aufgabe der Gemeinschaft der gläubigen Christinnen und Christen ist, dieses Evangelium zu leben. Dies ist auch in Zukunft hilfreich, nicht nur für die Kirche, sondern für die ganze Gesellschaft, denn die Demokratie nimmt ohne diese kritischen Fragen Schaden.