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196. Zusammenkunft am 14. September 2023 Palazzo della Cancelleria in Rom

Sprecher des Collegiums

Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff

Vortrag in der Collegiumsrunde

S.E. Reinhard Kardinal Marx

Thema

„Der Ort der Religion in der modernen Gesellschaft“

196. Zusammenkunft am 14. September 2023 Palazzo della Cancelleria in Rom

Begrüßung
Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

bevor wir den Abend beginnen, möchte ich Sie auf das Wichtigste aufmerksam machen: in diesem Raum darf nicht fotografiert werden und vor allen Dingen, diejenigen die schon ihr Handy gezückt haben, stellen diese Bilder bitte nicht ins Netz.

Im Namen des ‚Kleinen Gremiums‘ darf ich Sie heute ganz herzlich im Palazzo della Cancelleria in Rom begrüßen. Ganz besonders begrüße ich Euer Eminenz Kardinal Marx, der extra nach Rom gereist ist, um heute den Festvortrag zu halten. Ich danke Ihnen sehr herzlich für diese Ehre, die Sie uns zuteilwerden lassen.

Die heutige Zusammenkunft ist in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich: Auch wenn das Bremer Tabak-Collegium schon viele Länder bereist hat, wie Österreich, Polen oder Lettland, so war das Bremer Tabak-Collegium doch noch nie in Rom. Es ist der erste Besuch südlich der Alpen.

Das Bremer Tabak-Collegium hat auch noch nie so weit entfernt von Bremen getagt. Immerhin liegt Bremen fast 1.300 km von Rom entfernt, und diejenigen, die die Speisen, das Mobiliar und das ganze Zubehör hierhergebracht haben, haben fast 1.700 km zurückgelegt. Auch im Hinblick auf die besonderen Herausforderungen bei der Organisation eines Tabak-Collegiums im Vatikan möchte ich mich ganz besonders bei Rebecca Kreuzgrabe und ihrem Team bedanken, die diese wahrlich heroische Aufgabe auf sich genommen und uns dieses besondere Erlebnis ermöglichen.

Eine weitere Besonderheit ist, dass diese Zusammenkunft auf vatikanischem Boden stattfindet. Auch wenn sich der Palazzo della Cancelleria außerhalb der Tore des Vatikans befindet, handelt es sich um eine Liegenschaft der Römischen Kurie, die zum Staatsgebiet des Vatikans gehört. Herr Andreas Huber wird uns später mehr berichten.

Da stellt sich natürlich die Frage, was uns veranlasst hat, diese Zusammenkunft in Rom abzuhalten. Neben der wunderschönen Stadt Rom, dem historischen Ambiente des Palazzo della Cancelleria und der Herausforderung dieses Vorhabens, haben Italien und insbesondere der Vatikan ein ganz besonderes Verhältnis zum Tabak und dessen Genuss gehabt.

I.

Dass es sich bei Italien um ein Land des Tabaks handelt, erfährt jeder Besucher des Landes, der früher oder später auf die typischen Tabakläden mit der Aufschrift „Tabacchi“ stößt, ein deutlicher Hinweis auf die tief verwurzelte Tradition in Italien.

Ursprünglich hießen dieses Läden Sali e Tabacchi: „Salze und Tabakwaren“. Beides waren früher überseeische Güter, für die der Staat ein Monopol hatte, und die daher nur in diesen staatlich kontrollierten Läden erhältlich waren. Die erste Tabaccheria entstand im 16. Jahrhundert in Rom und fand schon nach kurzer Zeit großen Anklang. So gab es Ende des 17. Jh. bereits mehr Tabakläden als Bäckereien und Wirtshäuser in der ewigen Stadt.

Und nach wie vor ist Italien ein Land, in dem hervorragende Raucherzeugnisse hergestellt werden. Den Rauchern unter Ihnen ist vielleicht die Toscano-Zigarre ein Begriff, die untrennbar mit dem italienischen Dolce Vita verbunden ist, genauso wie Espresso und Grappa. Guiseppe Garibaldi, Giacomo Puccini, Burt Lancaster oder Marcello Mastroianni bevorzugten diese vielfach noch komplett handgerollten Premium-Zigarre.

II.

Auf vatikanischem Boden stellt sich vor allem aber die Frage, welche Rolle der Tabak für die Päpste und die römische Kurie gespielt hat. Zwar konnte ich nicht feststellen, dass es südlich der Alpen die Tradition der Tabak-Collegien gab, wie in Nordeuropa und insbesondere am preußischen Hofe. Trotzdem spielte der Tabak im Vatikan eine bedeutende Rolle.

Nach Rom gelangte der Tabak durch den päpstlichen Nuntius in Lissabon, den Kardinal Prospero Publicola di Santa Croce, der Pius IV. Tabaksamen als Geschenk mitbrachte. Nach diesem Kardinal erhielt die Pflanze zunächst den Namen Erba Santa Croce (Kraut des heiligen Kreuzes). Für eine Reihe von Jahren verblieb das sonderbare Kraut in den Kräutergärten von Ordensleuten und diente ausschließlich als Heilmittel.

Nur wenige Jahre später sorgte ein anderer Purpurträger für einen weiteren Meilenstein in der Geschichte des Tabaks im Vatikan. Während eines Empfangs bei dem römischen Fürsten Virginio Orsini wurde Kardinal Cesario vom Hausherrn ein Gegenstand gezeigt, den der Adelige kurz zuvor in London erworben hatte. Das Objekt – unter dem Namen »Pfeife« bekannt – fand das Interesse des Geistlichen. Der Kardinal begeisterte sich so sehr für die Möglichkeit, den Tabak auf diese Weise zu genießen, dass er die Pfeife um das Jahr 1590 am päpstlichen Hof einführte – von dort aus fand sie Heimstatt und Verbreitung in Rom und im ganzen Herrschaftsgebiet des Papstes.

Trotz der starken Verbreitung des Pfeiferauchens besaßen zu damaliger Zeit auch Schnupftabak und die Zigarre eine große Popularität. Dieser gelangte aus Amerika nach Portugal, Spanien und Italien. In diesen Ländern zählten die Priester zu den stärksten Schnupfern. Das ständige Niesen in den Messen führte dazu, dass die Kirche erstmals ein Verbot des Tabakschnupfens erließ.

Papst Urban VIII., der mit großer Entrüstung wahrgenommen hatte, wie Laien und Geistliche während des Gottesdienstes das Tabaksgläschen gebrauchten, belegte 1624 die Schnupfer mit dem Kirchenbann. Als der Papst die Strafe der Exkommunikation nicht ausschloss, erntete er den Spott der Römer. An der Statue des Pasquino war zu lesen: »Gegen ein Blatt, das vom Winde fortgerissen wird, gehst du mit Macht vor, und einen dürren Halm verfolgst du«. Der Spruch gefiel dem Papst und er versprach dem Verfasser großzügig fünfhundert Scudi Belohnung. Pasquino antwortete: »Gib sie dem Hiob.« Die Worte waren nämlich dem Buch Hiob, Kapitel XIII, Vers 25, entnommen.

1650 verfügte Innozenz X. ein Rauch- und Schnupfverbot für Sankt Peter. Bei einem Hochamt in der Basilika hatte der Papst beobachtet, wie sich sogar hochstehende Mitglieder seines Hofstaates mehr an der Konsumierung des Tabaks erfreuten als an der feierlichen Liturgie.

Die Bestimmungen der Bulle zum Rauchverbot wurden insbesondere in Spanien durchgesetzt ‑ dort aber rigoros: In Santiago de Compostela mauerte man im Jahre 1692 fünf Mönche lebend ein, weil sie zur Nachtzeit auf dem Chor geraucht hatten.

Erst Benedikt XIII. hob im Jahre 1725 allen kirchlichen Bann auf, der auf den Tabakgenuss (oder vielmehr auf dessen Missbrauch) stand; er erlaubte zudem den Klerikern den Gebrauch von Tabak, ermahnte sie jedoch, »dabei keinen Anlass zum Ärgernis zu geben« und untersagte es, »die Tabakdose herumzureichen, während man im Chor sitzt und die Gebete verrichtet«.

Benedikt XIV., ein begeisterter Raucher und Schnupfer, schaffte am 1757 die Tabaksteuer ab. Von diesem Zeitpunkt an waren für einige Jahrzehnte die Aussaat, die Ernte und der Verkauf des Tabaks auch Privatleuten möglich.

Im Jahre 1779 erteilte Papst Pius VI. dem deutschen Kaufmann Peter Wendler – leider wissen wir nicht, ob es sich um einen Bremer Kaufmann handelte – die Konzession für eine Tabakmanufaktur in Rom; in ihr wickelte man die berühmten »bastoni di tabacco« (Tabakstäbe). Ein Jahr später verfasste Wendler eine vielbeachtete Anleitung für die Kultivierung des Tabaks im Kirchenstaat – die Istruzione per la coltivazione del Tabacco nello Stato Pontificio.

Auch in der Folge stand der Vatikan dem Tabakgenuss sehr wohlwollend gegenüber. 1851 erließ Kardinalstaatssekretär Giacomo Antonelli im Namen Pius’ IX. die Verordnung, den Tabakkonsum im Herrschaftsgebiet des Papstes nicht zu behindern und ein Jahr später wurde die »Regia del tabacco« gegründet, an der die päpstliche Regierung 65% der Aktienanteile hielt.

Die Vorliebe Pius’ IX. für den Schnupftabak war allerorts bekannt, ebenso die seines Nachfolgers Leo XIII. (Gioacchino Pecci). Die Leidenschaft des Pecci-Papstes für dieses Genussmittel wurde sogar in der Weltliteratur verewigt. In seinem Roman Rome berichtete Emile Zola, dass die Soutane, die der Papst trug, sich voll braunen Schmutzes zeigte, der längs der Knöpfe heruntergerieselt war; auf dem Schoße habe er ein großes Schnupftuch gehabt. Aus dieser Tradition heraus verwunderte es nicht, dass auch nachfolgende Päpste Schnupftabak zu sich nahmen, und Zigarre oder Zigarette rauchten.

Das änderte sich erst mit Papst Johannes Paul II. der als Nichtraucher galt. Er ging ziemlich rabiat gegen das Rauchen vor und verfügte am 1. Juli 2002 ein umfassendes Rauchverbot für den Kirchenstaat. Es gilt auch für vatikanische Dienstfahrzeuge und die exterritorialen Besitzungen des Heiligen Stuhls. Die Gendarmerie des Vatikans wurde damit beauftragt, die Einhaltung des Verbotes zu überwachen. Begründet wurde das Gesetz mit einem neuen Gesundheitsbewusstsein und der Vermeidung eines Suchtverhaltens. Papst Franziskus ging sogar noch einen Schritt weiter. Er verfügte, dass im Vatikan keine Zigaretten mehr verkauft werden dürfen. Da zuvor Zigaretten im Vatikanstaat zollfrei erworben werden konnten, verwundert es nicht, dass dieses Verbot nicht allseits auf Gegenliebe stieß.

Sie werden aber verstehen, dass wir unter diesen Bedingungen, nicht nur zum Schutz der historischen Fresken in den Räumen des heutigen Abends, sondern auch aus Respekt vor seiner Heiligkeit auf das Rauchen verzichten müssen, selbst wenn der Vatikan seine Regeln nicht mehr wie in Santiago die Compostela durch Einmauern der Sünder durchsetzen wird.

III.

Im Vordergrund der Tradition des Bremer Tabak-Collegiums steht aber schon seit einigen Jahren nicht mehr der Tabakkonsum. Die Zusammenkünfte des Bremer Tabak-Collegium knüpfen an die gesellschaftliche Bedeutung der Tabakskollegien am preußischen Hof an. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, das vertrauliche, aber liberale Gespräch über Themen des Zeitgeschehens zu führen – in dem Bewusstsein, damit der Pflege hanseatischer, insbesondere auch bremischer Kultur und Tradition zu dienen. Dazu begibt sich das Bremer Tabak-Collegium zwei Mal im Jahr auf die Reise und lädt Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft ein, um mit Ihnen in einen Gedankenaustausch zu treten, aber auch, um ihnen die hanseatische Kultur näher zu bringen.

Dass es den Bremern nicht auf verschwenderische Prunksucht ankommt, werden Sie beim Bremer Abendbrot sehen, zu dem wir uns nach dem alten Brauch des Löffeltrunkes begeben werden. Hierbei handelt es sich um eine Tradition, in der wir unsere Freundschaft zu unseren Gästen ausdrücken.

Sie haben bereits alle einen Zinnlöffel erhalten. Er ist aber nicht, wenn einige dies denken sollten, zur Einnahme des Abendessens gedacht. In Norddeutschland ist er ein Trinkgefäß. „Eenen ut’n Leepel“, einen aus dem Löffel trinken, so heißt es in Norddeutschland; und so wollen wir es auch heute hier halten.

Der Löffeltrunk will allerdings zelebriert sein, und dazu braucht man einen Partner, der eine gewisse Erfahrung mit dem Löffeltrunk hat. Darf ich Sie, lieber Herr Huber daher zu mir bitten, dass wir diese schwierige Zeremonie bewältigen.

Da man damals die rechte Hand immer wehrhaft bereithalten musste, nimmt man den Löffel in die linke Faust. Nachdem eingeschenkt ist, gibt es einen feierlichen Trinkspruch, wobei ich diejenigen die schon häufiger Gast des Tabak-Collegiums waren, bitte die Initiative zu ergreifen.

Herr Huber, wir fangen an:

Ick seh di (Ich sehe Dich)
Ick drink di to (Ich trinke Dir zu)
Dat freut mi (Das freut mich)
Dat do (Das tu)
– Prost! –
Ick heb di tosapen
(Ich hab` Dir zugetrunken)
Hest´n Rechten drapen
(Hast den Rechten getroffen)

196. Zusammenkunft am 14. September 2023 Palazzo della Cancelleria in Rom

 1. Tischrede
Andreas Huber                                                                                                           

Sehr verehrte Damen und Herren,
lieber Herr Kardinal,
lieber Herr Professor Mellinghoff,

als Teilnehmer mehrerer vergangener Tabakkollegien bin ich mir der Ehre bewusst, heute die Tischrede halten zu dürfen. Die Zeitvorgabe liegt bei acht Minuten. Angesichts der Bedeutung der Stadt und dieses Gebäudes muss ich nun entweder das Redetempo erhöhen oder vielleicht doch um eine Minute überziehen.
An meinem Idiom erkennen Sie, dass ich zwar von Bremen aus gesehen ein Südeuropäer bin – jedoch kein Italiener. Und so ist diese Tatsache allein schon ein Beispiel für die Vielschichtigkeit dieser Stadt, die meines Erachtens dieses besondere Flair ausmacht. Ein Bayer spricht in Rom an das Bremer Tabakkollegium. In der italienischen Hauptstadt werden aus Bremen mitgebrachte Wurst- und Käseplatten sowie später Krabbensuppe und Würstchen serviert. Damit umspannen wir einige tausend Kilometer Distanz und viele kulturelle Besonderheiten.
Sigmund Freud schreibt zu Beginn des 20. Jahrhunderts an die Daheimgebliebenen „In Rom lassen sich Vergangenheit und Gegenwart mit und nebeneinander wahrnehmen; Altes und Neues durchdringen sich, wechseln sich ab wie in der menschlichen Psyche Gegenwart, Vergessen, Erinnerung.“ Alles verschwimmt ineinander und erzeugt die Magie dieser Stadt.
Ich freue mich sehr, Sie in einen kleinen Aspekt der ewigen Stadt einzuführen zu dürfen. Ein Ort, der mich seit meiner Kindheit in den Bann gezogen hat, so wie viele andere vor mir.
Hanns-Josef Ortheil beschreibt diese Gefühle so:
„Ein Leben unter Heiligen und Heiden, ein Leben unter und über der Erde, ein Leben in einem Kosmos, in dem Tausende von Besuchern vor den großen Monumenten und auf den weiten Flächen der Stadt stehen, um ihre eigenen Geschichten zu alldem zu erfinden. Daher ist Rom auch die Stadt der Erzähler, der einheimischen wie der fremden…“ Soweit der deutsche Schriftsteller.
Rom, die Stadt der Erzähler, der Geschichte und Geschichten. Alles geht hier ineinander. Nicht immer sind historische Fakten von erfundenen Geschichten zu unterscheiden. Die Römer nehmen es mit einer besonderen Gelassenheit. „Se non è vero, è ben trovato“. Auch wenn es nicht wahr es, ist es gut erzählt.
Und so erzähle ich Ihnen die Geschichte dieses Palastes, der eng mit der Historie der Stadt verbunden und ein ganz besonderes Beispiel für die vielen Facetten Roms ist.
Eine Inschrift auf der dem Campo de‘ Fiori zugewandten Fassade markiert den Beginn.
„Marsfeld, wie schmutzig warst du, ungepflegt und voll stinkendem Abfall. Jetzt, unter der Herrschaft des Sixtus wirst du von diesem unwürdigen Anblick befreit und der ganze Platz ist bewundernswert. Rom schuldet Dank dem heilbringenden Fürsten.“
Die Gegend des antiken Marsfeldes war im Mittelalter geprägt von kleinen Häusern mit engen Gassen sowie einigen Burgen adeliger Bürger Roms. Mit der Ausrufung des Heiligen Jahres 1475 ordnete Papst Sixtus IV. die Renovierung einiger Stadtviertel an. Alte Häuser wurden niedergerissen, weite Plätze und große Straßen geschaffen sowie stadtbildprägenden Palazzi errichtet. In diesem Stadtviertel Parione waren dies vor allem die drei großen Paläste Spada, Farnese und Riario. Rom hatte während der Zeit des Exils der Päpste in Avignon und des abendländischen Schismas die Vormachtstellung in Italien verloren. Auch mit diesem städtebaulichen Statement sollte der Anspruch Roms als die geistige und kulturelle Hauptstadt gestärkt werden. Die im 15. Jahrhundert neu aufsteigende Klasse der Kardinäle spielte bei der städtebaulichen Erneuerung eine vorrangige Rolle. Ihren Reichtum verdankten sie unter anderem dem Handel mit Ablässen, Privilegien und begehrter Posten.
Der Palazzo Riario, in dem wir uns heute befinden, ist eines der bedeutendsten und schönsten Beispiele. Mit seiner Fassade bezieht er sich auf die Antike. Er wurde ab 1485 in 29jähriger Bauzeit errichtet – damit relativieren sich Bauzeiten in heutiger Zeit, wie die 14 Jahre für den Flughafen Berlin oder die prognostizierte Bauzeit der Münchner S-Bahn-Stammstrecke von 18 Jahren. Der neue Palast ersetzt ein älteres Bauwerk, das bereits der Verwahrung der Heiligen Schriften der römischen Kurie gewidmet war. Hinter der größten Platzfassade, die das 15. Jahrhundert hervorgebracht hat, befindet sich neben den Wohn- und Kanzleiräumen auch die mehrfach umgebaute und vollständig integrierte Kirche S. Lorenzo in Damaso aus dem Jahr 380. Verkleidet wurde der Palast mit Travertin, das von der Ruine des Kolosseums genommen wurde.
Betritt man den Palast durch das Hauptportal, verlässt man Italien und befindet sich auf vatikanischem Staatsgebiet. Mit den Lateranverträgen von 1929 wurden einige Immobilien, wie diese, zu Besitzungen des Heiligen Stuhls, was wiederum den Status der völkerrechtlichen Exterritorialität mit sich brachte.
Im Donato Bramante zugeschriebenen Innenhof sind insbesondere die 44 Granitsäulen der unteren Stockwerke hervorzuheben. Hierbei handelt es sich um Spolien, die wahrscheinlich aus dem nahegelegenen Theater des Pompeius und den Thermen des Diokletian stammen. Zwischenzeitlich waren sie in der Kirche S. Lorenzo verbaut.
Die finanzielle Grundlage für den Bau war der Überlieferung nach der Gewinn bei beim Würfelspiel durch Raffaele Riario gegen den Sohn von Papst Innozenz VIII. Der fürsorgliche Vater legte Riario nahe, das Geld wieder zurückzuerstatten. Dieser antwortete jedoch, er habe das Geld bereits für Holz, Ziegel und Steine, die er für den Bau des Palastes benötige, ausgegeben.
Riario della Rovere wurde von seinem Großonkel, Papst Sixtus IV., sehr protegiert. Ihm wurden verschiedene wichtige Aufgaben, Ehrentitel und zahlreiche Bistümer übertragen. 1477 wurde er bereits im Alter von 17 Jahren zum Kardinal ernannt. Mit der Investitur in der Kirche San Lorenzo in Damaso erhielt er das Privileg der lebenslangen Nutzung des angrenzenden Palazzo. Er stieg auf bis zum Kardinaldekan – das höchste Amt der katholischen Kirche, nach dem Papst. Wenig später wurde Kardinal Riario verdächtigt, in eine Verschwörung gegen Papst Leo X. verwickelt zu sein. Er wurde verhaftet und zwei Monate in der Engelsburg gefangen gehalten. Durch die Fürsprache des reichen Bankiers Agostini Chigi wurde Riario unter der Auflage der Zahlung einer beträchtlichen Summe, die fast der Bausumme entsprach, und der Übereignung seines Palastes an die Päpstliche Kammer freigelassen. Seither trägt der Palast den Namen „Palazzo della Cancelleria“.
Kardinal Riario war es aber auch, der eine vermeintlich antike Skulptur eines schlafenden Cupidos als Fälschung erkannte und den brillanten Bildhauer der genialen Kopie nach Rom holte – Michelangelo. Dieser besuchte einige Jahre später den Saal, in dem wir uns im Anschluss befinden werden, kurz nach seiner Fertigstellung. Als der Künstler Girogio Vasari erklärte, er habe den Saal in 100 Tagen ausgemalt, äußerte sich Michelangelo ironisch mit den Worten „si vede bene“ – danach sieht es aus. Kardinal Alessandro Farnese hatte 1546 den Künstler Vasari beauftragt, den Saal mit Darstellungen zur Verherrlichung der Taten seines Großvaters, Papst Paul III., auszumalen. Nach der Inschrift an der Stirnwand drängte Kardinal Farnese den Künstler so sehr, dass dieser das Bildwerk am 100. Tag vollendet habe. Seither trägt dieser Saal den Namen „Sala dei Cento Giorni“. Die schnelle Ausführung der Fresken gelang, durch die vom Maler Raffael entwickelte, neuzeitlich anmutende, stark arbeitsteilige Vorgehensweise mit vielen Gehilfen. Selbstkritisch berichtet Vasari in seiner Autobiographie, dass es besser gewesen wäre, 100 Monate dafür gebraucht, aber dafür vieles selbst ausgeführt zu haben.
Der zweite große Raum im Piano Nobile, in dem wir uns jetzt befinden, wird als die Sala Riaria oder Aula Magna bezeichnet. Er wurde 1718 auf die Veranlassung von Papst Clemens XI. verziert. Der Bilderzyklus zeigt Themen, die dessen Pontifikat verherrlichen.
Der Palast war im Verlauf der Jahrhunderte Zeuge vieler Ereignisse. Der Überlieferung nach flüchtete Kardinal Andrea Matteo Colonna während des Überfalls der Söldner Karls V. über den Kamin aus dem Palazzo. Der Palast brannte ab und das Archiv ging verloren. Der Palazzo war Zeuge prächtiger Feste und Bankette und sah eine Elite von Künstlern und Musikern – insbesondere in der Zeit des Barocks im heute nicht mehr existierenden „Theater Ottoboni“. Der Komponist Händel ging hier ein und aus. Hier in diesem Raum wurde zum ersten Mal ein „Concerto Grosso“ mit 150 Streichern und 3 Solisten aufgeführt. Der Palazzo war während der Besetzung durch Napoleon Sitz des Kaiserlichen Gerichtshofs und seine Truppen nutzten die Kirche als Pferdestall. Während der anfänglich demokratischen Verwaltung unter Papst Pius IX. war der Palast Sitz des Parlaments. Am 20. September 1870 endete der Kirchenstaat mit dem Einmarsch der italienischen Truppen. Der Palast selbst blieb jedoch bis heute Sitz des Vizekanzlers bzw. des Kanzlers der Römischen Kurie.
Seit 1967 sind hier in diesem Gebäude die drei obersten Gerichtshöfe der katholischen Kirche untergebracht. Es sind die Apostolische Pönitentiarie, zuständig unter anderem für Absolutionen und Dispense, die Sacra Rota Romana als höchster Zivil- und Strafgerichtshof der Kirche sowie der Oberste Gerichtshof der Apostolischen Signatur, die höchste Gerichtsinstanz der Römischen Kurie. Der derzeitige Titular der Kirche San Lorenzo in Damaso ist der emeritierte Erzbischof von Madrid, Kardinal Antonio Varela. Er hat in München Kirchenrecht studiert und in der Pfarrei St. Rafael gewirkt. Daher trägt er das Münchner Kindl in seinem Kardinalswappen, welches das Eingangsportal der Kirche ziert.
Alles steht mit- und nebeneinander, geht ineinander und erzeugt die Faszination dieser Stadt.
Und heute sind wir alle gemeinsam hier zur 196. Zusammenkunft des Bremer Tabakkollegiums. Bei Bremer Spezialitäten in einem Palast mitten in Rom – was bereits in der Vorbereitung bei den Einheimischen durchaus für staunenden Gesprächsstoff gesorgt hat – wird dieses Treffen sicher nicht nur einen besonderen Platz in der Chronik des Tabakkollegiums einnehmen. Es ist jetzt auch schon Teil der Erzählungen über den Palazzo. Und wer weiß, welche Geschichten um dieses Treffen in den nächsten Jahrzehnten noch erfunden werden – von einheimischen und fremden Erzählern auf dem weiten Platz vor dem Palazzo della Cancelleria.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

196. Zusammenkunft am 14. September 2023 Palazzo della Cancelleria in Rom

2. Tischrede
Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

zur Tradition beim Bremer Tabak-Collegium gehört es, dass der Sprecher des Abends einen Bezug zwischen dem Ort der Zusammenkunft und der Freien Hansestadt Bremen herstellt.

I.

Die Tatsache, dass Bremen in der Vergangenheit wirtschaftlich fast ausschließlich nach Skandinavien, Westeuropa und Übersee einerseits, nach dem deutschen Binnenlande andererseits orientiert war, erklärt das Fehlen von wesentlichen wirtschaftlichen Beziehungen Bremens zu Italien, Rom oder gar dem Vatikan. Dennoch sind wichtige Berührungspunkte zu verzeichnen.

  1. Ganz besonders in der Frühgeschichte Bremens bestanden enge Beziehungen zum Vatikan, denn die Stadt war ein Brückenkopf der christlich-römischen Mission für Skandinavien und die Missionserzbischöfe unterstanden direkt dem Papst.

Der erste Missionar in Bremen war Bischof Willehald. Aber erst Bischof Ansgar, Missionserzbischof für den Bereich Skandinavien, legte den Grundstein für das Erzbistum in Bremen im 9. Jahrhundert. Damals unterstand das Bistum Bremen dem Erzbischof in Köln und das Bistum Hamburg dem Erzbischof von Mainz, während der Missionserzbischof direkt dem Papst unterstand. Dies führte zu Streitigkeiten zwischen den Bistümern Hamburg und Bremen, aus denen natürlich Bremen als Sieger hervorging. Papst Nikolaus I. (856- 867) vereinigte das Erzbistum Hamburg-Bremen und Papst Sergius III. bestätigte als Sitz des Erzbistums Bremen. Hamburg musste sich geschlagen geben.

Bremen blieb zunächst ein Brückenkopf der christlich-römischen Mission in Skandinavien. Es waren daher die Erzbischöfe von Bremen, die zwischen Rom und den Völkern des Nordens den christlichen Glauben vermittelten.

Ihr folgte die wohl bedeutendste Zeit Bremens als geistliches Zentrum und die mächtige Rolle der Bremer Erzbischöfe im Reichskirchensystem des 10. bis 11. Jahrhunderts. Diese waren zwar immer treue Gefolgsleute der römischen Kirche, aber nicht immer treue Parteigänger der römischen Päpste. Als Geschöpfe des Kaisers standen sie ihrem weltlichen Herrn gelegentlich durchaus näher als dem Heiligen Vater.

Ihre regelmäßigen Romzüge galten mehr der Reichsheerfahrt – der expeditio Romana – als der Vertiefung der Beziehungen mit dem heiligen Stuhl. Dass der Bremer Erzbischof hier im Vatikan hoch angesehen war, zeigt das legendäre Privilegium Ottonianum, auch heute noch ein Prunkstück des vatikanischen Archivs aus Gold und Purpur. Unter den dort aufgeführten Zeugen wird als erster und wichtigster der Bremer Erzbischof genannt.

So eng und vertrauensvoll war die Stellung des Bremer Metropoliten zum Kaiser, dass er 964 von einem erneuten Romzug – also der Eroberung der Stadt – nicht nur die vollständigen Körper von sieben (!) Heiligen, darunter der hl. Corona, nach Bremen mitbrachte, sondern auch einen veritablen Papst. Von dem durch Otto I. abgesetzten Benedikt V., als römische Pretiose ins nasskalte Bistum Bremen verpflanzt, hört man später nicht mehr viel. Seiner römischen Würde entkleidet verliert sich seine unglückliche Spur im Nebel zwischen Hamburg und Bremen – sein Grab kennt niemand.

Wen mag es da wundern, dass später sogar einem Bremer Erzbischof die päpstliche Würde angeboten wurde. Doch Erzbischof Adalbert von Bremen schlug das Angebot Heinrichs III. aus und blieb lieber Bremer Erzbischof – eine kluge Wahl, denn Rom war damals eine Schlangengrube, in der Päpste nicht alt wurden.

Die guten Verbindungen zum Vatikan steigerten das Selbstbewusstsein der Bremer ungemein. So sehr, dass die parvula Brema, das kleine Bremen, um 1070 gerühmt wurde, ein zweites Rom, ja das Rom des Nordens zu sein!

Auch die Bürgermeister der selbstbewusst gewordenen Hansestadt Bremen waren dem Glanz und der Romnähe des Bremer Erzstuhls sehr verbunden. Das ist der Grund dafür, dass seit dem 14. Jahrhundert und bis heute der Schlüssel Petri stolz im Bremer Stadt- und Landeswappen steht und damit Bremen, Rom und den Heiligen Stuhl symbolisch verbindet.

  1. Im 12. Jahrhundert endet dann aber leider die Glanz- und Blütezeit der Verbindung zwischen Rom und der Freien Hansestadt Bremen. Der Vatikan wollte mit der Einrichtung des Erzbistums Lund mit den Völkern des Nordens lieber direkt als durch Bremer Vermittlung in Verbindung treten. Die Bremer Kleriker mussten fortan in Rom kleinere Brötchen backen.

Hinzu kamen erhebliche finanzielle Auswirkungen durch den Ablasshandel. Der päpstliche Legat Raimund Peraudi verkaufte zum Beispiel 1503 in Bremen so erfolgreich Ablassbriefe, dass die Volksmenge den Dom zu stürmen drohte. Der anschließende Kassensturz war gewaltig. Als der römische Legat mit einem großen Vermögen aus Bremen nach Rom zog, vertraute der Bremer Bürgermeister Daniel von Büren seinem Tagebuch den tiefen Groll über die Verluste aus dem Ablasshandel an.

Der Stachel und die Verbitterung über diese finanziellen Verluste saß sehr tief und führte für mehrere Jahrhunderte zu einer großen Entfremdung zwischen Bremen und dem Vatikan. In den 1520er Jahren wandten sich die Bremer Ratsherren der Reformation zu und versuchten, den katholischen Glauben zu unterbinden. Dies ging so weit, dass die Katholiken in Bremen bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine Bürgerrechte erhielten.

II.

Erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts erlangen die Katholiken in Bremen wieder die Religionsfreiheit und seither hat sich die katholische Gemeinde in Bremen allmählich erholt.

Aufmerksam wurde man im Vatikan auf die Bremer erst wieder, als der Bremer Anwalt Dr. Albrecht Schackow, früher ein häufiger Sprecher auf den Zusammenkünften des Bremer Tabak-Collegiums, einen Prozess gegen den Papst führte. Mit Hilfe von Thomas Brinkmann konnten wir folgende Geschichte rekonstruieren.

Der 1929 verstorbene Prinz Heinrich von Preußen, Großadmiral der vormaligen kaiserlichen Marine und Namensgeber der berühmten Prinz-Heinrich-Mütze, hatte testamentarisch verfügt, ein Betrag möge dem Vatikan zukommen, damit eines der fünf Portale im Portikus von St. Peter nach Jahrhunderten unverzierten Daseins endlich mit einem angemessenen Relief ausgestattet werden könne. Da solche Arbeiten aufwendig sind, muss es sich um einen höheren Betrag gehandelt haben. Offenbar war seinerzeit überhaupt nur das mittlere der Portale aus alter Zeit verziert.

Um seinem testamentarischen Willen Nachdruck zu verleihen, versah Prinz Heinrich sein Vermächtnis allerdings mit der Auflage, dieses Vorhaben in angemessener Frist umzusetzen. Sollte die Frist verstreichen, würde der Betrag dem Deutschen Schulschiff-Verein in Bremen verfallen.

In den folgenden Jahren verfloss die Zeit, ohne dass die Reliefs für das Portal von St. Peter erschaffen wurden. Der Deutsche Schulschiff-Verein beauftragte daraufhin Rechtsanwalt Dr. Albrecht Schackow, das von Prinz Heinrich ausgelobte Vermächtnis einzuziehen. Dr. Schackow verklagte daraufhin den Vatikan, um Prinz Heinrichs letzten Willen im Interesse der Ausbildung junger deutscher Seeleute umzusetzen. Der Vatikan berief sich darauf, dass der 2. Weltkrieg die Schaffung des Werkes für St. Peter verhindert habe. Aus den Streitigkeiten vor Gericht ging allerdings keine Partei als Sieger hervor. Weise wurde vielmehr ein Vergleich geschlossen, der beiden Interessen diente. Dieser Streit, der in Bremen natürlich viel Aufmerksamkeit erweckte, ging als Prozess von Dr. Schackow gegen den Papst in die Erinnerung ein. Zugleich treffen wir heutzutage alle Portale von St. Peter reich verziert an.

III.

Bremen hat damit eine sehr wechselvolle Beziehung zum Vatikan, die von starken Verbindungen zum Heiligen Stuhl in der Frühzeit, über eine Verfolgung in Zeiten der Reformation bis zur heutigen Situation führt, in der etwa 9 Prozent der Bevölkerung Bremens dem katholischen Glauben angehören. Zusammen mit den evangelischen Christen gehören heute noch etwa 50 % der Bremer Bevölkerung einer christlichen Kirche an.

Trotzdem steht auch in Bremen die Kirche vor großen Herausforderungen. Allein im Jahr 2022 traten 1.600 Katholiken aus ihrer Kirche aus. Bundesweit verzeichnete die katholische Kirche mehr als eine halbe Million Austritte. Der Mitgliederschwund bei den Kirchen in Deutschland ist beispiellos. In den neuen Bundesländern leben heute bereits mehr Menschen ohne Religion und sagen von sich, dass sie keine religiösen Fragen haben und dass ihnen auch nichts fehlt. Der Religionssoziologe Detlef Pollack stellt dazu fest, dass man in bestimmten Milieus bereits beobachten kann, was ohne Christentum fehlt. Er erlebe in bestimmten Kreisen eine gedankenlose Unbarmherzigkeit, eine unverhüllte Zweckrationalität und eine ausgestellte Kulturlosigkeit.

Von daher ist es beunruhigend, dass wir nicht mehr über die Inhalte, über Sinn und über die Aufgabe der Kirche sprechen. Im Vordergrund der Diskussionen über die Kirche stehen heute immer noch die gravierenden Verfehlungen durch die Missbrauchsfälle in den Kirchen. Das zumindest ungeschickte Verhalten in einzelnen Diözesen beherrscht die Meldungen in den Medien und führt zu einem weiteren Vertrauensverlust. Selbst die sozialen Aufgaben, die die Kirchen im Interesse der Allgemeinheit wahrnehmen, treten vor dieser Diskussion in den Hintergrund. Die Kirchen unterhalten Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen, Altenheime, Sozial- und Pflegestationen.

Dabei sollte es um die Frage gehen, wofür Kirche da ist. Denn die Kirche ist kein Selbstzweck. Die Aufgabe der Kirche ist, den Menschen der jeweiligen Zeit unter den unterschiedlichsten Lebensbedingungen und Kulturen die Botschaft des Evangeliums zugänglich zu machen. Aber wie schaffen wir es, unserer Religion in der modernen Gesellschaft Gehör zu verschaffen.

Ich bin froh und dankbar, dass wir mit Ihnen, Eminenz, einen herausgehobenen Vertreter der katholischen Kirche haben, der uns heute über den Ort der Religion in der modernen Gesellschaft berichten wird.

IV.

Kardinal Marx gehört zu den bedeutendsten Vertretern der katholischen Kirche und ist allen hier Anwesenden gut bekannt, zumal er schon 2011 Festredner auf der Bremer Eiswette war.

Daher möchte ich ihn nur mit ganz wenigen Stichworten vorstellen.

1996 wurde der heutige Kardinal Marx von Papst Johannes Paul II. zum Bischof im Erzbistum Paderborn ernannt. Fünf Jahre später, im Jahr 2001, berief ihn Papst Johannes Paul II. zum Bischof von Trier.

Papst Benedikt XVI. ernannte Kardinal Marx am 30. November 2007 zum Erzbischof von München und Freising. 2010 wurde er in das Kardinalskollegium aufgenommen. Er war damals jüngstes Mitglied des Kardinalskollegiums. Ihnen allen ist Kardinal Marx als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz bekannt, als er von 2014 bis 2020 die Interessen der Katholischen Kirche in Deutschland vertreten hat.

Kardinal Marx bekleidet aber nicht nur höchste Ämter der Katholischen Kirche in Deutschland. Darüber hinaus ist sein Rat im Vatikan und auf europäischer Ebene gefragt.

Vom 22. März 2012 bis März 2018 war Kardinal Marx Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE).

Besonders hervorheben möchte ich die bedeutende Stellung von Kardinal Marx im Vatikan. Papst Franziskus berief Marx im April 2013 als ein Mitglied des Kardinalsrates, einem neunköpfigen Gremium, das den Papst bei der Leitung der Weltkirche berät. Erst Anfang dieses Jahres schied er aus diesem Gremium aus.

Wir sind gespannt, welche Einblicke und Einsichten Euer Eminenz uns heute in Ihrem Vortrag geben werden.

Bevor wir aber zum Festvortrag schreiten, wünsche ich Ihnen für den Käsegang noch guten Appetit.

196. Zusammenkunft am 14. September 2023 Palazzo della Cancelleria in Rom

Vortrag
S.E. Reinhard Kardinal Marx
„Der Ort der Religion in der modernen Gesellschaft“

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freunde und Gäste, Mitglieder des Tabak-Collegiums,

ich freue mich über diese ehrenvolle Einladung. Sie haben vernommen, dass Professor Mellinghoff im ‚Kleinen Gremium‘ sehr eindringlich auf Rom hingewiesen hat. Als er mir von diesem Vorhaben berichtete, hat er gesagt: Herr Kardinal, dann müssen Sie aber auch den Vortrag halten. Da konnte ich mich nicht ganz wehren, und ich tue es auch gerne.

Ich habe diesen Vortrag überschrieben „Der Ort der Religion in der modernen Gesellschaft“, weil mich das – wie auch viele von Ihnen – umtreibt. Oder ist es ein Naturgesetz, dass die Religion verschwindet? Je moderner eine Gesellschaft ist, umso weniger Religion hat sie? Das war schon in den 1970er Jahren bei den Religionssoziologen und auch bei anderen Soziologen wie eine allgemeine Überzeugung. Es hat sich anders entwickelt. Nicht so, wie die Kirchen sich das gewünscht haben, aber auch nicht so, dass die Religion einfach verschwindet, wie manche meinten. Sie verschwindet nicht, sie verändert sich.
Aber was ist ihr Ort und was ist die moderne Gesellschaft? Glauben wir nicht, wir können heute Abend nur über Religion reden. Wir reden auch über die Zukunft der Demokratie. Diese Zusammenhänge kann man nicht ausblenden. Religion ist kein Spezialthema! Nein, es geht immer auch um das Ganze. Religion und Gesellschaft – das ist ein Menschheitsthema. Man könnte sagen, der Homo sapiens und Religion, das ist koextensiv. Seit es Menschen gibt, von Anfang an, erleben wir eine Selbstreflexion: die Erfahrung des Anderen, die Angst und die Ehrfurcht vor den Göttern, wie immer man das im Einzelnen fassen kann. Eine Menschheit ohne Religion ist eine Vorstellung, die aus der neueren Zeit stammt und wahrscheinlich auch noch nicht ganz durchdacht ist. Es ist ja nicht so, als würden alle über die Kirchenaustritte triumphieren; selbst Verächter der Kirche machen sich mittlerweile Gedanken, was es eigentlich bedeutet und welche Folgen das hat. Sie gehen zwar nicht sonntags zur Kirche, aber finden es doch bedauerlich, dass es so wenige tun. Das ist natürlich ein Widerspruch in sich, aber immerhin ein Aufmerken, es könnte etwas fehlen. Und was fehlt genau? Was ist das, was fehlt? Und wie können wir es ersetzen? Können wir es überhaupt ersetzen? Man spürt es an den Diskussionen in Deutschland und weltweit; hier in Rom natürlich besonders, wo der Papst im Mittelpunkt steht. Und was der Papst tut, ist doch weiterhin ein Thema.

In der Pandemie habe ich mir die Zeit genommen, von Jürgen Habermas die beiden Bände „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019) zu lesen. Es ist das Opus Magnum eines Menschen, der sich selbst als religiös-unmusikalisch schildert, und man spürt das Ringen dieses Mannes mit mittlerweile über 90 Jahren, der auf tausendfünfhundert Seiten über das Verhältnis von Gesellschaft und Religion reflektiert. Das Ganze endet mit einem Blick auf den Gottesdienst; ich werde darauf noch zu sprechen kommen.
Wir müssen feststellen, dass Glaube, Religion und Gesellschaft keine soziologisch trennbaren Größen sind. Das sind nur Begriffe. Jeder von Ihnen ist, wenn er Mitglied einer Kirche ist, gläubig oder nicht mehr gläubig, oder was auch immer, auch Mitglied der Gesellschaft. Es sind keine soziologisch eindeutig trennbaren Größen: Kirche und Gesellschaft kann man nicht trennen. Weder kann die Kirche ohne die Gesellschaft sein, noch ist die Gesellschaft, in der es Kirche gibt, von dieser getrennt, so dass eine Grenze bestünde, wo auf der einen Seite Kirche beginnt und auf der anderen die Gesellschaft. Das will ich nur als Vorbemerkung vorausschicken, damit wir es uns nicht zu leicht machen und zu unreflektiert Begriffe gebrauchen.

Wenn wir das einmal voraussetzen, dann können wir aus heutiger soziologischer, sozialwissenschaftlicher Sicht das Verhältnis von Religion und Gesellschaft anschauen und feststellen, dass es immer eine Geschichte der Gefahr einer gegenseitigen Funktionalisierung war. Politik, Gesellschaft hat immer Religion für die eigenen Zwecke benutzt, wie umgekehrt Religion versucht hat, Gesellschaft zu prägen, vielleicht sogar zu beherrschen. Das ist Thema der Religionskritik, bis hin zu Karl Marx. Er hat allerdings in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie nicht nur vom „Opium des Volkes“ gesprochen, sondern auch davon, dass Religion „Protestation“ sein kann. Er hatte beides im Blick und sah die Gefahr, dass Religion benutzt wird, um bestimmte Interessen durchzusetzen oder manche zu beruhigen, aber er sah auch das Potential und die Sprengkraft darin.

Diese verschiedenen Tendenzen sind auch in der biblischen Botschaft schon deutlich. Ich kann das jetzt nicht in einem exegetischen-wissenschaftlichen Beitrag im Einzelnen vorstellen. Die biblische Botschaft beginnt mit einer großen Aufklärung im Buch Genesis. Die vielen Götter werden „abgeschafft“, es gibt nicht mehr Sonne und Mond als Götter. Es gibt nur noch den einen Gott. Darin ist schon etwas Wesentliches für die Zukunft und für die Gegenwart unserer modernen Gesellschaft angelegt. In der biblischen Tradition gibt es schon die Tendenz zur Aufklärung, vernünftig nachzudenken, die Götter nicht zu instrumentalisieren, sie nicht zu Naturgöttern zu machen, nicht einfach die Mächte der Welt zu vergöttlichen und zu beschwören. Religion ist ein allgemeiner Begriff, den vielleicht Cicero eingeführt hat, und ich spüre immer deutlicher, dass man unter diesem Begriff aber nicht alles fassen und es als Religion benennen kann. Das ist eine Versuchung.

Lassen Sie mich als kurzen Zwischenruf auf eine Vorlesung von Joseph Ratzinger in Paris an der Sorbonne (1999), also an einer säkular organisierten Universität, hinweisen. Dort hat er als Kardinal den provokanten Satz gesagt: „Christentum ist nicht die Fortsetzung der Religion mit anderen Mitteln, sondern vernunftgeleitete Aufklärung.“ Es klang wie eine Provokation, aber es knüpfte natürlich an die große Geschichte der Bibel und des Christentums an. Die ersten Christen haben ihre Diskussionen nicht mit den Vertretern des Jupitertempel geführt, nicht mit den Priestern des Mithras, sondern: mit den Philosophen, mit den Intellektuellen. Man wollte auf dem denkerischen Level der Zeit deutlich machen: Hier ist eine Wahrheit, die hell macht, die erleuchtet, die uns weiterbringt, die uns nach vorne bringt.
Wir haben in der biblischen Geschichte natürlich auch das, was Karl Marx „Protestation“ genannt hat, sozusagen den Prophetismus, das auch etwas Eigenwillige in der Bibel. Schauen wir die ersten Jahrhunderte der biblischen Geschichte des Volkes Israel an: Nach der Landnahme dreht sich die Diskussion um das Königtum. ‚Wir wollen sein‘, heißt es im Buch Samuel, ‚wie alle anderen Völker auch, gib uns einen König‘, sagen sie dem Propheten Samuel, und Gott resigniert im Gespräch mit dem Propheten und sagt: ‚Gib ihnen einen König. Aber sie haben mich abgesetzt. Sich einen eigenen König zu nehmen, das sei dann so wie alle anderen Völker sich gebärden, eine Klassengesellschaft zu werden, arm und reich gegeneinander zu stellen, Gräben aufzureißen.‘ Die Propheten stehen dagegen auf: ‚Ihr wolltet einen König, bitte ihr habt ihn, und ihr habt die Klassengesellschaft, ihr habt Militär, ihr habt das, wie alle anderen Völker auch. Da seht ihr, wo ihr hingekommen seid.‘ (vgl. 1 Samuel 8)

Nach dem Exil stellt sich dann die Frage: Wie sind wir eigentlich in dieses schreckliche Ereignis hineingekommen, wie konnte der Tempel zerstört werden, wie konnte der Tempel, der von Gott doch als seine Wohnstatt genommen wurde, zerstört werden? Und sie fragen: Wollten wir nicht anders leben? Wollten wir nicht etwas anderes darstellen? Was bedeutet es, diesen Bund zu leben? Es zeigt sich also eine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Das wird hier ganz deutlich: keine Legitimierung der politischen Macht, sondern eine Kritik der politischen Macht.

Es gab immer dieses Element der Differenz, des Unterschiedlichen, und natürlich auch den Versuch der Vereinnahmung, also der Funktionalisierung, von beiden Seiten. Eine besondere Herausforderung ist sicher der Monotheismus. Das ist nicht so einfach zu fassen, wie wir uns das früher vorgestellt haben im Religionsunterricht – „sie glauben an den einen Gott“. Das war ein langer Weg bis zum Monotheismus.
Es hat mich überrascht und erstaunt, dass die vier Bände von Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens“ (2016) mit dem Satz beginnen: „Am Anfang war ein Glaube: der Glaube an einen Gott“. Da wird man hellhörig und schaut hin. Winkler beginnt natürlich mit Echnaton, aber dann kommt schon die Geschichte von Mose. Mit dem Monotheismus entsteht etwas Neues. Wir sehen die Welt anders, nicht mehr beherrscht von Göttern, Dämonen, die man „kaufen“ kann, die man „bestechen“ kann, die man „benutzen“ kann. Sondern der Monotheismus hat in sich das Potential, Gott als den ganz anderen zu denken, nicht als Teil der Schöpfung. Ich muss das immer wieder auch den Gläubigen sagen: Gott ist kein Teil der Schöpfung. Er ist der Schöpfer, aber nicht Teil der Schöpfung. Und damit kommt etwas Exklusives auf, natürlich auch etwas, das – darauf hat der Ägyptologe Jan Assmann auch aufmerksam gemacht – auch zur Gewalt und Intoleranz führen kann. Assmann hat das später relativiert, und deutlich gemacht, dass der Exodus, der ja sozusagen ein Paradigma ist für die europäische Geschichte, ein Weg der Befreiung ist, das Schaffen eines neuen Bundes und dass dieses Befreiungshandeln ein wichtiger Teil des Monotheismus ist. Wir können, glaube ich, Religion und Kirche, ohne diese Geschichte nicht verstehen.

Der zweite Punkt betrifft das Verhältnis von Religion und Kirche zum „Westen“. Das bezieht sich nicht nur auf Westeuropa. Im Prinzip geht es um das Konzept einer offenen, modernen Gesellschaft, das natürlich geprägt ist von der Geschichte Europas. Von daher sind die Ideen gekommen, sie sind nicht er¬funden von Europa, aber sie sind gefunden worden. Ob sie immer in rechter Weise vertreten wurden in der Welt, wollen wir einmal dahinstehen lassen. Es ist hier aber etwas aufgebrochen, was ohne den christlichen Glauben, ohne die Religion und ohne den Monotheismus nicht denkbar gewesen wäre. Ohne die klare Trennung von Schöpfer und Geschöpf, ohne die Freisetzung des Menschen in die Schöpfung hinein, wäre es nicht denkbar. Manchmal frage ich mich: Kann man sich den Westen, die Demokratie und die Zukunft der Demokratie ohne Religion vorstellen? Hat Demokratie überhaupt etwas mit Religion zu tun? Auf jeden Fall setzt Demokratie, wie immer wir sie verstehen, wie immer wir sie entfalten in kulturellen Unterschiedlichkeiten, ein paar klare Punkte voraus: Alle Menschen sind gleich; Männer und Frauen agieren auf Augenhöhe miteinander; es gibt die Freiheit der Religion und der Meinungsäußerung; es gibt einen unabhängigen Rechtsstaat. Und vielleicht noch einige andere Punkte, etwa die Achtung der Menschenrechte, in deren Kern es um die Freiheit, um verantwortliche Freiheit geht.

Aber: Das ist ein Glaube, eine Überzeugung, das ist kein Wissen. Dass alle Menschen gleich sind – müssen wir glauben, das können wir nicht wissen. Dass alle Menschen oder möglichst viele Menschen in der Lage sind, Gut und Böse auseinanderzuhalten, Falsch und Richtig – ist eine Grundvoraussetzung der Demokratie. Wenn das negiert wird, muss der Rechtsstaat Grenzen setzen. Aber niemand kann doch glauben, dass nur die Gesetze allein eine Demokratie herstellen, sondern das, was an Überschuss da ist, dass viele Menschen da sind, die sich engagieren und wissen, was Gut und Böse ist und was Richtig und Falsch ist. Dass dies so ist, dass Menschen so sind, glauben wir. Das ist die Zuversicht der Christen, die Zuversicht der gläubigen Menschen, die an einen Gott glauben, der Menschen so geschaffen hat und uns grundsätzlich den Raum ermöglicht, in Freiheit Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört, den Anderen als Anderen zu respektieren. Ob Schwarz oder ob Weiß, ob Flüchtling, ob homosexuell, heterosexuell, Mann, Frau, alt, jung: Wir sind Menschen.
Ich will das nur noch einmal betonen. Paul Kirchhof hat kürzlich in einem Artikel noch einmal deutlich gemacht, dass wir das unterschätzen. Manche denken, es gehe auch ohne Religion. Man muss den Ort der Religion in der Gesellschaft bestimmen. Aber die Kirche hat einen Beitrag zu leisten in der modernen Gesellschaft. Der Ort kann aber nur dort sein, wo diese Werte verteidigt und nicht mit Füßen getreten werden.

Papst Franziskus hat bei seinem aktuellen Besuch in der Mongolei gesagt, niemand brauche Angst zu haben vor der Kirche. Er meinte natürlich nicht die Mongolei, aber China, die Nachbarn, haben schon genauer hingehört, und konnten vielleicht etwas heraushören. Denn er hat dazu gesagt: Die Kirche hat keine politische Agenda. Und da würde ich sagen, das hat sie doch.
Ich kann mich gut erinnern – das als kleine Anekdote am Rande -, als mich in Trier eine Delegation aus Nordkorea besuchte, vermittelt durch Misereor, die Projekte in Nordkorea durchführen wollten. Und natürlich wollte die Delegation das Karl-Marx-Haus in Trier besuchen, der ja aus Trier stammt. Und Misereor hatte ihnen auch einen Besuch des Bischofs von Trier vorgeschlagen, der auch Marx heißt. Bei diesem Besuch haben wir viel diskutiert. Nachher sagten die Delegationsbegleiter von Misereor und auch aus der Politik, so scharf sei bisher noch nie gegengehalten worden. In all den Gesprächen zuvor – ob bei BMW, bei Audi oder bei anderen Business-Terminen – sei das viel zahmer gewesen. Ja, natürlich: weil die keine Bedrohung sind. Aber das Evangelium ist eine Bedrohung, ja, es ist eine Bedrohung für die, die meinen, die Menschenrechte und die Schwachen und die Armen mit Füßen treten zu können. Eine solche Bedrohung wirkt langfristig, nicht sofort. Die Nordkoreaner haben das besser verstanden als manche von den Begleitern. Nicht in dem Sinn, als müsste man Angst haben, dass mit Gewalt eine Revolution ausgerufen wird, aber dass Gedanken aufkommen können, die sich auf Dauer nicht mit Unfreiheit vertragen. Und manchmal sehen es die „Feinde“ der Religion dann deutlicher.

Aber zurück zur abendländischen Geschichte, der Geschichte des Westens, des lateinischen Westens: In den aktuellen Diskussionen um die Ukraine spüren wir ganz deutlich einen Einschnitt durch die „päpstliche Revolution“, wie wir sie nennen. Philippe Nemo, ein französischer Philosoph, schreibt in seinem Buch „Was ist der Westen?“ (2005) auch über die päpstliche Revolution als einem ersten Einschnitt in der Religions- und auch in der Geistesgeschichte. Der Papst und damit die Institution Kirche sagt, dass der Staat Grenzen hat: Der Staat ist nicht zuständig für das Heil der Menschen, für die Utopie, für den Himmel, für das vollkommen ewige Leben. Das ist unsere Sache, die Sache der Kirche. Da ist deine Grenze, und wenn du sie nicht beachtest, wirst du exkommuniziert. Das passierte, wenn auch nicht immer erfolgreich, wie Sie wissen. Es gab jedenfalls dieses Spannungsverhältnis. Diese „päpstliche Revolution“ – davon sind Säkularhistoriker überzeugt ist ein Einschnitt, der natürlich den abendländischen Westen, den lateinischen Westen, und da schließe ich die Protestanten mit ein, sehr prägte: die Trennung von Kirche und Staat. Nicht eine absolute Trennung aller Beziehungen zwischen Kirche und Staat, aber eine klare Relativierung der staatlichen Macht. Diese Macht hat sich auf die irdischen Dinge zu begrenzen. Deswegen müssen wir immer vorsichtig sein, wenn in Abkehr von diesem westlichen, offenen Modell Staaten entstehen, die Ideologien vertreten vom Heil für alle, vom Glück für alle, von der klassenlosen Gesellschaft. Das ist etwas, was über das Ziel hinausschießt. Ein Beispiel hierfür ist Russland.

Ich habe gerade ein interessantes Buch gelesen von Giuliano da Empoli: „Der Magier im Kreml“ (2023). Es handelt sich um einen fiktiven, aber empfehlenswerten Blick auf Russland, auch auf die Situation der letzten 20 Jahre. Hier sieht man die Gefahr, ein Land mit einer Mission zu vertreten, die weit über das praktische Arbeiten an einer je besseren Welt hinausgeht, eine heilige Mission für die ganze Welt. Russland wird als Land gesehen, das eine heilige Pflicht hat. Man will der ganzen Welt diese Botschaft, möglicherweise mit Gewalt, aufdrängen. Manchmal gibt es Vergleichbares bei den Amerikanern, wenn sie von „God‘s Own Country“ sprechen und meinen, wir müssen jetzt mit unseren Ideen alle erreichen. Wir Europäer sind als eine moderne, offene Gesellschaft doch hoffentlich pragmatischer aus der päpstlichen Revolution hervorgegangen. Wir sind zufrieden, wenn wir die Welt ein bisschen besser verlassen, als wir sie betreten haben. Wir wollen Schritt für Schritt bessere Verhältnisse schaffen, aber: Es ist uns klar, dass das nicht vollkommen sein wird. Ich meine, dass das eine ganz wichtige Ausrichtung für die Politik ist, um sie nicht zu überladen mit Heilsversprechungen. Das gilt auch in den aktuellen Debatten.

Und ein weiterer Punkt: Die Religion im Westen, jedenfalls in unserem Land, war auch eine Quelle des Unfriedens. Manche vertreten die These, die moderne Gesellschaft sei erst aus den Religionskriegen hervorgegangen. Thomas Hobbes formulierte „sed auctoritas, non veritas facit legem“. – „Eine Autorität, nicht eine Wahrheit schafft ein Gesetz.“ Hobbes hat das eher autoritär verstanden, also nicht auf Wahrheit hin. Aber man konnte es auch in anderem Sinne verstehen und kritisch fragen, wie kommt diese Autorität zustande. Sicher durch Verträge, durch Vertragsabschlüsse usw., aber was ist mit der Wahrheit? Wahrheitsfragen sollten doch bitte nicht gesellschaftlich diskutiert werden. Deswegen ist das auch ein wichtiger Punkt der modernen Gesellschaft, der vielleicht gegen die Kirche errungen ist, aber eben auch im Blick bleiben muss.

Es ist leider nicht vorbei, dass Religion benutzt wird. Wir wissen um das Trauma des Dreißigjährigen Krieges. Manche Historiker sagen, das sitzt den Deutschen so in den Knochen, dass sie die Konsensgesellschaft ersehnen, nach diesen Jahren der Selbstzerfleischung eines Landes im Zeichen der Religion. Es war nicht nur ein Religionskrieg, das wissen wir, aber er war es auch. Die Muttergottes von Altötting wurde mitgetragen, und umgekehrt hat Gustav Adolf auch die Überzeugung gehabt, dass die Reformation endgültig durchgesetzt wird. Das sind alles Erfahrungen, die dazu führen, dass wir versuchen, Religion in eine Toleranzgesellschaft einzubeziehen ohne die Wahrheitsfrage auszuklammern.
Wenn wir heute etwa an Patriarch Kyrill I. denken, dann sehen wir, dass Religion auch wieder benutzt wird. Das ist für mich erschreckend. Ich hätte noch vor 20 Jahren nicht gedacht, dass Religion wieder benutzt wird als Zeichen der Identität gegen andere, als Abgrenzung, als Polarisierung, mehr als je zuvor. Das gilt nicht nur für Kyrill I. und Putin. Das gibt es auch in den USA, das gibt es auch in unseren Kreisen. Wir haben die Versuchung, Religion wieder als politisches Instrument zu benutzen. Das ist etwas, das mir zutiefst Sorgen bereitet.

Paul Kirchhof hat einmal von der „Achillesferse der modernen und offenen Gesellschaft“ gesprochen. Ich habe es eben schon angedeutet: Die Achillesferse der modernen Gesellschaft ist die verantwortliche Freiheit. Die moderne Gesellschaft, die offene Gesellschaft, die niemandem vorschreiben will, welche Religion er hat, welche sexuelle Orientierung er oder sie hat, welche Wahl im politischen Feld getroffen wird, setzt voraus, dass Menschen in Freiheit handeln wollen. Sie setzt Bildung und Beteiligungsbereitschaft voraus.

Der entscheidende Punkt für die Zukunft ist das Ringen um die Demokratie. Untersuchungen zeigen, dass weltweit gesehen Demokratien abnehmen; es gibt eher eine Tendenz hin zu autoritären Regimen. Und selbst in Europa, etwa in Ungarn, spricht man nicht von der Zukunft der offenen Gesellschaft, sondern der illiberalen Demokratie. Das ist vor unserer Haustür. Das ist mein Thema, denn ich muss fragen, wo die Kirche zu stehen hat. Sie muss natürlich – für mich ist das selbstverständlich – auf der Seite der verantwortlichen Freiheit stehen und nicht auf der Seite der autoritären Regime, die Religion für ihre Zwecke zu benutzen versuchen. Deswegen haben Demokratie und Religion durchaus etwas miteinander zu tun. Es geht hier nicht nur um die Zukunft der Religion, es geht auch um die Zukunft der Demokratie und der offenen Gesellschaft, die nicht beliebig sein darf, die Werte haben muss, die Menschen voraussetzt, die sich engagieren und die deswegen auch Gemeinschaften braucht, die das tragen.

Wie sieht die Zukunft der modernen Welt aus, der westlich geprägten, der christlich geprägten Welt? Können wir uns diese Welt ohne Christentum vorstellen? Mir fällt es schwer, mir vorzustellen, dass Religion verschwindet. Was tritt an die Stelle? Ich weiß es nicht. Und das ist die Herausforderung für die Kirche. Wir wollen ja nicht wieder das Spiel betreiben, die moderne Gesellschaft habe die Kirche vergessen. Die Kirche kann auch nicht ohne die Gemeinschaft der Gläubigen, aber die Kirche, auch die katholische Kirche, kann ja nicht ohne den Einfluss der modernen Welt existieren. Sie muss sich ändern. Es ist ein Wechselverhältnis. Die Idee der verantwortlichen Freiheit gilt auch für die Kirche selbst. Wenn sie den Anschluss verliert oder gar nicht begreift, wie sie – in einer kirchlichen Weise – im Licht des Evangeliums das Konzept der verantwortlichen Freiheit selbst leben kann, dann wird sie den Kontakt verlieren und ihren Einfluss und ihren Ort. Dies gilt erst recht in einer modernen Gesellschaft. Dann wird es ein Restbestand, eine soziokulturelle Endmoräne, die man bestaunt wie ein Museum. Dann wird niemand den Eindruck haben, das ist die Institution der Zukunft, nicht der Vergangenheit. In der Vergangenheit stecken Motive vielleicht auch für die Zukunft; diese müssen wir herausarbeiten.

Die Privatisierung des Religiösen ist nicht der richtige Weg. Auch die weltanschauliche Neutralität im Sinne eines platten Laizismus ist für eine moderne Gesellschaft nicht geeignet. Auch soll es keinen neuen Weltanschauungsstaat geben. Ein konstruktives Miteinander von Religion und Gesellschaft ist wichtig. Aber die Religionen müssen sich auch in eine Diskussion hineinbegeben und nicht einfach nur ihren eigenen, selbstbezogenen Kurs fahren. Kein Weg ist sicher, auch nicht die Instrumentalisierung der Religion als Zivilreligion, Religion als Dekoration, politische und kulturelle Legitimierung, als schöner Brauch, der aber nichts mehr bewegt, sondern den man nur mehr anstaunt und vielleicht noch als Kindheitserinnerung mitnimmt.
Deswegen wird auch in Zukunft, wenn Religion lebendig und kraftvoll sein will, ein gewisser Dualismus da sein. Es geht hier nicht um Anpassung an den Zeitgeist, sondern darum, die Zeichen der Zeit aufzunehmen im Licht des Evangeliums (vgl. Lumen Gentium 1), und die Religion in einer modernen Gesellschaft als eine Kraftquelle zu sehen, auch als Widerspruch, als Anregung, als Kontrast. Es gilt aber auch, die Freiheit in Verantwortung zu leben, weil dies das christliche Menschenbild ist.

Man könnte vielleicht auch einen Blick auf die Kultur werfen; da ist es sehr ähnlich. Wir haben in der Pandemie die Diskussion geführt, was systemrelevant ist. Bei uns waren alle ein bisschen erstaunt, dass Religion auf einmal als nicht systemrelevant beschrieben wurde. Ich fand es gar nicht so schlimm. Denn die Frage ist, was man unter systemrelevant versteht. Aber einige haben dann in der Diskussion bemerkt, dass doch etwas fehlt. Das ist bei der Kultur ähnlich gewesen. Ein italienischer Theologe hat das einmal so formuliert „la necessità dell’inutile“, die Notwendigkeit des Nutzlosen, also dessen, was ich nicht verwerten, nicht berechnen, nicht bilanzieren, nicht kaufen und verkaufen kann. Was ist, wenn der Sonntag wegfällt? Das stärkste Symbol der westlichen Welt ist der Sonntag. Damit erklären wir den Menschen: Du bist nicht homo oeconomicus, und wir beurteilen die Welt nicht nach Kaufen und Verkaufen. Es geht nicht um reines Nutzendenken. Wir empfinden diese Notwendigkeit des Nutzlosen. Kultur gehört dazu, aber auch Religion gehört zur Notwendigkeit des Nutzlosen.

Schauen wir jetzt einmal konkreter auf die Kirche: Wie sind das Selbstverständnis und die Krise gerade der katholischen Variante des Christentums? Wie steht es um die katholische Kirche in einer freien und offenen Gesellschaft? Manche haben den Eindruck, die katholische Kirche tue sich besonders schwer mit der Moderne. Ja, das ist richtig, und das könnten wir jetzt noch bis zurück zu Pius IX. behandeln, wie er es im „Syllabus Errorum“ (1864), in seiner Ansammlung der Irrtümer, festgehalten hat, sinngemäß: „Wenn jemand behauptet, dieser römische Heilige Stuhl solle sich mit der modernen Welt versöhnen, verflucht sei er.“ Allerdings muss man auch dies im Kontext sehen: Es ging um den Liberalismus und es gab eine antiklerikale Bewegung. Die Möglichkeiten, dass Moderne und Christentums sich trafen, waren begrenzt; wenn man sich vorstellt, dass auf dem Altar von Notre-Dame eine nackte Frau als Göttin der Vernunft verehrt wurde – darüber war der Klerus nicht gerade begeistert. Hier konnten keine großen Dialogforen entstehen. Aber es hätte anders kommen können. Die Phasen davor waren anders. Es gab die Aufklärung, auch die katholische Aufklärung. Ich will das hier nicht vertiefen, sondern nur fragen: Was lernen wir daraus für das Kirche sein in einer offenen Gesellschaft, in einer modernen, pluralen, toleranten Gesellschaft?

Ich glaube, notwendig ist eine „Aufklärung der Aufklärung“. Eine Wissenschaft, die meint, Glaube habe nichts zu tun mit der Erklärung und Verständigung der Menschen untereinander, hat eine verkürzte Sicht. Habermas hat das in seinem Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ deutlich gemacht. Die Frage nach dem Glauben und nach Gott ist nicht sinnlos. Sich nur zurückzuziehen auf technische Erfindungen, empirische Daten und Bilanzen, ist nicht genug. So verstehen wir den Menschen nicht und auch nicht die verantwortliche Freiheit. Glaube und Vernunft sind aufeinander bezogen. Und deswegen brauchen wir, auch für die Kirche, ein Leben, ein Zeugnis für die Wahrheit.
Papst Benedikt XVI. hat einmal gesagt, nicht wir haben die Wahrheit, sondern „die Wahrheit hat uns, sie ist etwas Lebendiges“. Die Wahrheit sind nicht einzelne Sätze, sondern die Wahrheit ist Christus. Es gibt keine Möglichkeit, in Sätzen das Geheimnis Gottes auszusprechen. Das ist das Prinzip der Analogie: Jeder Satz über Gott, jedes Glaubensbekenntnis, jeder liturgische Text ist dem Geheimnis Gottes unähnlicher als ähnlich. Das ist die Lehre der Kirche. Aber: Kommt das rüber, haben wir das nicht reduziert?
Es geht um ein Zeugnis für die Wahrheit, aber mit der Toleranz, andere Wahrheiten anzuerkennen, Anerkennung des Anderen als wirklich Anderem. Sonst kann eine moderne Gesellschaft nicht bestehen. In einer Gesellschaft, in der die eine Gruppe sagen will, wir haben die Wahrheit und wer uns nicht folgt, den müssen wir dazu zwingen, mit dem reden wir nicht …: Das kann es nicht sein.

Ein weiterer Punkt ist der Universalismus: Wir können nicht Kirche sein, ohne den universalen Blick auf alle Menschen zu richten. Das ist die okzidentale, die abendländische Spiritualität, mit den beiden Worten Bethlehem und Golgotha. Da ist in einer radikalen Weise zusammengefasst, was noch nie auf dieser Welt so ausgesprochen wurde: dass das absolute Geheimnis, das niemand erklären kann, das sich nur selbst erklären kann, in der Geschichte dieses Mannes aus Nazareth gezeigt hat, in welche Richtung wir zu gehen haben. Dass er, der Bruder aller Menschen ist und dass er das Leiden in den Blick nimmt.

Ein weiterer Punkt ist die Begrenzung der menschlichen Macht, so wie es auch Habermas einmal gesagt hat, dass nur die Religion die Differenz von Schöpfer und Geschöpf wahren kann (vgl. Habermas, Glaube und Wissen, 2001). Wir reden heutzutage über Künstliche Intelligenz, früher ging es eher um bioethische Fragen oder gentechnische Veränderungen: Wenn der Mensch Schöpfer des Anderen ist, dann ist die Demokratie am Ende. Dann ist es nicht mehr die Gleichheit aller Menschen, sondern dann sind einige die Geschöpfe der anderen. Das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf ist ein völliges anderes Verhältnis als etwa das zwischen Eltern und Kindern. Eltern sind nicht Schöpfer ihrer Kinder, sie haben sie gezeugt, sie durften am Heilswerk, am Schöpfungswerk Gottes teilnehmen. Deswegen ist es weiterhin auch für die Grenzen aller menschlichen Macht wichtig, dass die Stimme des Glaubens lebendig bleibt.

Noch ein weiterer Punkt ist der Blick auf die Kranken, die Schwachen, die „nicht-Nützlichen“. Dieser Blick wird ohne die Religion, so hat es Heinrich Böll einmal gesagt, schwächer. Und solange es einen gesellschaftlich anschlussfähigen Kult gibt, also einen Gottesdienst, der inmitten der modernen Gesellschaft (wie in einem religiösen Kunstwerk) das ganz Andere aufruft und benennt, ohne es zu ergreifen, ohne es zu benutzen, sondern die Stelle des „offenen Himmels“ deutlich macht, solange das anschlussfähig geschieht, geht es auch mit dem Gottesdienst und dem Glauben weiter. Und: Ist sich die moderne Gesellschaft nicht vielleicht sogar gewiss, dass ihr etwas ohne den „offenen Himmel“ fehlen würde? Und zwar nicht im Sinne „schön wär’s“, sondern so, dass Gesellschaft insgesamt nicht organisiert werden kann, ohne diesen Blick auch immer wieder zu wagen, weil dann etwas fehlt. Das meine ich, ist ein wichtiger Punkt.

Sie können natürlich einwenden: Aber die Religion verschwindet nun einmal. Ich frage mich: Sind die Kirchenaustritte schon ein Zeichen dafür? So einfach ist das, glaube ich, nicht. Wir erleben eine große Transformation. Für mich ist klar, dass die Stimme der Religion und des Glaubens auch in einer zukünftigen Gesellschaft da sein wird. Diese Gesellschaft wird sich vielleicht verändern, so dass das auch nicht für alle erfreulich ist. Daher könnte es im Interesse aller sein, auch für die, die nicht glauben, auch für die, denen es schwerfällt, die suchende Menschen sind, was die meisten sind. Niemand ist 100%ig gläubig oder ungläubig. Vielleicht ist es doch gut, wenn diese Stelle da ist und dieser Ort da ist.
Dazu gehört aber, dass die Kirche ihre eigene Geschichte kritisch angeht und nicht etwas verschweigt. Von den negativen, dunklen Seiten war schon die Rede. Das gilt nicht nur für die vergangenen Jahrzehnte; sondern man muss insgesamt kritisch die eigene Geschichte anschauen und das, was nicht mehr wichtig ist, auch lassen können. Das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden, das will Papst Franziskus im Blick auf die synodale Kirche. Das soll gemeinsam geschehen. Synodale Kirche ist nicht dasselbe wie Demokratie, aber Demokratie ist ja auch kein Schimpfwort. Manchmal höre ich das so raus. Natürlich gibt es Verfahren, wie wir zur Einmütigkeit kommen, dass wir Geschichte aufnehmen, „diachrone und synchrone Communio“ haben wir das genannt. Dafür ist die Ämterstruktur wichtig. Die große Tradition besteht ja auch im Gemeinwesen. Es ist nicht so, dass es in anderen Bereichen völlig undenkbar wäre, auch eine Kontinuität mit bestimmten Quoren und Abstimmungen zu wahren. Aber synodal bedeutet eben, dass wir alle miteinbeziehen. Es wird eben nicht „der Zeitgeist“ propagiert, sondern es werden Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums gelesen (vgl. Lumen Gentium 1). Die Sozialgestalt der Kirche ist veränderlich. Die institutionelle Gestalt ist wichtig, natürlich das Bischofsamt, das Petrusamt, das Priesteramt; aber wie das gestaltet wird, da gibt es sehr, sehr viele Unterschiede. Deshalb ist es für mich wichtig, jetzt als Kirche zu beten und zu denken. Wir brauchen wissenschaftliche Theologie. Wir brauchen starke Erfahrung und Interpretationsrahmen, so hat es Hans Joas einmal in seinem Buch „Entstehung der Werte“ (1999) benannt. Denn wie entstehen Werte? Man braucht zwei Dinge, starke Erfahrung und Interpretationsrahmen. Interpretationsrahmen entstehen durch Reflexion, Unterricht, Bildung; aber man braucht immer auch die starken Erfahrungen, den großartigen Gottesdienst, die Nacht am Lagerfeuer mit Lesung der Heiligen Schrift. Man braucht das, und das können wir doch. Das muss zusammengehen, das brauchen wir für die Zukunft.

Die Theologie kann die Kirche nicht ersetzen, aber sie ist notwendige Beratung. So ähnlich wie die Politikwissenschaft die Regierung berät und nicht selbst die Regierung stellt. Zentral bleibt für mich, und damit schließe ich, nicht die Ethik steht an erster Stelle, sondern die Gottesfrage: Ob es auch weiterhin einen Sinn macht, das Wort „Gott“ auszusprechen und sich dann zu fragen, was verändert sich in meinem Leben, wenn dieses Wort da ist, wenn diese Wirklichkeit kommen könnte. Was heißt das eigentlich? Und das ist vielen unklar, selbst in der Kirche. Gott, den wir das absolute Geheimnis nennen – das ist ja nicht einfach wie ein Gegenstand in unseren Händen, als ob wir wüssten, was Gott redet, denkt, will….
Ich sage voraus: Eine Institution, die anderen sagen will, dass sie weiß, was Gott über jeden denkt, wird große Schwierigkeiten haben. Das heißt nicht, als wüssten wir nicht etwas und hätten keine Erfahrung, aber: Wir sind alle Suchende. Wir haben eine Erfahrung gemacht mit diesem Jesus aus Nazareth, und wir laden dazu ein, dass auch andere diese Erfahrung machen können. Aber die Erfahrung muss dann jeder selbst machen. Wir können dazu einladen. Und das ist ein ganz wichtiger Punkt.

Ich habe vor einigen Jahren mit italienischen Seminaristen aus Mailand, die kurz vor der Priesterweihe standen, die Heilige Messe gefeiert und gesprochen. Sie fragten mich: Sie sind jetzt über 40 Jahre Priester, was ist in den 40 Jahren wichtig geworden? Dann habe ich etwas gezögert und gesagt: Das Geheimnis Gottes ist für mich größer und anziehender geworden, die Person Jesu attraktiver, faszinierender und die Kirche etwas weniger wichtig. Die Kirche ist nur ein Instrument, damit die Menschen dorthin finden. Man muss prüfen, ob sie dazu hilfreich oder hinderlich ist. Das ist ein ständiger Prozess und das, glaube ich, wird auch in Zukunft eine Aufgabe sein.

Was bedeutet es, wenn „das absolute Geheimnis“ ins Spiel kommt? Und was bedeutet es, wenn es fehlt? Ich glaube, das sollte die Kirche erfahrbar machen, öffentlich machen, im Gottesdienst und in der Rede. Das ist für mich Evangelisierung. Es geht nicht um „reconquista“ und Wiedereroberung verloren gegangenen Terrains. Als könnten wir sagen, es sei ja nur eine Frage der Mittel, der Instrumente, wie wir an die Leute „herankommen“. Wichtig ist, glaubwürdig Zeugnis in einer lebendigen Gemeinschaft zu sein und dazu einzuladen und vielleicht dafür zu sensibilisieren, es könnte etwas fehlen, wenn der „offene Himmel“ nicht mehr ab und zu sichtbar wird.
Deswegen: Sehen Sie auch mit ein wenig Wohlwollen auf diese Gemeinschaft, die unterwegs ist, die sich transformiert, die vor großen Herausforderungen steht und auch Ihre Hilfe braucht, Ihre tatkräftige Mitsuche, Ihre Fragen und Ihr Mitgehen. Das ist es, was der Kirche hilft, ihren Ort in der Gesellschaft zu finden.

Nein, die Religion verschwindet nicht, die Kirche verschwindet nicht. Aber sie verändert sich. Und die Gesellschaft verändert sich. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Aufgabe der Gemeinschaft der gläubigen Christinnen und Christen ist, dieses Evangelium zu leben. Dies ist auch in Zukunft hilfreich, nicht nur für die Kirche, sondern für die ganze Gesellschaft, denn die Demokratie nimmt ohne diese kritischen Fragen Schaden.

Dr. Marc Beise
Corrispondente in Italia
Süddeutsche Zeitung, Rom

Stefan Bellinger
Geschäftsführender Gesellschafter
beII Invest Beteiligungs- und Beratungsgesellschaft
mbH, Bremen
Mitglied des Aufsichtsrates Sparkasse Bremen

Wilhelm von Boddien
Geschäftsführer
Förderverein Berliner Schloß e.V., Hamburg
ehem. Mitglied ‚Kleines Gremium‘, Bremer
Tabak-Collegium

Matthias Böhm
Geschäftsführender Gesellschafter
Lampe & Schwartze KG, Bremen

Prof. Dr. Angelo Bolaffi
Politologe
Rom

Thomas Brandl
Geschäftsführender Gesellschafter
Drei Bond GmbH, Ismaning

Dr. Jörg Bremer
Journalist, Historiker und Autor
Berlin
ehem. Korrespondent und Redakteur Frankfurter
Allgemeine Zeitung
Mitglied ‚Kleines Gremium‘, Bremer Tabak-Collegium

Dr. Thomas Brinkmann, LL.M. (Tulane)
Rechtsanwalt u. Notar
Dr. Schackow & Partner – Rechtsanwälte und
Notare, Bremen
Sprecher ‚Kleines Gremium‘, Bremer Tabak-Collegium

Ulf Brothuhn
Vorsitzender des Vorstandes
Bremische Volksbank eG, Bremen

I.H. Elisabeth Gräfin zu Castell-Castell
Rom

S.H. Dr. Ferdinand Graf Dohna-Schlobitten
Filmproduzent
Rom

Noel Dörr
Rothschild & Co., Frankfurt am Main

Dipl.-Kfm. Albrecht Edzard
Geschäftsführer
Edzard, Franke & Co., Bremen

Dipl.-Kfm. Patrick Engels
Geschäftsführender Gesellschafter
Pöschl Tobacco Group, Geisenhausen
Vorsitzender des Vorstands Verband der deutschen
Rauchtabakindustrie e.V.,
Berlin Chairman European Smoking Tobacco
Association, Brüssel

Klaus Filbry
Vorsitzender der Geschäftsführung
Werder Bremen GmbH & Co. KG aA, Bremen

Jürgen Fitschen
Vorsitzender des Vorstandes
Deutsche Bank Stiftung, Frankfurt am Main
Mitglied ‚Kleines Gremium‘, Bremer Tabak-Collegium

Dr. Matthias Fonger
Hauptgeschäftsführer und I. Syndikus
Handelskammer Bremen – IHK für Bremen und
Bremerhaven

Stephan M. Friedrich
Geschäftsführer
Lürssen Industrie Beteiligungen GmbH, Bremen

Honorarkonsul Marco R. Fuchs
Vorsitzender des Vorstandes
OHB Technology AG, Bremen
Honorarkonsul der Republik Italien

Dr. Nino Galetti
Leiter des Auslandsbüros
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Auslandsbüro
Italien, Rom

Giovanni Gay
Mitglied des Vorstandes
Union Asset Management Holding AG, Frankfurt
am Main

Dott. Maria Gazzetti
ehem. Direktorin
Museum Casa di Goethe, Rom

Luigi Giugliano
Berlin

Prof. Dr. Herwig Guratzsch
Hamburg
ehem. Direktor Stiftung Schleswig-Holsteinische
Landesmuseen, Schleswig
ehem. Mitglied ‚Kleines Gremium‘, Bremer
Tabak-Collegium

Dr. Jakob Hein
Schriftsteller
Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Berlin

Robert P. Hempel
Geschäftsführender Gesellschafter
Hanseatische Waren Handelsgesellschaft mbH &
Co.KG, Bremen

Michael Hilpert
Geschäftsführer
Felsner GmbH, Nürnberg

Antonia Hochwimmer
Geschäftsführerin
Mediamotiv GmbH, München

Peter Hoedemaker
Bremen

Andreas Hoetzel
Gesellschafter
Restaurant Osteria Savino Pinto & Andreas
Hoetzel GbR, Bremen

Waldrudis Hoffmann, M.A.
Kunsthistorikerin
Schule des Sehens, Rom

Carsten Hofmeister
Geschäftsführer
Seghorn GmbH, Bremen

Dr. Cecilie Hollberg
Direktorin
Galeria Dell‘Accademia, Firenze

Andreas Huber
Stiftungsvorstand/Geschäftsführer
Stiftung Begegnungszentrum der Erzdiözese
München und Freising, München

Joachim Jürgens
Geschäftsführer
H. Jürgens Holding GmbH, Bremen

Pamela Jürgens
Mitglied der Geschäftsleitung
Omnilab-Laborzentrum GmbH & Co. KG, Bremen

Dr. Christoph B. Klosterkemper
Geschäftsführender Gesellschafter
Atermann König & Pavenstedt GmbH & Co. KG,
Bremen

Dr. Torsten Köhne
Bremen
Mitglied ‚Kleines Gremium‘, Bremer Tabak-Collegium

Thomas Köning
Sprecher der Geschäftsführung
OSPIG GmbH & Co. KG, Bremen

Pranjal Kothari
Mitglied des Vorstandes
Die Sparkasse Bremen AG, Bremen

S.E. Botschafter Dr. Bernhard Kotsch
Deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl und
beim Souveränen Malteser Orden, Rom

Rebecca K. Kreuzgrabe
Generalbevollmächtigte und Mitglied ‚Kleines
Gremium‘
Bremer Tabak-Collegium

Dominik Lamminger
Mitglied der Geschäftsleitung
Bundesverband Öffentlicher Banken Deutschlands,
VÖB, e.V., Berlin

Dr. Gregor H. Lersch
Direktor
Museum Casa di Goethe, Rom

Marcel Linnemann
Geschäftsführer
Justus Grosse Immobilien GmbH, Bremen

Julian Linnemann
Projektleiter
Justus Grosse GmbH, Bremen

I.D. Dr. Stephanie Prinzessin zu Löwenstein
Weingut Fürst Löwenstein, Kleinheubach

S.E. Botschafter Dr. Hans-Dieter Lucas
Botschafter
Deutsche Botschaft, Rom

Robert Mahn
Mitglied des Vorstandes
Minerva Versicherungs-AG, Bremen

Markus Mainka
Leiter der Kommunikation Standort Bremen
Mercedes Benz AG – Werk Bremen

Janina Marahrens-Hashagen
Geschäftsführende Gesellschafterin
H. Marahrens Schilderwerk Siebdruckerei
Stempel GmbH, Bremen
Vize-Präses der Handelskammer Bremen – IHK
Bremen und Bremerhaven

S.E Reinhard Kardinal Marx
Erzbischof von München und Freising
Erzbischöfliches Ordinariat München

Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff
Ottobrunn
Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D.
Präsident des Bundesfinanzhofes a.D.
Mitglied ‚Kleines Gremium‘, Bremer Tabak-Collegium

Michael Mellinghoff
Managing Director
TechFluence, London

Dr. Hans Moormann
Geschäftsführender Gesellschafter
Jöst GmbH & Co. KG, Dülmen-Buldern

George C. Muhle
Geschäftsführender Gesellschafter
Atermann König & Pavenstedt GmbH & Co. KG,
Bremen

Prof. Dr. Ursula Münch
Direktorin
Akademie für politische Bildung, Tutzing

Dipl.-Ing. Jochen Münnich
Wangen

Cornelius Neumann-Redlin
Hauptgeschäftsführer
Die Unternehmensverbände im Lande Bremen
e.V., Bremen

Vicomte Charles-Lois de Noüe
Winzer
Rom

Lutz Oelsner
ehem. Vorsitzender des Vorstands
Gestra AG, Bremen
Präsident der Unternehmensverbände im Lande
Bremen e.V.

Simona Paravani
Associate Professor
Cambridge University

Christopher Peiler
Geschäftsführer
Katholisches Büro bei der Freien Hansestadt
Bremen

Bernd Petrat
Geschäftsführender Gesellschafter
Nordwest Industrie Group GmbH, Bremen

Marco Politi
Journalist
Roma

Constanze Reuscher
Journalistin
Rom

Karl von Rohr
Stellvertretender Vorsitzender des Vorstands
Deutsche Bank AG, Frankfurt am Main

Alexander Ruddat
Geschäftsführender Gesellschafter
Ruddat Grundbesitz GmbH & Co. KG, Bremen

Julius C. Runge
Geschäftsführender Gesellschafter
Tegro Runge GmbH, Bremen

S.K.H. Michael Prinz von Sachsen-Weimar
und Eisenach
Mannheim

Conte Dott. Enrico Sammartini
Impresa Costruzioni Ing. Enrico Pasqualucci S.r.l.,
Rom

Manfredi Scammacca del Murgo
Winzer
Rom

Dr. h.c. André Schmitz
Garz
ehem. Mitglied ‚Kleines Gremium‘, Bremer
Tabak-Collegium

Dr. Marco Schrage
Vatikanisches Staatssekretariat, Vatikanstadt

Bernd Schreiber
Präsident
Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser,
Gärten und Seen, München

Ger Segeren
Directeur
Van Dal Mannenmode B.V., Breda

Dr. Thomas C. Sittel
Geschäftsführender Gesellschafter
Everlution GmbH, Grünwald

Johann G. Smidt
Geschäftsführender Gesellschafter
Joh. Gottfr. Schütte GmbH & Co. KG, Bremen

Tom Ole Stankewitz
Rechtsanwalt und Notar
Dr. Stankewitz & Coll., Bremen

Ralf Stapp
Vorsitzender der Geschäftsführung
Bremer Aufbau-Bank GmbH, Bremen

Dr. Bernhard Stecker
Propst
Katholische Gemeinde St. Johann zu Bremen

Johann Gottfried Stehnke
Geschäftsleitung
Gottfried Stehnke Bauunternehmung GmbH &
Co. KG,
Osterholz-Scharmbeck

Daniel Steigmann
Mitglied der Geschäftsleitung
Deutsche Bank AG, Bremen

Dr. Jacqueline Stein-Kaempfe, LL.M.
Data Protection Advisor
UNICEF New York, Rom

Cornelius Strangemann
Geschäftsführer
Lestra Kaufhaus GmbH, Bremen

Honorarkonsul Chawkat Takla
Honorarkonsul der Arabischen Republik Syrien,
Bremen
Beirat Miditec Datensysteme GmbH, Bremen

Fabian von Trotha
Managing Partner
Dieter von Holtzbrinck Ventures GmbH, Köln

André Wedemeyer
Pers. haftender Gesellschafter
Cordes & Graefe KG, Bremen

Dr. Patrick Wendisch
Geschäftsführender Gesellschafter
Lampe & Schwartze KG, Bremen
Mitglied ‚Kleines Gremium‘, Bremer Tabak-Collegium
Präsident der Eiswette von 1829

Thomas Werner
persönlich haftender Gesellschafter
Cordes & Graefe KG, Bremen

General a.D. Volker Wieker
Ganderkesee
Generalinspekteur der Bundeswehr a.D.
Mitglied ‚Kleines Gremium‘, Bremer Tabak-Collegium

Klaus Windheuser
Mitglied des Vorstands
Die Sparkasse Bremen AG, Bremen

Nils Wrogemann
Mitglied der Geschäftsleitung
Deutsche Bank AG, Bremen

Dr. Matthias Zimmermann
Geschäftsführender Gesellschafter
WWB Weser-Wohnbau Holding GmbH & Co. KG,
Bremen