Einführung – Prof. Dr. Herwig Guratzsch
Hoheit, sehr geehrte Herren!
Im weißen Saal, der später dem ursprünglichen Bau hinzugefügt wurde, haben wir uns nun zur eigentlichen Collegiumsrunde versammelt. Das spannende Thema mit Napoleons Satz „Wenn China erwacht, wird die Welt erzittern“ wird kaum jene Stimmung aufkommen lassen, die im Angesicht des Rotweins und der herrlichen Rauchwaren vor 60 Jahren von dem legendären Alttabakkollegen Dr. Albrecht Schackow etwa so umschrieben wurde:
Bedächtig ziehe ich an meiner Pfeife. Wenn ich mich zurücklehne und die Augen schließe, dringt die Unterhaltung wie fernes Meeresbrausen an mein Ohr. Meine Nase umschmeichelt der Duft einer köstlichen Mixture. Und ganz dem Genuss des Augenblickes hingegeben, bin ich zufrieden mit mir und der Welt wie lange nicht.
Nein, mit den Herren Dr. Tilman Spengler, den mit China tief verbundenen Sinologen, und mit Dr. Manfred Osten, dem langjährigen Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung, werden wir eher heftig, aufrührend und beunruhigend mit den Dimensionen Chinas und ihrer Tiefenwirkung in der Welt konfrontiert. Beide Herren – lassen Sie mich das noch bewundernd hinzufügen – sind in ihrer Expertenrolle für unser Thema mit erfolgreichen Veröffentlichungen bekannt, und sie sind zugleich mit geistesgeschichtlichen Publikationen und Vorträgen darüber hinaus erfolgreich. Unter anderem weise ich bei Tilman Spengler auf: „Wenn Männer sich verheben – Eine Leidensgeschichte in 24 Wirbeln“ (1996) und „Wahr muss es sein, sonst könnte ich es nicht erzählen. 30 Glücksfälle der Weltliteratur“ (2011) hin. Und bei Manfred Osten: „ Alles veloziferisch oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit (2003) und „Die Kunst, Fehler zu machen“ (2006). Möchte der letztgenannte Titel uns heute nicht ereilen!
Ich möchte Sie, lieber Herr Spengler, und Sie, lieber Herr Osten, nun bitten, Ihren Dialog zu beginnen!
Dr. Manfred Osten
Hoheit,
meine glücklichen Herren in Glücksburg,
lieber Herwig Guratzsch,
ich bedanke mich zunächst für die freundlichen Worte der Einführung, die mich an Don Camillo erinnert haben, der ja anlässlich einer Laudatio auf seine Person ein Stoßgebet zum Himmel gesandt hat mit der Bemerkung: „Herr, verzeih‘ diesem liebenswürdigen Manne seine Übertreibungen – und verzeih‘ mir, dass ich sie so gerne gehört habe!“
Meine Herren, zum Thema des heutigen Abends – das wird Sie vielleicht überraschen – hat sich im 20. Jahrhundert Radio Eriwan gemeldet. Radio Eriwan fragte:
„Kann Schleswig-Holstein China den Krieg erklären?“
Die Antwort lautete, wie immer: “Im Prinzip ja, aber für so viele Kriegsgefangene ist das Land zu klein!“
Meine Herren, inzwischen muss sich Schleswig-Holstein darauf gefasst machen, dass es sich immerhin um ein Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern handelt. Eine Nation, die von sich behaupten kann, dass sie die größte Handelsnation und die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist. Und dass sie über jene drei großen Parameter verfügt, mit denen man eigentlich China zum Sieger der Globalisierung erklären lassen könnte – nämlich jene drei Faktoren, die andere Nationen entweder gar nicht haben oder nur teilweise oder nur in sehr beschränktem Maße:
Das eine ist der Faktor Kapital, das andere der Faktor Arbeit und schließlich der Faktor Know-How.
Hinzufügen sollte man, dass inzwischen China mit diesen drei Faktoren auf den Wege ist zu einem geopolitischen Großprojekt: eine neue globale multipolare Weltordnung.
Die Umrisse dieser neuen Weltordnung, bei der China eine zentrale Rolle spielen will, sind zunehmend erkennbar. Wenn Sie etwa nach Lateinamerika blicken: dort entsteht der Nicaragua-Kanal, bewusst als Konkurrenz zum amerikanischen Panama- Kanal. Oder wenn Sie nach Afrika vor unsere Haustür blicken: die massive Präsenz Chinas mit Hilfe des sino-afrikanischen Kooperationsrates, der beide Partner eng verbindet in der gemeinsamen Erinnerung an die furchtbaren Kränkungen der letzten 200 Jahre durch die europäischen Kolonialmächte.
Und schließlich das große Eurasien-Projekt Chinas, die Seidenstraße, das an Paul Valéry´s Vision erinnert, Europa könnte eines Tages verstanden werden als Wurmfortsatz Asiens.
Sichtbar werden auch die neuen Umrisse, wenn Sie das Südchinesische Meer betrachten, das auf dem Wege ist zum Mare Nostrum Chinas. Wobei China – ich habe bemerkt, dass Admiräle unter uns sind – sich im Übrigen auch zunehmend bemerkbar macht in unserem Mare Nostrum, im Mittelmeer. Ganz abgesehen von Chinas Absicht, im Pazifik bis 2020 die dortige Dominanz der USA zurückzudrängen.
Und schließlich steht alles das, was ich erwähnt habe, im Zeichen einer fünffachen Sicherung. Die man nur versteht, wenn man weiß, dass China zwar ein Fünftel der Weltbevölkerung umfasst, aber nur über 7% der Anbaufläche der Welt und sehr wenige Rohstoffe und Energiequellen verfügt.
Es geht also um die Sicherung von Energie, von Rohstoffen und von Lebensmitteln, die China weltweit wie ein riesiger Staubsauger an sich zieht. Hinzu kommt die Sicherung künftiger Service- und Absatzmärkte, was in hohem Maße zum Beispiel momentan in Afrika geschieht.
Ich selber bin dort mehrere Jahre auf Posten gewesen und kann nur bestätigen, dass wir, was die Serviceleistungen betrifft, kaum noch einen Fuß auf den Boden bekommen, weil Chinesen dort präsent sind, im Familienverbund ohne Lohnkosten und mit Angeboten zum halben Preis.
Damit bin ich bei der ersten Frage an Tilman Spengler, den Sinologen. Entscheidend ist, dass diese große Erfolgsgeschichte in den letzten 30 Jahren immer wieder dem Vorwurf begegnet, eigentlich auf tönernen Füßen zu stehen.
Das heißt, China ist das Land, das die Menschenrechte gründlich missachtet. Dies allerdings in dem Bewusstsein, dass Europäer dort in den letzten 200 Jahren dasselbe getan haben. Wenn man bedenkt, dass Wilhelm II. die Chinesen noch als Hunnen bezeichnet hat und vor den Wohnungen deutscher Kaufleute in Tsingtau Schilder zu finden waren mit der Aufschrift: „Hunden und Chinesen ist das Betreten des Rasens verboten!“
Herr Spengler, wie ist das zu verstehen? Gibt es hier einen versteckten oder gar offenen Dissens in der Wahrnehmung dessen, was wir Menschenrechte nennen?
Ist dies zu verstehen vor dem Hintergrund der völlig unterschiedlichen soziokulturellen und historischen Entwicklungen? Und gibt es Erklärungsmöglichkeiten, warum heute in China diesen Vorwürfen begegnet wird mit einer Anekdote, die ich in China gehört habe. Es handelt sich dabei um einen Elefanten, der in einen Haufen von Ameisen getreten ist, die sich nun rächen wollen. Sie klettern an ihm empor, der Elefant aber schüttelt sich und sie fallen herunter. Nur einer ist es gelungen, sich am Rüssel festzuklammern. Und die, die unten nun auf dem Rücken liegen, schreien: „Egon, bring ihn um!“.
Ist das ein Bild, mit dem Sie etwas anfangen können?
Dr. Tilman Spengler
Ich glaube, es gibt kein Bild, was Sie in den Raum stellen können, lieber Herr Kollege, mit dem man nichts anfangen kann, wenn man nur lange genug daran arbeitet!
Ich werde natürlich den Teufel tun, auf eine solche fast konkrete Frage konkret zu antworten und mir nicht Ihr Privileg des Anekdotenerzählens zur Wiederbelebung des gastrischen Zustandes der Versammlung für meinen eigenen Beitrag zu Nutze zu machen.
Ganz schnell: Ich möchte mich zunächst sehr herzlich für die Einladung bedanken und diesen Dank gleich mit einem Gegenangebot revozieren: Ich bin, was Eure Hoheit, nicht wissen kann, Mitglied einer deutsch-chinesischen Historiker- Kommission, die Großartiges geleistet hat, in der Erfindung neuer historischer Beziehungen. Naturgemäß handelt es sich um eine Geheimgesellschaft.
Es wäre mir daher eine Kleinigkeit den Namen und das Schloss Glücksburg – auf Chinesisch Fu Bao – in die Geschichte der Ming-Zeit, der Qing-Zeit, der späten Yuan-Zeit einzubringen. Ich bin auch bereit, dafür Dokumente zur Verfügung zu stellen oder ein paar Arbeiter einfliegen zu lassen, die bei entscheidenden Rekonstruktionen des hiesigen Dachdeckengewölbes jene Form von Drachenmustern aus der frühen Ming Zeit wieder ans Tageslicht bringt, die recht besehen seit jeher zu Fu Bao, zu Glücksburg gehören. Der Umgang mit historischen Wahrheiten wird uns heute vielleicht noch öfter beschäftigen.
Damit bin ich aber schon wieder heraus aus dem Unseriösen und auf dem Weg zum Aktuellen, ganz nahe an dem wichtigen, von Herrn Osten aufgerufenen Punkt Menschenrechte. Ich darf Ihnen dazu eine kleine Erinnerung ins Gedächtnis rufen: wir schreiben heute den 04. Juni.
Das muss Ihnen nichts sagen, aber der 04. Juni ist in der neueren chinesischen Geschichte ein Tag, der besonders blutig in die Geschichte eingegangen ist. Es ist nämlich jener unrühmliche Tag der Niederschlagung des Protestes auf dem Platz des Himmlischen Friedens – also des Tian‘anmen. Diesen Umstand erwähne ich nicht nur, weil es ein Gebot der Erinnerung einfach der 04. Juni, der Tag des Schreckens ist, sondern, weil wir beide im weiteren Verlauf des Gespräches auf ein ganz entscheidendes Thema in unserem Verhältnis mit China bzw. der VR China zu sprechen kommen werden. Das ist die Frage: Wie gehe ich mit Geschichte um? Was akzeptiere ich an Geschichte, wofür übernehme ich Verantwortung? Wie blicke ich auf Geschichte um gleichsam durch diesen Blick einen Blick wiederum auf meine eigene Identität zuzulassen.
Das ist auch deswegen wichtig, wenn wir an den schwelenden Konflikt, an das sehr, sehr bedrohliches Szenario der Auseinandersetzungen im südchinesischen Meer denken. In diesem Szenario steckt nun in der Tat mehr als nur ein kleiner Hauch von Ukraine. Es geht – wie immer – um historische Ansprüche aus mehreren Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Diese Ansprüche sind juristisch alle in viele Richtungen wendbar, wie es eben häufig eintritt ist, wenn sich verschiedene Länder an verschiedene historische Tatsachen erinnern und diese, interessengeleitet, darauf so oder anders darstellen.
Über China lässt sich nun sagen, dass dieses Land sozusagen der große Virtuose der politischen Geschichtsgestaltung ist. Jede Dynastie, um nur ein schnelles Beispiel zu geben, hat zu Beginn ihrer Herrschaft zunächst einmal damit begonnen, die Geschichte der vorausgegangenen Dynastie umzuschreiben, wobei vieles umgedeutet, manches verschwiegen werden musste. Und diese Tradition zieht sich fort in die Gegenwart: der 4. Juni 1989 darf vorerst in dieser Gegenwart nicht vorkommen.
Lassen Sie mich noch ein Zweites anfügen: als Napoleon, um auf die freundlichen Einführungsworte zurückzukommen, als Napoleon sagte, das chinesische Reich ist wie ein schlafender Drache und wehe, wenn es sich erhebt, tat er diesen Ausspruch im ausgehenden 18. Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Ausspruch galt einem Volk oder einem Reich, das natürlich nie daran gedacht hätte, zu sagen, wir befinden uns im 18. oder im 19. Jahrhundert. Die Herrscher des chinesischen Reiches und ihr Volk sagten, wir befinden uns in der Dynastie oder in der Ära Jiaqing. Der Kaiser bestimmt die Zeit, in der seine Untertan leben, denn er ist auch Herr über den Kalender. Jiaqing lautete die Regierungsdevise des Kaisers, man kann das mit „Vielversprechendes Glück“ übersetzen, doch tatsächlich befand sich das Reich auf dem Weg in den Untergang.
An dem Sprachbild vom Schlaf stimmt übrigens mehr als zunächst ins Auge springt. Denn wenn wir über diesen „Schlaf“ einmal nachdenken, dann hängt jener Schlaf auch damit zusammen, dass in der Regierungszeit von Napoleon oder seinem chinesischen Herrscher Kollegen, Opium nach China eingeführt wurde. Die meisten Maßnahmen der ersten zehn Jahre des Jiaqing Kaisers bestanden in Versuchen, korrupte Beamte, insbesondere opium-korrupte Beamte, aus ihren Posten zu verjagen. Mit sehr drakonischen Strafen. Und mit sehr geringem Erfolg. Dem Land drohte der Zerfall, die Gefährdung kam über das Meer, aus dem Süden, dorther, wo die westlichen Handelsschiffe ihre Ware ablieferten.
Ich zeichne hier nur die Tupfer eines Bildes und kann Zusammenhänge nur andeuten, will damit Ihre Aufmerksamkeit aber auch schnell auf die assoziativen Zusammenhänge: Süden, das Meer, Bedrohung des Reiches durch Ausländer, Korruption lenken.
Und wenn Sie Freude an einer Pointe haben, hier noch schnell ein Zusatz: der höchste Beamte, der damals zum Tode verurteilt wurde, erhielt diese Strafe für die Veruntreuung von 800 Mio. Silberunzen, was ziemlich genau der Summe entspricht, deren Erschleichung im letzten Jahr einem hohen Mitglied des Politbüros vorgeworfen wurde. Fast könnte man von einer historischen Kontinuität sprechen.
Lassen Sie mich aber noch auf etwas anderes hinweisen: was Napoleon damals nicht bedachte, als er über diesen schlafenden Drachen sprach, war, dass dieser Drache sich in seiner Geschichte schon häufiger in den Schlaf begeben, stets aber machtvoll wieder aufgestanden war. Das heißt die Geschichte des chinesischen Kaiserreiches seit 200 v. Chr. war immer wieder eine Geschichte von Niedergang und Aufstieg. Auch das ist ein bleibendes Vermächtnis. Die Geschichte verläuft eben in Zyklen.
So bleibt im nationalen Gedächtnis der Chinesen beides erhalten: Die Möglichkeit der Rückkehr zu imperialer Macht und die Erinnerung an das erlittene Unrecht, a n den Verlust der Souveränität in den Jahrzehnten und Jahrhunderten nach der erzwungenen Betäubung durch Opium. Beides sind konstitutive Merkmale für das chinesische Selbstverständnis, den nationalen Stolz, wenn sie so wollen, für die nationale Identität. Mit diesem volkspsychologisch-historischen Komplex wollen wir Erben der westlichen Kolonialmächte ungern umgehen. Und wenn wir damit umgehen, gehen wir wiederum oft sehr falsch damit um, wenn wir sozusagen mit einem vorauseilenden Kotau-Bekenntnis sagen: oh Gott, was waren wir alle schrecklich!
Nein, natürlich war die Geschichte viel komplexer, nur spielt das keine große Rolle, wenn die politische Macht zur Mobilisierung ihrer Untergebenen stets auf diesen Mythos zurückgreifen kann. Wir werden gewiss später noch darüber reden.
Und damit komme ich auf die Frage der Menschenrechte weil es auch hier wieder um die Frage geht, wie sehen wir den Anderen, wie projizieren wir den Anderen?
Menschenrechtsdiskussionen, das weiß Herr Osten viel besser als ich, gibt es bereits in den Zeiten der griechischen Klassik, besonders virulent wurde das Thema in den Zeiten der französischen Aufklärung, im 18. Und 19. Jahrhundert. Ich bitte Sie jetzt, einen Punkt dabei ganz besonders zu beachten: Die Konzeption von Menschenrechten in Europa und in China ist in einem ganz fundamentalen Punkt unterschiedlich angelegt. Die chinesische Betrachtungsweise ist der europäischen fundamental entgegengesetzt. Für uns gilt seit Rousseau oder an welchen Philosophen wir da immer denken: Menschenrechte sind die Rechte, die einem Menschen seit seiner Geburt zustehen, sind inalienable rights, wie es in Amerika heißt.
Die chinesische Auffassung ist immer die andere gewesen. Sie besagt, schlicht ausgedrückt: Menschenrechte sind etwas, was der Staat den Menschen verleiht. Das heißt, es ist ein Recht, das von der Regierung an die Regierten übertragen wird.
Dieses Konzept ist nun auch noch in ein marxistisches Gewand geschneidert. Marxisten unterscheiden ja zwischen dem materiellen Unterbau und dem ideologischen Überbau, zu dem auch das Rechtswesen gehört. Es gibt in diesem Schema Menschenrechte der Klasse 1 und der Klasse 2, die Rechte der ersten Klasse beziehen sich auf die materielle Versorgung der Bevölkerung, erst hernach kommt man zu den Rechten der Klasse 2. Je weiter der Unterbau gereift ist, das heißt je weiter die Menschen genug zu essen haben, krankenversichert sind, etc. erfüllen sich die Menschenrechte der Klasse 1. Die Menschenrechte Klasse 2 , in etwa das, was wir mit bürgerlichen Rechten beschreiben würden, enden irgendwann bei Punkt 11. Und Punkt 11 ist die Versammlungsfreiheit.
Das heißt wir haben es hier mit zwei völlig unterschiedlichen Konzepten zu tun. Es sind zwei verschiedene ontologische, ideologische, wenn Sie so wollen, auch systemtheoretische Konzepte die einander entgegenstehen. Diese beiden Konzepte miteinander in Berührung zu bringen, wäre die Aufgabe unserer Politiker und all jener, die sich an dem Projekt „Menschenrechtsdialog“ beteiligen. Denn es ist ja eher billig, stets überall nur Ärgernisse wahrzunehmen: In Tibet, in der Strafjustiz, bei der Verbreitung „abweichender“ Meinungen, um hier nur die häufigsten topoi zu nennen. Aber ritualisierte Empörung bringt uns kaum weiter, im Gegenteil, sie befestigt nur den status quo.
Nein, ich plädiere deswegen keineswegs für Wegsehen oder Verschweigen. Mir ist sehr wohl bekannt, welche Grausamkeiten zur Sprache gebracht werden müssen. Ich plädiere nur für einen Aufbau der Diskurse, der nicht nur den Balken im Augen des Anderen sucht und inkriminiert, sondern der versteht, dass Lösungen erst durch eine genauere Erkenntnis von Ausgangslagen erzielt werden können. Erst wenn wir das erreichen, können wir hoffen, dass dieser Aufbau nicht auf tönernen Füßen steht.
Dr. Manfred Osten
Vielen Dank.
Ich denke wir sollten kurz ergänzen, Sie haben das Stichwort genannt: Ukraine. Der große Sieger auch in diesem Konflikt ist China. China hat es geschafft, dass nun Russland eingeknickt ist und endlich zu chinesischen Bedingungen die große terrestrische Pipeline aus Sibirien genehmigen musste. Auch hier ist China der große globale Sieger.
Das andere ist das chinesische Selbstverständnis. Ich glaube, nur wenigen ist bewusst, dass China nicht China heißt, sondern Zhungguo. Zhungguo aber heißt „Reich der Mitte“. Das gilt unverändert bis heute! Und daraus ergibt sich eine große Differenz im Vergleich zu den engen national-orientierten Bewusstseinshorizonten in Europa.
Und schließlich zum Thema 4. Juni: Ich denke, dass in einem Riesenreich , in welchem, wie wir heute wissen, etwa 120 000 kleinere und größere Revolten jährlich stattfinden, von Anfang an die Frage dominant war, wie man das größte denkbare Chaos, Luàn auf Chinesisch, vermeiden kann. Das heißt, man muss sich China vorstellen als ein gigantisches Reich der Disharmonien mit unzähligen Sprachen, Ethnien, Regionen und Religionen. Ein Reich also, das man offenbar nicht nach dem basisdemokratischen Prinzip von Stuttgart 21 regieren kann. Die einzige Möglichkeit, das Chaos als die größte Urangst der Chinesen im Reich der Disharmonien zu vermeiden, ist eine Herrschaft, die dem Volk Wohlergehen als Gegenleistung für Gehorsam als reziproke Pflicht zusichert. Wenn wir also die Menschenrechtsverletzungen, die gerade erwähnt wurden, zu Recht missachten, so sollten wir aber gleichzeitig sehen, dass es sich hierbei um die Bewältigung von Disharmonien handelt in Größenordnungen, die wir in Europa so nicht kennen. Und dies mit einer Chaos-Gefahr, die wir ebenfalls so nicht kennen und auch im eigenen Interesse nicht wünschen sollten.
Außerdem fehlt in unserer Welt, in der sich Demokratien vergleichsweise in winzigen Einheiten, etwa der griechischen Polis, entwickelt haben, jede Erfahrung dafür, wie die Idee der Demokratie in einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen erfolgreich realisiert werden könnte.
Herr Spengler, Sie haben erwähnt, dass der europäische Mensch in der Tat mit Freiheitsrechten, – ansprüchen und -forderungen ausgestattet ist.
Ich wurde in diesem Zusammenhang allerdings immer wieder darauf hingewiesen, dass nach chinesischer Ansicht die Französische Revolution einen großen Fehler begangen habe: Sie habe zwar die Menschenrechte proklamiert aber nicht die Menschenpflichten!
Im Lun Yü, den Gesprächen des Konfuzius mit seinen Schülern, wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Mensch eben nicht mit Rechten geboren wird, sondern mit Pflichten. Die höchste Pflicht, die er hat, und die nie abgetragen werden kann, ist die Dankespflicht. Für was? Für das höchste Gut, das er erhalten hat durch seine Eltern, nämlich das Leben.
Und aus dieser Denkweise entstand in China früh eine stark Familien-orientierte Gesellschaftsordnung, die auf reziproken Pflichten basiert. Wobei im Übrigen unser Begriff der Rechte ohnehin im Chinesischen mit einer negativen Konnotation verstanden wird. Um diese Pflichtenordnung zu verstehen, sollte man kurz einen Blick werfen auf die Tatsache, dass die Dominanz der Pflichten existenznotwendig war und ist, um die andere große Urangst der Chinesen zu verhindern: das Verhungern. Eine Urangst, die unter Mao Zedong erneut Wirklichkeit wurde, als über 40 Millionen Chinesen den Hungertod starben. Das Überleben in China aber ist seit jeher abhängig von einer hydrologischen Reisbauernkultur mit der kollektiven wechselseitigen Pflicht des Nehmens und Gebens des Wassers. Nur durch das Kollektiv also kann das Überleben gesichert werden.
Während sich im Abendland die Freiheitsrechte einer extremen Individual- und Streitkultur entwickelten, hielt China fest an einer für das Überleben notwendigen Harmonie- und Konsenskultur des Kollektivs. Getragen von der Überzeugung, dass in Not und Gefahr nur die Gruppe überleben kann, während der Einzelne es riskiert unterzugehen. Der chinesischen Sprache ist im Übrigen daher auch der Begriff des Individuums eigentlich fremd.
Dr. Tilman Spengler
Nein, da darf ich einmal herzhaft widersprechen. Mir fehlt zunächst einmal der Glaube an den Zusammenhang von Sprachform und Lebensführung, um es mit Max Weber zu sagen. Doch über den Individualismus ist noch sehr viel mehr zu vermelden. Ich werde Sie jetzt fünf Minuten lang kulturhistorisch belämmern müssen, doch da müssen wir durch.
Klar, der Begriff des Individualismus – er heißt auf Chinesisch: Gèrén zhuyi – ist kein chinesischer Begriff. Er wurde von den Japanern Ende des 19. Jahrhunderts, irgendwann gegen 1870, erstmals verwandt, ein Lehnwort aus dem Englischen. Es wurde in Japan schnell populär und wanderte über dort studierende Studenten aus China ins Reich der Mitte. Nun klingt es in meinen Ohren jetzt so als sagten Sie, wenn ein Volk keinen Begriff für, sagen wir, Psychoanalyse hätte, würde es vielleicht nicht einmal die Vermutung wahrnehmen, dass der Mensch eine Seele hat, die manchmal rätselhaft ist und meistens mit der Mutter zusammenhängt.
Das wäre natürlich eine eher kühne Annahme.
Denn der philosophische Begriff Individualismus ist ja nur eine Übersetzung für sehr viele mögliche Wahrnehmungen des Individuellen. Wenn Sie in die chinesische Kunstgeschichte gehen, haben Sie natürlich immer voll ausgebildete Individualismen, sei es in der Malerei, in der Dichtkunst, in den Liedern. Bleiben wir nur bei der Malerei: Jedes Bild in der chinesischen Kunstgeschichte trägt natürlich eine Signatur und in aller Regel auch noch ein Kolophon, das dem Werk seinen ganz speziellen Ort in der Geschichte zuweist. Nicht signiert wurden meist nur Porträts, was aber nichts mit der fehlenden Wertschätzung einer Person zu tun hatte. Porträts galten, grob gesagt, als Schnapsschüsse, also Fotografien, die so kunstlos waren, dass man sie nicht signierte. Doch die Werke der schönen Künste trugen natürlich den Namen oder den Stempel des Künstlers. Und das man den Namen wechseln konnte, bedeutete keineswegs, dass die Person unverwechselbar war, sie hatte nur verschiedene Erscheinungsformen.
Aber es gab immer die Zuordnung: hier ist ein Mensch, hier ist ein Schöpfer, bei uns hätte es vielleicht Genie geheißen.
Wenn Sie, ein weiteres Beispiel, in die chinesische Dichtkunst blicken, finden Sie durch die Jahrtausende stets das Motiv des Einsamen, des Ausgeschlossenen, des von einem geliebten Menschen verlassenen Menschen, der über sich und das Schicksal nachdenkt. Dieses sich als allein und einzigartig zu erkennen ist natürlich die Quintessenz des Individualismus, selbst wenn der noch nicht seinen Platz im Kanon der philosophischen Begriffe gefunden hat.
Dazu gehört genauso essentiell auch die Klage über das Nichtverstanden werden, gerade durch das andere Geschlecht. In einer Herrengesellschaft wie diesem Collegium, kann man das ja ungeschützt lobend hervorheben.
Noch ein weiteres Beispiel: Manche von Ihnen haben vielleicht einmal die Armee von Qín Shǐhuángdìs, dem ersten Einiger des Reiches, also die berühmte Terrakotta- Soldaten-Armee gesehen. Bei genauem Betrachten werden Sie feststellen, dass jedes Fünfte dieser – sind es 12, sind es 20 Tausend Soldaten? – dieser Terrakotta- Artefakte signiert ist.
Das scheint völlig absurd, weil gerade jene Zeit Kaisers Qín Shǐhuángdìs, als Vorform eines gesichtslosen, in vielen Zügen proto-totalitären Regimes gilt. Da war die Nase fast so schnell ab, wie der Kopf. Trotzdem begegnen wir schon dieser kleinen Form des Individualismus.
Jede fünfte, vielleicht auch jede siebte Statue trägt den Namen desjenigen, der sie erstellt hat. Ist das eine frühe Äußerung von Individualismus? Gewiss! Doch hier gelangen wir an eine Stelle, auf die Herr Dr. Osten vorhin mit vollem Recht hingewiesen hat: Es gibt eben verschiedene Bezugspunkte! Hier erscheint der Individualismus gleichsam aus der forensischen Perspektive. Er ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass der Betrachter sagt, toll, hier hat jemand einen wunderbaren Ritter aus Terrakotta geschaffen und sein Name ist Hansi Wang. Es geht vielmehr darum: hier ist einer verantwortlich und kann für sein Werk bestraft werden.
Diese Form der Individualisierung hatte sozusagen eine zweifache Funktion. Der Untertan wurde hervorgehoben und haftbar durch seinen Namen, den Rest erledigte das chinesische Strafrecht.
Um es mit einem sehr bekannten chinesischen Sprichwort zu sagen:
Rén pà chu míng, zhu pà zhuàng.
Der Mensch hüte sich vor der Berühmtheit
wie das Schwein vor dem Fettwerden!
Der Schriftsteller Thomas Bernhard hätte an dieser Stelle weise gesagt:
„Einerseits, andererseits …“
Dr. Manfred Osten
Ich denke, vor diesem Hintergrund sollten wir jetzt die zentrale Frage stellen: Wie war es möglich, dass China in den letzten 30 Jahren zu einer beispiellosen Erfolgsgeschichte aufbrechen konnte?
Chinesische Sozialwissenschaftler haben darauf hingewiesen, dass im Grunde seit Deng Xiaoping etwas geschehen ist, was 1697 Gottfried WilhelmLeibniz mit seiner Schrift „Novissima Sinica“ (Das Neueste aus China) bereits gewollt hat für Europa: nämlich die Überwindung des Chaos des 30jährigen Krieges durch Rückgriff auf die meritokratischen Leistungs- und Bildungsideale des Konfuzianismus.
Wir sollten daher darüber sprechen, wie es möglich war, dass in China auf diese Weise der von mir eingangs erwähnte Erfolgsfaktor des Know how generiert werden konnte. Mit dem Ergebnis, dass China es bereits 2011 geschafft hat, vom Imitator zum Innovator zu avancieren und zum größten Patentanmelder der Welt zu werden.
Das ist eine Entwicklung, bei der wir nicht davon ausgehen können, dass sie vom Himmel gefallen ist, sondern dass hier rigoros ein Erziehungs- und Bildungssystem eingeführt wurde, mit dem man bewusst nicht wie zu Zeiten der kaiserlichen Beamtenausbildung auf die fünf großen kanonischen Schriften des Konfuzius zurück gegriffen hat. Man hat vielmehr gezielt jene Disziplinen gefördert, mit denen die Europäer China über 200 Jahre hinweg tief gekränkt haben. Dies gilt vor allem für die Bereiche der Technik und der Naturwissenschaften und deren Basis, die Mathematik.
Das sind die Fächer, die in China auf eine Weise forciert wurden und werden, wie wir uns das überhaupt nicht vorstellen können. Man muss sich vor Augen führen, dass in China allein jährlich etwa 600.000 Ingenieure die Hochschulen verlassen; dass 6 Millionen jährlich erfolgreich ein Universitätsstudium abschließen; dass dort 1.500 Schulstunden jährlich stattfinden, also doppelt so viele wie bei uns; und dass inzwischen 40 Millionen Forscher ausgebildet worden sind im Bereich Forschung und Entwicklung. Und dies alles, um erfolgreich den Faktor Know How zu generieren.
Es würde mich interessieren, wie Sie das beurteilen.
Dr. Tilman Spengler
Es ist sehr, sehr wichtig, dass man darauf hinweist. Ich versuch es kurz zu machen in einem Viererschritt.
Die erste Bemerkung ist ganz allgemeiner Natur: ich glaube, dass Wissenschaft im klassischen Sinne von Grundlagenforschung, unter bestimmten sozialen und institutionellen Bedingungen besser gedeiht, als unter anderen institutionellen Bedingungen.
Die Bedingungen eines sozialistisch-stalinistischen Staates wie die frühe Volksrepublik sind für die Entwicklung von wissenschaftlicher Neugier, höflich gesagt, eher suboptimal. Diese Bedingungen taugen auch im Fall China schlecht für allgemeine Aussagen über ein kreatives Potential. Denken Sie nur daran, wie viele Nobelpreisträge aus den naturwissenschaftlichen Disziplinen chinesische Namen tragen. Die haben aber in der allergrößten Mehrheit ihre bahnbrechenden Entdeckungen in westlichen Labors gemacht. Es geht also schlichtweg um optimale Organisationsformen – und auch um die Möglichkeit eines relativ freien Austauschs von Informationen.
Es war Deng Xiaoping, der, Herr Osten hat darauf hingewiesen, nach 1976 oder mehr noch nach 1978/1979 die Schaffung der Bedingungen oder zumindest den Anfang der Schaffung der Bedingungen für ein relativ freies wissenschaftliches Forschen durchsetzte. Das zündete natürlich wie die ersten Kracher eines chinesischen Feuerwerks zum Neujahrsfest.
Die Explosion war aber auch nicht so stark und so schnell, wie sie möglich gewesen wäre, weil es in den Kreisen der Wissenschaftler nach den schrecklichen Jahren der Kulturrevolution eine sozusagen rehabilitierende Meritokratie gab. Verjagte Wissenschaftler wurden oft nach Jahrzehnten der erzwungenen Untätigkeit wieder in ihre alten Posten eingesetzt.
Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt, der gerade erwähnten Meritokratie. Meritokratie bezeichnet die Herrschaft, die Verehrung derer, die sich Verdienste erworben haben. Die Betonung liegt auf dem Wort „haben“. Wenn sich diese Verehrung mit den traditionell starken Formen des Konfuzianismus mischt, also der Verehrung des Älteren oder der Verehrung des Dienstherren, dann steht man vor einem Problem. Man muss nämlich den für die Wissenschaft konstitutiven Geist des Widerspruchs fördern, zumindest zulassen. Da stieß anfangs auf große Schwierigkeiten, vergessen wir nicht, die Kader der Kommunistischen Partei standen überall Pate.
Mein dritter Punkt: Selbstverständlich konnten sich seit den mittleren 80er , noch auffälliger nach den mittleren 90er Jahren unendlich viele Talente entwickeln. Ich warne aber hier vor einer zu großen Gläubigkeit in Statistiken. Immer wieder ist die Rede von mehreren 100 000 Ingenieuren, die wie aus einer Legebatterie von Pisa in die Produktion entlassen werden. Vor soundso vielen hochqualifizierten Fachkräften oder staunenswerten Zuwachsraten im Bereich des „brain capital“. Man soll sich für das Land darüber freuen, man sollte aber nicht alarmiert sein. Denn gefördert wird weniger die freie inquisitorische Neugier auf technische oder naturwissenschaftliche Zusammenhänge, gefördert wird die Erreichung eines Produktionsziels – und das oft mit fragwürdigen Mitteln.
Damit gelange ich zu meinem vierten Schritt: dem Punkt Imitation vs. Innovation:
Wir alles wissen, was in dieser von Herrn Osten völlig zu recht aufgeworfene Frage steckt. Wir kennen auch ein paar der historischen Implikationen. Als Deutsche erinnern wir uns besonders gut, warum das Qualitätssiegel ‚made in germany‘ eingeführt wurde. Klar, weil die Deutschen so viel kopiert haben – selbst während der Glanzpunkte unserer ingenieur-zivilisatorischen Geschichte. Wir wissen, dass Nachahmen auf eine erfreuliche oder unerfreuliche Weise dazugehört, wenn es um das Erreichen von Standards geht.
Über die Frage, was hier wünschenswert, was kriminell ist, will ich nur am Rande eingehen, doch es sei mir der Hinweis gestattet, dass hier die Frontverläufe einigermaßen wild verlaufen. Klar, wir alle kennen die grotesken Sportschuhe mit den vier Streifen und den Whisky „Queen James“, wie kennen Schlimmeres von den Werkzeugmachern und aus der Elektroindustrie.
Man sollte aber auch darauf hinweisen, dass manche Kapitäne unserer deutschen Wirtschaft in ihren China-Geschäften unendlich freizügig waren beim Verteilen von Patenten, wenn sie im Gegenzug für den nächsten Bericht vor dem Aufsichtsrat einen neuen Marktanteil melden konnten, den sie sich nicht im freien Wettbewerb, sondern durch die Überlassung von know how gesichert hatten. Im Übrigen hat mittlerweile der Patentschutz in China einen eigenen, recht robusten Stellenwert gewonnen. Wenn Sie sich die Gesamtzahl der Verfahren anschauen, die in China wegen Patentverletzung verhandelt werden, so liegt der Anteil innerchinesischer Rechtsstreitigkeiten zwischen 70 und 75%. Das heißt, hier ist auch ein Prozess in Richtung – ich will es noch nicht Rechtsbewusstsein nennen – aber in Richtung Wertschätzung des schützenswert Innovativen eingeleitet worden.
Was sich allerdings beim Ausspähen technischer Verfahren im Internet abspielt, entzieht sich meiner Kenntnis. Gut möglich, dass hier, was die Virtuosität betrifft, nur noch Liebhaber kulturelle Feinheiten unterscheiden können.
Ich lebe übrigens auf einem Dorf in Bayern, und ich finde nie einen Handwerker oder Ingenieur, und wenn da ein Chinese käme wäre es mir grad recht. Ich habe nicht diese Urängste, aber ich spreche ja auch ein wenig Chinesisch.
Dr. Manfred Osten
Wir sollten das noch ergänzen mit dem Hinweis: Deng Xiaoping konnte von einem weiterhin existenten enormen Bildungseros bei den Eltern ausgehen. Das bedeutet, dass zum Beispiel im letzten Jahr allein die Rücklagen der Eltern für die Ausbildung ihrer Kinder über 110 Milliarden US-Dollar betragen haben. Und dies zu ganz niedrigen Zinsen , mit dem Ergebnis, dass der Staat damit arbeiten kann. Der chinesische Erfolgsfaktor Kapital wird auf dem Umweg über die Bildung also nachhaltig begünstigt durch den Faktor des Know How-Erwerbs.
Deng Xiaoping wusste, dass in China weiterhin fraglose Bereitschaft besteht, sich einem wirklichen Lerndrill zu unterwerfen. Ich möchte hierzu etwas vorlesen, damit wir einen Einblick gewinnen, wie dieser Lerndrill in China konkret aussieht. Ein deutscher Lehrstuhlinhaber für Didaktik der Mathematik an der Goethe- Universität in Frankfurt hat wie folgt die Ergebnisse seiner Recherchen im Fach Mathematik evaluiert. Wobei er zurückgreifen konnte auf Langzeitstudien in Shanghai und Hangzou.
„Ich gebe zu, ich war fasziniert. Die Schüler konnten die ihnen gestellten Aufgaben in der Klasse in Windeseile lösen. Der Unterricht wurde durch neue Medien unterstützt und es herrschte eine unglaubliche Disziplin in der Klasse, obwohl mehr als 40 Schüler anwesend waren. Und jetzt auch noch diese PISA-Ergebnisse.“
Meine Herren, Sie alle wissen, China, Korea, Japan und Vietnam – also die durch China konfuzianisch geprägten Länder Asiens – sie alle rangieren bei den Pisa- Studien in Mathematik nach wie vor an den ersten Stellen. Wir dümpeln weit abgeschlagen hinterher. Ich fahre jetzt fort im Text:
„Woher kommt dieser Erfolg? Was kann man von China lernen? Zum einen ist es der hohe Respekt vor dem Fach Mathematik. In China würde niemand mit einer schlechten Mathematik-Note kokettieren wie bei uns. Der hohe Stellenwert dieses Faches zeigt sich auch in der Stundentafel: zwischen 6 und 7 Stunden in der Woche. Nach jeder Unterrichtsstunde gibt es schriftliche Hausaufgaben, die der Lehrer korrigiert und den Schülern so eine Rückmeldung gibt. Allerdings werden die Schüler zusätzlich zu den Hausaufgaben verpflichtet zum Selbststudium vor und nach dem Unterricht, denn im chinesischen Mathematik-Unterricht gibt es keine Wiederholungen, sondern jede Stunde immer wieder neuen Stoff, den man am besten vorher im Buch angeschaut hat, denn das einzige Ziel der Schüler ist es, in den zwei großen Prüfungen, der zhong kao (nach Klasse 9) und der gao kao (nach Klasse 12) sehr gut abzuschneiden.
Diese Tests sind die Fortschreibung der jahrhundertealten chinesischen Prüfungskultur der Bestenauslese, also der Beamtenauslese. Nur wer im zhong kao gut ist, schafft es auf eine gute Oberschule und nur wer am Ende der 12. Klasse die gao kao sehr gut absolviert, darf eine der Top-Universitäten besuchen.
Man muss sich klar machen: Die gao koa ist ein nationales Großereignis und findet im ganzen Land zum gleichen Zeitpunkt statt. Und da die Kinder nach chinesischer Tradition den Eltern Ehre zu bringen haben, ist der gesamte Unterricht auf die Prüfungen in Mathematik, Chinesisch, Englisch und Naturwissenschaften ausgerichtet.
Dass das nicht mit Schulunterricht zu schaffen ist, davon zeugen zahllose Übungsund Testhefte, die ganze Stockwerke in Lehrbuchhandlungen in Beschlag nehmen. Und da das immer noch nicht reicht, bevölkern Nachhilfeinstitute ganze Straßenzüge.“ Meine Herren, man muss sich fragen, ob wir das wollen. Aber andererseits möchte ich hinweisen auf die Warnung von Peter Gruss, dem bisherigen Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, der vor diesem Hintergrund sagt: “Wir haben hier in Deutschland einen absoluten Mangel an Absolventen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern. Die Industrie spricht von über 70.000. Wir müssen unser Augenmerk absolut inzwischen auf gut ausgebildete Leute aus dem Ausland richten. Nur das hilft uns überhaupt weiter in der Wissenschaft und in der Industrie.“
Übrigens kann Herr Spengler hierzu auf einen großen Erfolg hinweisen, an dem er selber beteiligt war: Beim ersten Besuch der Max-Planck-Gesellschaft in China wurde diese mit rotem Teppich festlich empfangen. Man ging nämlich damals davon aus, dass diese Gesellschaft Marx-Planck-Gesellschaft heißt.
Dr. Tilman Spengler
Vielen Dank für die Anekdote. Ich hab mich kaum noch daran erinnert. Das war damals wirklich sehr interessant, weil Marx und Max im Chinesischen vom selben Zeichen repräsentiert werden. Die Geschichte spielt noch am Ende der Kulturrevolution und keiner unserer chinesischen Gesprächspartner aus der Parteiführung hatte eine Ahnung, wer dieser Planck war. Aber das mit dem Marx hat gesessen. Aus meiner Sicht stimmt das alles, was Herr Osten gesagt hat und genauso, was er zitiert hat. Aber man muss sich leider auch hier eine soziale Dimension vorstellen, nämlich: Einen Druck-Klima auf Kinder, nicht nur auf Mathematik-Studenten, generell auf Schüler, von der Kita zum Kindergarten, vom Kindergarten in die Vorschule, stets der Kampf um die ersten Plätze, ein erbarmungsloser Wettbewerb, der in unseren Begriffen schwer auszudrücken ist. Ob wir das übernehmen wollen ist hier eine selten seriös gestellte Frage.
Es ist aber eben auch so, dass dieser Wettbewerb zu voraussehbaren Resultaten und zwangsweise auch zu anderen gesellschaftlichen Erscheinungen führt. Ich nenne hier nur die Korruption unter Lehramtskandidaten oder die Korruption unter Lehrern. Die Höhe der „Geschenke“, die ein Lehrer für eine gute Note erwartet, hat in einem so exponentiellen Wachstum zugenommen, dass gerade diese Phänomene in dem neuen Plan gegen die weitverbreitete Korruption in der chinesischen Gesellschaft, die ja von der Staatregierung selber ausgelöst worden ist, einen besonders hervorgehobenen Platz gefunden hat.
Wir kommen damit zurück zu dem, was Herr Osten gleich am Anfang völlig zurecht gesagt hat, die verfügbaren Grundgüter sind gering und die Zahl der Menschen ist groß. Es entstehen dabei bestimmte soziale Härtefälle und bestimmte soziale Spannungen und mit denen muss man dann irgendwie auf die eine oder andere Weise rechnen und man wird ihnen auf die ein oder andere Weise begegnen müssen.
Die oft zähneknirschenden Freunde des Landes stellen sich manche Lösungen anders vor und haben dabei natürlich immer den Nachteil, dass man vor Ort wiederum zu ganz anderen Lösungen kommen kann.
Wir haben heute über so viele verschiedene Punkte geredet, dass mir vor einer vorletzten kleinen Anmerkung fast bange ist. Ich traue mich nur, weil unser Generalthema ja von der Angst vor dem Drachen handelt:
Wenn Sie einmal die seriösen deutschen Tageszeitungen anschauen, dann finden Sie bei allen Diskussion, sei es um das Bildungssystem, sei es um die Auseinandersetzung im südchinesischen Meer, sei es um die Afrika-Politik, die weiß Gott auch umstritten sein kann, dann finden Sie immer diesen merkwürdigen, etwas mantraförmigen Zusatz, die Volksrepublik ist wieder auf dem Weg eine Supermacht zu werden.
Das ist in meinen Augen sehr töricht.
Es ist nicht das Ziel der chinesischen Politiker eine Supermacht zu werden, sondern das Ziel der chinesischen Politiker ist das Ziel der meisten Politiker, wenn man ihnen denn irgendein Vertrauen entgegen bringen kann, Probleme zu lösen, die ihr Land bedrängen. Und da greifen sie zu der einen oder anderen Lösung, die wir für tollkühn, für waghalsig, für absolut gefährlich oder für menschenverachtend halten. Aber auch die Amerikaner wollen Drachen sein, die Russen, schon ihrem Schutzpatron zu Liebe wenigstens Drachentöter. Das alles sind in meinen Augen Inszenierungen, die wir auf ihren rationalen Gehalt abklopfen müssen.
Dr. Manfred Osten
Mit Blick auf die fortgeschrittene Zeit sollten wir zum Schluss doch zum Faktor Know How noch das Thema erwähnen, über das Sie selber publiziert haben, nämlich die Staunen erregende Wissenschaftsgeschichte Chinas. Wobei Needham, der bedeutende englische Wissenschaftshistoriker, nachgewiesen hat, dass China ohnehin bis zum 14./15. Jahrhundert der absolute Technologieführer der Welt gewesen ist. Ein Bewusstsein, das in China durchaus präsent ist und einen Hinweis liefert für die Richtung, die das Land im Know How-Bereich inzwischen anstrebt. Wobei in diesem Zusammenhang sich die Frage aufdrängt, ob hierbei möglicherweise so etwas wie ein Nullsummenspiel zwischen Wachstum und Kollateralschäden stattfinden könnte. Die Stichworte der entsprechenden Probleme lauten unter anderem bekanntlich: 250 Millionen Wanderarbeiter, die alternde Gesellschaft und die Erosion der Umwelt.
Aber ist das tatsächlich so?
Allein in den letzten 2 – 3 Jahren hat es China geschafft, durch bloße Windkraft- Energie als neue und absolut prioritäre Zielsetzung zurzeit 115 Gigawatt Energie jährlich zu produzieren. Das ist mehr Energie, als sämtliche Atomkraftwerke in den USA produzieren. Das heißt, China ist auf dem Wege, auch mit Hilfe gerade deutscher Umwelttechnik zu einem Spitzenreiter im Bereich erneuerbarer Energien zu werden.
China ist also das Land, das, wie Sie gesagt haben, Hilfen annimmt, um sie weiterzutragen und weiterzuentwickeln, und das über den hierbei besonders wichtigen Faktor Kapital verfügt, um ganz gezielt in zukunftsorientierte Technologien investieren zu können.
Womit sich schließlich die Frage stellt: Was können wir eigentlich dem entgegenhalten, weil wir in diesem Umfang nicht gezielt genug investieren?
Dr. Tilman Spengler
Ich würde es gerne dem Publikum überlassen, hierauf eine Antwort zu finden.
Und zwar erstens, weil ich nicht gescheit genug bin, um die Frage zu beantworten, und zweitens, weil ich nicht weiß, was das historische ‚wir‘ ist, das Sie gerade angesprochen haben. „’Wir’ als Deutsche? ‚Wir’ als Unternehmer, als Gewerkschaftler, als gläubige Christen, als agnostische Akademiker?
Wenn ich einen Teil dieses ‚Wir’ spontan beantworten sollte, würde ich sagen: Ob ich von Amerikanern meinen Kühlschrank kaufe oder von Finnen oder Chinesen ist mir eher schnurz, solange das Ding funktioniert und gewissen Auflagen des Umweltschutzes entspricht. Da liege ich ganz auf der Linie von Deng Xiaoping, dem die Farbe des Fells einer Katze egal war, solange diese Mäuse fing.
Und Freunde, zweitens, Freunde suche ich mir nicht nach ihrer nationalen Herkunft aus. Mit manchen gehe ich aus kultureller Rücksicht vorsichtiger um als mit anderen, und diese Vorsicht orientiert sich an den Geboten der Toleranz. Und auch an mangelndem Vertrauen in die eigene Unfehlbarkeit. Als Warnung dient mir hier meist das Beispiel eines italienischen Malers aus dem späten 16. Jahrhundert, über den ich einmal einen Roman geschrieben habe.
Dieser Roman erzählt das Schicksal eines italienischen Jesuiten aus dem 17. Jahrhundert. Der wurde mit einem sehr klaren Auftrag nach China geschickt. Die J esuiten wussten, dass der Kaiser von China ein Liebhaber der Malerei war und selber malte, wie nur ein höchstbegabter Kaiser malen kann. Und man wusste gleichzeitig, dass die chinesische Malerei einen Unterschied zur europäischen Malerei aufweist, die chinesische Malerei ist nämlich multiperspektivisch, das heißt, es gibt keine Zentralperspektive wie in Europa seit der Renaissance, sondern es wird auf der Leinwand oder auf der Seide eine Geschichte aus vielen Perspektiven erzählt.
Der Jesuitengeneral, dachte es wäre ein ganz guter, fast teuflischer Plan, einen Maler an den Hof von China zu schicken und der bringt dem Kaiser von China bei, dass es nicht viele Perspektiven gibt, sondern nur eine Einzige. Denn wenn der Kaiser von China begreift, es gibt nur eine einzige Perspektive, dann merkt er auch, dass es nicht viele Götter gibt, sondern nur einen Gott und auf diese Weise kommt er sofort zu Jesus Christus.
Gesagt, getan. Der Jesuiten-Maler kam in der Tat bis zum Hof. Der Kaiser empfing ihn und ließ ihn Proben seiner Kunst vorführen. Der Maler holte aus seiner Mappe ein paar Bilder, die der Kaiser aufmerksam betrachtete und dann fragte, kannst Du das auch malen, wenn Du auf dem Kopf stehst? In den nächsten Wochen lernte der Maler die Technik des Kopfstands und, wie man im Kopfstand malt. So war sehr bald das hierarchische Gefälle zwischen Kaiser und Künstler erst einmal drastisch festgestellt.
Der Kaiser sagte, es ist Realismus (er benutze ein anderes Wort, weil es das Wort Realismus auf Chinesisch nicht gibt) – Kunst ist es jedenfalls nicht – aber es ist sehr getreu.
Dann befahl der Kaiser: mal’ einmal die Gesichter, von all Deinen Ordensmitgliedern hier in Peking. Male die einmal genau nach Deiner Technik. Und der Maler malte die 12 Ordensmitglieder. Der Kaiser sagte, das ist ausgezeichnet. Zwar keine Kunst, aber für einen Steckbrief ist es wunderbar.
Und so hingen die Steckbriefe der Jesuiten in kurzer Zeit von dem Maler Castiglione überall.
Und der Maler bemühte sich nun weiterhin in China zu bleiben und den Kaiser zu beeindrucken.
Um dem Kaiser zu gefallen, fing der Italiener dann an, immer chinesischer zu malen. Das heißt, nach und nach verlor er seine Zentralperspektive. Er verlor auch seinen Glauben. Er hatte gleichzeitig 4 Frauen. Er starb unter einem chinesischen Namen. Bis vor wenigen Jahren kannte ihn niemand in der Kulturgeschichte unter seinem italienischen Namen.
Das ist ein Schicksal der kulturellen Adaption, dass man nicht ernst genug nehmen kann.
Dr. Manfred Osten
Ich denke, wir sollten in der Tat mit dieser Epoche der chinesischen Geschichte schließen.
Denn gerade der Jesuitenpater, der zur Zeit dieses Malers China bereiste und zu missionieren versuchte, war der Korrespondenzpartner für Leibniz, der auf diese Weise erstaunliche Einsichten in die chinesische Kultur und in den Konfuzianismus gewonnen hat. Um damit, wie schon erwähnt, durch Rückgriff auf die konfuzianische Bildungsmeritokratie die Barbarei in Europa zu kurieren. Und diesen Korrespondenzpartner in Peking, den Jesuitenpater Grimaldi, ermahnte Leibniz im März 1692 mit den Worten:
„Sie bringen den Chinesen unsere Fähigkeiten. Ich brauche Sie jedoch wohl nicht zu ermahnen, dass Sie darauf hinarbeiten, dass die Unseren ihre Überlegenheit nicht völlig einbüßen, damit die Chinesen nicht die Europäer eines Tages verlachen und als ferner nicht mehr notwendige Leute vor die Tür setzen.“
Meine Herren, ich selber bin eigentlich Optimist, wenn auch Karl Kraus behauptet hat, Optimismus sei nichts anderes als Mangel an Information.
Wir sollten den Abend aber vorsorglich beschließen mit einem Mann, der uns den Optimismus besonders nahe gebracht hat. Der österreichischen Komödiendichter Johann Nestroy hat gesagt:
„Wenn alle Stricke reißen, häng‘ ich mich auf – aber erst dann!“
Herzlichen Dank!