Vortrag – Prof. Dr. Christopher Clark
„Kaiser Wilhelm II. und die Reichsidee“
Meine Herren, ich möchte mich zu allererst herzlich bedanken für die Einladung heute Abend. Wer die lange Liste derer, die vor dem Bremer Tabak-Kollegium schon vortragen durften, vor Augen hatte, weiß sehr wohl, dass es eine große Ehre ist, vor Ihnen zu stehen. Es soll heute Abend um das Thema ‘Wilhelm II. und die Reichsidee’ gehen, ein Thema, das zum Ort Ihres diesjährigen Treffens bestens passt, denn nirgendwo ist die Geschichte und das Erbe der Reichsidee in der Gegenwart fassbarer als in Aachen, wo der fränkische König Pippin der Jüngere den Hof baute, den sein Sohn Karl, Karl der Große genannt, zu seiner Residenz wählte und zu einer Kaiserpfalz mit Palast ausbaute – wir stehen (oder in Ihrem Fall) ja gerade dort, wo einmal sein Palast stand. Für die nächsten 600 Jahre blieb die Stadt Krönungsort der deutschen Könige. In der Pfalzkapelle von Aachen wurde unter anderem Friedrich I., genannt Barbarossa, von Kölner Erzbischof Arold II. von Wied zum römisch-deutschen König gekrönt. Die Reichsidee ist also gewissermaßen hier beheimatet.
Wie steht es aber mit dem Verhältnis zwischen dieser Reichsidee und Deutschlands letztem Kaiser, Wilhelm II.? Die offizielle Proklamierung des deutschen Reiches in Spiegelsaal zu Versailles am 18. Januar 1871 sprach ja ausdrücklich von einer ‚Wiederherstellung des Deutschen Reiches’ – damit war eine Kontinuation des alten Heiligen Römischen Reiches der deutschen Nation gemeint, oder zumindest angedeutet. Die translatio imperii, jene sagenumworbene Beschwörung einer mystischen Kontinuität des alten Reiches mit dem antiken Rom sollte also gewissermaßen in die Moderne fortgesetzt werden.
War das ernst gemeint? War das kaiserliche Amt nach 1871 wirklich die Wiederherstellung des alten Heiligen römischen Kaisertums? Darüber waren sich die Experten im Kaiserreich nicht einig. Für den Historiker Albert von Ruville, Verfasser vielbeachteter Werke über die Geschichte des alten Reiches, der Kreuzzüge und sogar einer damals in England gut bekannten Studie zur ‚inneren Geschichte Englands unter George III.’ war die Identität zwischen dem neuen und dem alten Kaisertum selbstverständlich. In seiner 1894 erschienen Abhandlung Das Deutsche Reich ein monarchischer Einheitsstaat, lieferte von Ruville den Beweis für den staatsrechtlichen Zusammenhang zwischen altem und neuem Reich. Das heutige Kaiseramt, schrieb Ruville, sei zwar politisch bedeutender und mächtiger in der politischen Verfassungsrealtität als das alte, aber staatsrechtlich fast genau identisch. Das Deutsche Reich stehe, Ruville zufolge, in Rechtsnachfolge zum alten Kaiserreich. Das deutsche Kaiserreich sei also kein Bundesstaat – ein schwammiger, unbestimmter Begriff, den Ruville vehement ablehnte – sondern ein ‘decentralisierter Einheitsstaat’, dessen Staatsoberhaupt der Kaiser sei. Damit sei der Kaiser Souverän des Reiches und habe im Wesentlichen die gleiche Rechtsstellung und die gleichen inhaltlichen Rechte wie die alten Kaiser des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation.
Aber Ruville war nur Professor für Geschichte an der Universität Halle und damit keine anerkannter Experte im Bereich Verfassungsrecht. Unter den eigentlichen Verfassungsjuristen wurde diese Kontinuitätsthese eher mit Skepsis betrachtet. Die Juristen Held und Rönne betonten den Gegensatz zwischen dem alten Wahlkaisertum und dem neuen Erbkaisertum. Und das neue Kaiserreich, wie der Jurist Karl Binding deutlich darlegte, war im Gegensatz zum alten keine heilsgeschichtliche Anstalt; es war säkular, also weder dem Papste noch irgendeiner religiösen Autorität untergeordnet. Dazu kam der paradoxe Tatbestand, dass die alten Kaiser zwar souveräne Reichsmonarchen gewesen waren, in Wirklichkeit jedoch auf Grund der ungeheuer komplexen, fragmentierten Struktur des alten Reichsgefüges über sehr bescheidene Machtbefugnisse verfügten. Gerade das Umgekehrte galt vom neuen Kaiser: er war zwar kein Reichssouverän, er übte in Bayern, Württemberg, Baden, Sachsen usw. keine direkte obrigkeitliche Gewalt aus, war jedoch in Wirklichkeit viel stärker als die alten Kaiser, wegen der Personalunion mit der preußischen Krone, die doch mit sehr bedeutenden obrigkeitlichen Rechten verbunden war, und das über ein Territorium, welches drei Fünftel der Fläche und Bevölkerung der Deutschen Reiches einschloss.
Schließlich war das neue Kaisertum deutsch, und das konnte man gerade von der Universalmonarchie des alten Reiches nicht sagen. Kaiser Wilhelm II. griff diese Problematik auf, als er im April 1901 anlässlich der Immatrikulation seines ältesten Sohnes an der Bonner Universität eine Festrede hielt. ‘Freuen sollen Sie sich, dass Sie junge Deutsche sind, beim Durchziehen der Strecke von Aachen bis Mainz, d.h. von Carolus Magnus bis zur Glanzzeit Deutschlands unter Barbarossa!’ ‘Aber’ – so fuhr er fort – ‘warum ward nichts aus all der Herrlichkeit? Warum sank das Deutsche Reich dahin? Weil das alte Reich nicht auf streng nationaler Basis begründet war. Der Universalgedanke des alten römischen Reiches deutscher Nation ließ eine Entwicklung im deutschnationalen Sinne nicht zu so musste Barbarossa´s Glanz erbleichen und des alten Reiches Bestand zerfallen, weil es durch seinen Universalismus an dem Kristallisationsprozess zur Nation gehindert ward’. Dies alles sei durch die Gründung des Deutschen Reiches vom Jahre 1871 anders geworden. ‘Aachen und Mainz sind uns historische Erinnerungen; aber das Sehnen nach dem Zusammenschluss zu einer Nation blieb in des Deutschen Busen’. Ich will Sie mit dieser kaiserlichen Skizze des Übergangs, bzw. Bruchs vom alten zum neuen Reich aufhalten. Interessant ist nur die Tatsache, dass diese deutschnationale Ansicht auch bei der Mehrzahl der Verfassungsjuristen maßgeblich war. In den Worten Karl Bindings im Jahre 1898: ‘Wir begreifen zuerst, dass [das Deutsche Reich] neu ist, weil es deutsch ist’.
Darüber herrschte – mit Ausnahme des Historikers Albert von Ruville – Einigkeit. Das Kaisertum von Jahre 1871 galt bei fast allen einschlägigen Experten als eine neue welthistorische Erfindung. Es handelt sich hier allerdings lediglich um einen negativen Konsens, ein Konsens darüber, was das neue Kaisertum nicht war. Darüber, was den positiven Inhalt des neuen Herrscheramtes ausmachte, herrschte eine Vielzahl von teilweise widersprüchlichen Meinungen. Darüber entfaltete sich eine ungewöhnlich lebendige und dynamische Debatte, die die ganze Geschichte des Kaiserreiches, bis zu seinem Untergang 1918 und der darauffolgenden Auflösung. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: der Verfassungsrechtler Seydel betrachtete den deutschen Kaiser als Exekutivorgan – ähnlich wie das Präsidentenamt in den Vereinigten Staaten. Für Zorn und Meyer war der Kaiser Bevollmächtigter der souveränen Reichsgewalt in einer monarchischen Aristokratie. Hänel und Rönne sahen in ihm den Träger des monarchischen Prinzips in einem Bundesstaat. Martitz zufolge war der Kaiser ein konstitutioneller Monarch und Rechtsnachfolger der alten Heiligen römischen Kaiser (Martitz war der einzige Verfassungsrechtler, der die Ruville’sche Kontinuitätsthese guthieß). Und für den einflussreichen Verfassungsrechtler Paul Laband war der Kaiser weder ein Monarch, noch ein Präsident, noch ein öffentliches Amt, sondern der Vorsitzende einer öffentlichen Korporation, ähnlich wie der CEO einer Aktiengesellschaft.
Interessant an diesem breiten Spektrum der zum Teil sehr widersprüchlichen Interpretationen ist vor allem die Tatsache, dass eine solche Vielfalt überhaupt möglich war. Sie war möglich, weil man eigentlich keine Ahnung hatte, was dieses neue Kaisertum sein sollte. Warum? Weil die Verfassung vom April 1871 über das kaiserliche Amt kaum etwas aussagte. Das lag natürlich an der eigentümlichen Situation, in der diese Verfassung zu Stande kam. Sie war das Produkt eines komplexen, historischen Kompromisses. Nach dem überwiegend von Preußen errungenen Sieg über Frankreich 1870/71 bestand die Aufgabe der neuen deutschen Reichsverfassung darin, die Macht unter einer Vielzahl von Interessen aufzuteilen. Bismarck selbst war natürlich in erster Linie daran interessiert, den Einfluss Preußens zu festigen und auszudehnen. Doch mit diesem Programm konnte man aus nahe liegenden Gründen die anderen deutschen Staaten natürlich nicht locken. Folglich musste ein Kompromiss gefunden werden zwischen den Ambitionen der souveränen Einheiten, die zusammen gekommen waren, um das Deutsche Reich zu bilden, und der Notwendigkeit einer zentralen, koordinierenden Exekutive.
Wie zu erwarten, war die daraus resultierende Verfassung ihrem Wesen nach ausgesprochen dezentral. Tatsächlich handelte es sich weniger um eine Verfassung im traditionellen Sinn als um einen Vertrag zwischen souveränen Territorien, die sich darauf geeinigt hatten, das deutsche Kaiserreich zu bilden. Und diese dezidiert föderative Ausrichtung der Verfassung hatte unweigerlich wichtige Folgen für die Stellung des Kaisers. Die Autoren der Verfassung gaben sich eindeutig alle Mühe, die Vollmachten des kaiserlichen Amtes nicht auf eine Weise hervorzuheben, dass sie die föderalistischen Empfindlichkeiten beeinträchtigt hätten. Hier ist ein Vergleich mit der Frankfurter Verfassung vom Jahre 1849 aufschlussreich. Während das ältere Dokument einen Abschnitt mit der Überschrift »Reichsoberhaupt« enthält, hat die Verfassung von 1871 keine entsprechende Rubrik. Stattdessen werden die Vollmachten des Kaisers im sehr kurzen Abschnitt IV festgelegt, der sich eigentlich gar nicht mit dem Kaiseramt, sondern mit dem Präsidium des Bundes und des Bundesrates befasst.
Schon 1876 musste der Verfassungsrechtler Ludwig von Rönne feststellen, dass in der neuen deutschen Reichsverfassung – ich zitiere – ‘allgemeine Grundsätze über die staatsrechtliche Stellung [des Kaisers] enthaltende Bestimmungen nicht vorhanden [sind], sondern nur einzelne Festsetzungen über die Rechte und Pflichten des Kaisers’. ‘Es ist daher einleuchtend,’ – ich zitiere weiter aus Rönne’s Staatsrecht des deutschen Reiches – ‘dass die Würde des Deutschen Kaisers in der Erfassung des Deutschen Reiches bis jetzt noch wenig ausgebildet erscheint, und dass es erst von den weiteren Entwicklungen dieser Verfassung abhängen wird, in welcher Weise sich die Stellung des Reichsoberhauptes, als des höchsten Organs der Reichsgewalt, gestalten wird’.
Das ist eine ungeheure Aussage. Ich will heute Abend nicht auf diese Geschichte der Entwicklung des Reichsgefüges in die Richtung einer einheitsstaatlichen Monarchie eingehen, sondern nur die rechtliche Unbestimmtheit des neuen Kaisertums hervorheben. Man wusste scheinbar mehr darüber, was dieses Amt nicht war, als über seinen positiven Inhalt. Das war gewiss keine Weiterführung des alten Kaisertums; was aus dem neuen Kaisertum noch werden sollte, war allerdings noch ganz offen.
Das war gewissermaßen das Urproblem Wilhelms II., des letzten deutschen Kaisers. Wilhelm I. war ein ehrbarer und weithin bewunderter Mensch, eine Persönlichkeit mit der Würde eines biblischen Patriarchen. Aber er war über siebzig, als das Reich ausgerufen wurde, und blieb im Grunde bis zu seinem Tod 1888 im Alter von 90 Jahren eher ein preußischer König als ein deutscher Kaiser. Er sprach selten in der Öffentlichkeit und überquerte kaum einmal die Grenzen seines Königreiches. Er behielt die knauserigen Gewohnheiten eines ost-elbischen Junkers bei: Er wehrte er sich zum Beispiel aus Kostengründen gegen die Installation eines Bades mit heißem Wasser im Berliner Schloss. Stattdessen zog er es vor, einmal in der Woche in einem über ein Gestell gezogenen wasserdichten Ledersack zu baden, der eigens von einem Hotel in der Nähe herbeigeschafft werden musste. Alte Uniformen mussten lange halten. Nach der Unterzeichnung von Staatspapieren wischte der alte König die feuchte Spitze des Federhalters am dunkelblauen Ärmel seiner Jacke ab. In diesen Verschrobenheiten steckte auch ein Stück preußischer Selbstinszenierung: der König trachtete danach, die preußische Schlichtheit, Selbstdisziplin und Sparsamkeit zu personifizieren. Er erschien jeden Tag pünktlich am Eckfenster seines Studierzimmers, um die Wachablösung zu beobachten – diese Wiederbelebung einer alten preußischen Tradition wurde zu einer der größten touristischen Attraktionen des damaligen Berlins. Damit konnte Wilhelm I. jedoch natürlich nicht die reichsdeutsche Dimension seines Amtes auch annähernd ausfüllen. Sein Sohn Friedrich III. war im Prinzip viel eher geeignet, diese Rolle zu spielen, war aber schon todkrank, als er im März 1888 den Thron bestieg. Wenn es überhaupt eine politische Figur gab, die in der Lage war als Integrationsfigur für das gesamte Reich zu wirken, dann war das Bismarck, wobei man bemerken muss, das Bismarck die Protestanten viel besser integrierte als die Katholiken!
Als Wilhelm II. im Jahr 1888 den Thron bestieg, glich das Amt des Kaisers also einem Haus, in dem die meisten Zimmer noch nie bewohnt gewesen waren. Wilhelm II. war fest entschlossen, die imperiale, reichsdeutsche Dimension seines kaiserlichen Amtes erstmalig in der Geschichte des Kaiserreiches zu personifizieren und auszufüllen. Der letzte deutsche Kaiser war also in einem gewissen Sinne auch der erste. Sein Antritt leitete eine Revolution im Führungsstil der deutschen Kaisermonarchie ein. Seine zwei kaiserlichen Vorgänger waren – auch was ihr öffentliches Ansehen betrifft – aufs engste mit dem preußischen Heer verbunden gewesen. Wilhelm dagegen förderte die deutsche Flotte, jene nationale, Reichsdeutsche Alternative zum preußisch dominierten Heer. Im Jahre 1902, im Laufe eines Besuchs nach England, versuchte Wilhelm dem konservativen britischen Premier Minister Arthur Balfour zu erklären, warum die deutsche Flotte von so großer innenpolitischer Bedeutung sei. “Während England ein staatlich in sich abgeschlossenes Ganzes bilde” – ich zitiere vom Telegramm des deutschen Botschafters, der dieser Unterhaltung beiwohnte – “Während England ein staatlich in sich abgeschlossenes Ganzes bilde, gleiche Deutschland einem Mosaikbilde, in dem die einzelnen Gefüge noch deutlicher erkennbar und noch nicht miteinander verschmolzen seien. Dies zeige sich auch in der Armee, die zwar von dem gleichen patriotischen Geiste durchdrungen, aber doch aus den Kontingenten der verschiedenen Staaten zusammengesetzt sei. Das junge Deutsche Reich brauche aber Einrichtungen, in denen es klar den einheitlichen Reichsgedanken verkörpert finde. Eine solche Einrichtung sei die Flotte. Sie sei ein stetes lebendiges Beispiel für die Einheit des Reiches. Schon aus dem Grunde sei sie notwendig und sie habe daher einen warmen Förderer an seiner Majestät.”
Wilhelm unterstützte die reichsweiten Spendenbeschaffungskampagnen zugunsten der deutschen Flotte und hatte bei den alljährlichen großen Flottenparaden in Kiel immer den Vorsitz. Er versuchte, mit nur teilweisem Erfolg, einen nationalen Kult um die Person seines Großvaters, ‘Wilhelm des Großen’, zu etablieren. Er reiste durch das ganze Reich, eröffnete Krankenhäuser, taufte Schiffe, besuchte Fabriken und nahm Paraden ab. Und vor allem hielt er Reden.
Kein Monarch der Hohenzollern hat jemals so oft und so direkt vor so großen Versammlungen seiner Untertanen gesprochen wie Wilhelm II. Wilhelms Großonkel Friedrich Wilhelm IV. hatte als erster, preußischer König spontan während der Zeremonie des Lehenseides 1840 eine öffentliche Rede gehalten. Bei diesem Ereignis verblüffte er sein Gefolge, indem er aus dem Stegreif auf dem Schlossplatz eine Ansprache an die riesige Volksmenge richtete. Das Experiment wurde jedoch nur selten wiederholt. Wilhelms Großvater sprach kaum einmal in der Öffentlichkeit, und sein Vater war zwar ein guter Redner, aber außerstande, neben Bismarck eine wichtige Rolle in der Öffentlichkeit zu spielen. Als er dann den Thron bestieg, hatte er schon fast seine Stimme verloren. Im Gegensatz dazu ließ Wilhelm II. die deutsche Öffentlichkeit in den Genuss eines ununterbrochenen Schwalls öffentlicher Äußerungen kommen. Allein in den sechs Jahren von Januar 1897 bis Dezember 1902 stattete er beispielsweise mindestens 123 deutschen Städten wenigstens 233 Besuche ab, wo er jeweils meistens auch eine Rede hielt, die anschließend in der regionalen und überregionalen Presse veröffentlicht und diskutiert wurde.
Wilhelms Reden waren, zumindest bis 1908, keine Standardtexte, die von professionellen Schreibern für ihn zusammengestellt wurden. Die Männer des Zivilkabinetts waren damit beschäftigt, für besondere Orte und Anlässe Fakten zu recherchieren und Texte zu verfassen. In manchen Fällen wurde eine letzte gedruckte Fassung an ein hölzernes Lesebrett geheftet, das dem Kaiser bei der Ankunft überreicht wurde, doch diese Mühe war zum großen Teil umsonst – Wilhelm zog es vor, frei zu sprechen. Anders als sein Vater, der als Kronprinz stets im Voraus seine Reden formuliert und dann »immer wieder verändert« hatte, bereitete Wilhelm nur selten seine Reden vor. Sie wurden bewusst als spontane, unvermittelte Akte der Kommunikation inszeniert.
Die bombastischen Auftritte des Kaisers glichen Historiengemälden des 19. Jahrhunderts: überladen mit schwülstigem Symbolismus, in dem sich Stürme mit Strahlen erlösenden Lichts abwechselten, wo alles ringsumher dunkel war und erhabene Gestalten über den kleinen, alltäglichen Streitigkeiten schwebten. Die Monarchie sollte auf diese Weise eine »Charismatisierung« erfahren und jener transzendente, überhöhte Aussichtspunkt heraufbeschworen werden, von dem aus Wilhelm über sein Volk herrschen wollte. Die kaiserliche Monarchie wurde als letzter Garant der Einheit des Reiches dargestellt, als der Punkt, an dem »historische, konfessionelle und wirtschaftliche Gegensätze sich vereinigen und versöhnen«. Und schließlich zog sich auch die schicksalhafte – gewissermaßen die heilsgeschichtliche Dimension der Monarchie wie ein roter Faden durch alle Reden des Kaisers. In einer charakteristischen Ansprache im September 1907 im Rathaus von Memel forderte Wilhelm die Zuhörer auf, sich daran zu erinnern, dass »das Walten der göttlichen Vorsehung« bei den großen historischen Leistungen des deutschen Volkes »zu erkennen ist, und wenn unser Herrgott nicht mit uns noch etwas Großes in der Welt vorhätte, dann würde er unserem Volke auch nicht so herrliche Eigenschaften und Fähigkeiten verliehen haben«. Mit solchen Äußerungen versuchte Wilhelm gewissermaßen den heilsgeschichtliche Glanz des alten Kaisertums in der Gegenwart wieder herzustellen.
Zuschauer, die den Kaiser bei öffentlichen Auftritten erlebten, waren oft beeindruckt von der Energie und Souveränität des Redners. Der Kulturhistoriker Karl Lamprecht, der Wilhelm mit eigenen Augen gesehen hat, schreibt in einem ähnlichen Ton von der »vollen, sonoren Stimme« des Kaisers, dem »immer lebhafter werdenden Minenspiel« und der »zu voller Tätigkeit aufsteigenden Gestikulation«. »Der Kaiser«, so Lamprecht, »wurde Redner vom Scheitel bis zur Zehe.« Auf dieser schauspielerischen und technischen Ebene erwies sich Wilhelm somit als sicherer Meister öffentlicher Auftritte. Der Inhalt seiner öffentlichen Äußerungen war jedoch häufig katastrophal.
Anfang 1891 sagte er zum Beispiel vor einer Versammlung rheinländischer Industrieller: »Einer nur ist Herr im Reiche, und der bin ich, keinen anderen dulde ich!« Die Äußerung war als Spitze gegen Bismarck gedacht, der seit seinem Abschied fortwährend in der Presse über den Kaiser lästerte und bekanntlich in rheinländischen Unternehmerkreisen viele Anhänger hatte. Aber Wilhelms Worte erregten ungewollt auch unter jenen Anstoß, die darin eine Verletzung der Würde der Bundesfürsten sahen. Immerhin waren auch die Bundesfürsten “Herren im Reich”.
Das Problem war zum Teil strukturell bedingt: denn Wilhelms öffentliches Amt umfasste nun einmal eine ganze Palette aus nichtübertragbaren Beziehungen zu spezifischen und sehr unterschiedlichen Zuhörerschaften. Wenn er alljährlich beim Festmahl des brandenburgischen Provinziallandtages sprach, dann nannte er sich für gewöhnlich »Markgraf« — eine Anspielung auf die einzigartigen, historischen Bande zwischen seiner Dynastie und ihrer Heimatprovinz. Dies war eine harmlose, wenn auch ein wenig pathetische Geste, die bei den konservativen Provinzpolitikern des brandenburgischen Landtags sehr gut ankam; für die Süddeutschen andererseits, die am nächsten Tag in der Presse den veröffentlichten Redetext überflogen, war dies ungenießbare Kost. Der enge Freund und Ratgeber Wilhelms, Philipp zu Eulenburg, erklärte das Problem in einem sehr freimütig kritischen Brief an den Kaiser. Ich zitiere:
„Die große Redegewandtheit und die Art und Weise Eurer Majestät üben auf die Zuhörer und Anwesenden einen bestrickenden Einfluss – wie dieses die Haltung unter den Brandenburgern nach der Rede Eurer Majestät wieder bewiesen hat. Bei der kühlen Beurteilung des Inhalts ergibt sich aber, unter den Händen des deutschen Professors, ein anderes Bild. Hier in Bayern sind die Leute geradezu »außer sich«, wenn Eure Majestät als »Markgraf« sprechen und die »Markgrafen Worte« im Reichsanzeiger stehen – quasi als Kaiserworte. Im Reichsanzeiger wollen die Reichsangehörigen Kaiserworte hören – auch nichts von Friedrich dem Großen (von dem sie nur zu gut wissen, dass er sagte: »La Bavière est un paradis habités par des animaux« [Bayern ist ein von Tieren bewohntes Paradies], und anderes noch), und auch nichts von Rossbach und Leuthen.“
Die Beziehung zwischen der preußisch-kaiserlichen Krone und dem bayerischen Staat sorgte für ständige Reibung. Im November 1891 wurde Wilhelm gebeten, sich in das offizielle Gästebuch der Stadt München einzutragen. Wilhelm schrieb die Zeile hinein: »Suprema lex regis voluntas« (der Wille des Königs ist höchstes Gesetz). Da musste der arme Eulenburg sich schon wieder an seinen Schreibtisch setzen:
„Weshalb Ew. Majestät das Wort schrieben, habe ich nicht zu fragen, aber ich würde ein feiges Unrecht begehen, wenn ich nicht von der schlimmen Wirkung schriebe, die das Wort in Süddeutschland verursachte, wo mich Ew. Majestät zum Aufpassen hingesetzt haben. [Eulenburg war damals preußischer Gesandter in München.] In erster Linie hat das Wort sehr verletzt weil die Leute eine Art persönlichen Kaiserlichen Willen über den [sic!] bayerischen Willen herauszulesen meinten. Alle Parteien, ohne Ausnahme, haben sich durch das Wort Ew. Majestät verletzt gefühlt, und es war dazu angetan, in schmählichster Weise gegen Ew. Majestät ausgedeutet zu werden.“
Wenn süddeutsche Karikaturisten versuchten, die Reichsansprüche des Kaisers lächerlich zu machen, so zeichneten sie ihn fast immer als eine nachdrücklich und unverbesserlich preußische Gestalt. Eine wundervolle Zeichnung aus dem Jahre 1909 für den Simplicissimus von dem in München wohnenden Olaf Gulbransson zeigt Wilhelm II. im Gespräch mit dem bayerischen Regenten bei den alljährlichen Reichsmanövern. Dieses Ereignis war schon von seinem verfassungsmäßigen Charakter her problematisch, weil die Beziehung zwischen dem preußisch-kaiserlichen und dem bayerischen Heer ein außerordentlich heikles Thema war. In der Bildunterschrift ist zu lesen: “Seine Majestät erklären dem Prinzen Ludwig die feindlichen Stellungen”. Die stereotypen preußisch-bayerischen Gegensätze sind in der Haltung und Kleidung der zwei Hauptfiguren köstlich wiedergegeben: Wilhelm steht kerzengerade in einer makellosen Uniform mit Pikelhelm in Reitstiefeln, die wie poliertes Ebenholz glänzen. Prinz Ludwig hingegen gleicht einem menschlichen Sitzsack. Die weiten Hosen flattern formlos um die O-Beine und über seinem Bart linst er irritiert hinter einem Kneifer hervor. Alles was an dem preußischen Kaiser als stramm und dominant auffällt, erscheint an dem bayerischen Prinzen gemütlich und schlaff.
Wir sollen uns über die Schwierigkeit der Aufgabe, die Wilhelm bevorstand, nicht täuschen. Er musste lernen mit den vielen deutschen Teilöffentlichkeiten umzugehen – und das in einem Land, in dem der innere Vereinigungsprozess noch ganz in den Anfängen steckte. Die vielbeschworene deutsche Nation war damals mehr Idee als Wirklichkeit. Die wunderbare Vielzahl von Partikularwelten, die Deutschland damals – wie heute – ausmachte, erschwerte die Aufgabe dessen, der sich berufen fühlte, Brandenburg, Preußen, und das Deutsche Reich anzusprechen und zu verkörpern.
Allerdings muss man gestehen, dass Wilhelm II. denkbar ungeeignet war für die kommunikativen Aufgaben seines Amtes. Wilhelms Reden machten auf die Zuhörer häufig einen guten Eindruck. Die Anwesenden konnten sich von dem Auftritt und der Überzeugung des Redners und der Feierlichkeit des Anlasses mitreißen lassen. Der Alkoholgenuss mag ebenfalls sein Teil beigetragen haben. Aber nachgedruckt auf nüchternem Papier wurden die kaiserlichen Äußerungen, selbst in massiv bearbeiteter Form, leicht zur Zielscheibe des Spotts: sie wirkten übertrieben, pompös, größenwahnsinnig. Sie »gingen leicht über das Ziel hinaus«, wie Holstein sagte. Metaphern und Passagen aus Wilhelms Reden wurden häufig herausgepickt und in satirischen Zeitschriften gegen ihn verwendet. Als er zum Beispiel Pessimisten den Kampf ansagte: »Schwarzseher dulde ich nicht!«, da antwortete der Simplicissimus, die Satirezeitschrift Nummer eins des wilhelminischen Deutschlands, mit einer ganzen Ausgabe, die dem »Schwarzsehen« gewidmet war. Als er einmal in einer exaltierten Rede versprach, quasi als neuzeitlicher Moses “seine Brandenburger herrlichen Tage entgegen” zu führen – wurde diese Phrase in der Presse wiederholt verballhornt. Die Wendung entwickelte schon bald ein Eigenleben und tauchte wiederholt in einer Vielzahl satirischer Zeitschriften auf: Noch im Jahr 1913 zeigte eine Karikatur im Simplicissimus den deutschen »Michel« als Kind. Es hält vertrauensvoll die Hand einer Don Quichote-ähnlichen Gestalt, in der man Wilhelm von hinten wiedererkennt. Vor den beiden steht ein Wegweiser mit der Aufschrift: »Herrlichen Tagen entgegen«. Das Kind fragt: »Ist es viel weiter, Papa?«
Die Karikatur spielte in der Tat eine immer bedeutendere Rolle bei der kritischen Rezeption des deutschen Monarchen. Als nach 1904 die ersten eindeutig negativen Karikaturen des Kaisers veröffentlicht wurden, ohne dass die Behörden die Betreffenden bestraften, kam es, wie Jost Rebentisch zeigt, zu einer regelrechten Kettenreaktion immer bissigerer, bildlicher Satiren. Im Jahr 1906 war Kaiser Wilhelm II. die am häufigsten karikierte Einzelperson im ganzen Reich. Weder über Wilhelm I. noch über Bismarck hatte man sich jemals so respektlos lustig gemacht (allerdings sind Parallelen in illegalen Darstellungen Friedrich Wilhelms IV. aus der Zeit der 1848er-Revolution zu entdecken). Immer wieder kam es in der wilhelminischen Ära zu juristischen Sanktionen wegen Majestätsbeleidigung, so beschlagnahmte man Zeitschriftenauflagen oder verfolgte und verhaftete Autoren und Redakteure. Letztlich erwiesen sich diese Maßnahmen aber als kontraproduktiv, weil sie in der Regel nur bewirkten, dass die Auflagen sprunghaft anstiegen und dass verfolgte Journalisten zu nationalen Berühmtheiten wurden.
Es gab zwei Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen. Die erste bestand darin, den Wortschwall des Mannes selbst zu bremsen. »Ich wollte«, schrieb Wilhelms Mutter im Februar 1892 an Königin Victoria, »ich könnte ihm bei allen Gelegenheiten, bei denen er öffentlich sprechen will, ein Schloss vor den Mund hängen.« Wilhelm ganz zum Schweigen zu bringen, war ein Ding der Unmöglichkeit, aber viele hofften, seine öffentlichen Auftritte zu »lenken«. Man konnte ihn eventuell davon abhalten, bei Anlässen wie dem Bankett des Brandenburger Provinziallandtages, wo er sich gerne daneben benahm, eine “zündende Rede” zu halten. Holstein, Eulenburg und Hohenlohe bemühten sich gelegentlich mit beachtlichem Erfolg darum. Zumindest konnte man dem Kaiser vor Augen führen, wie sehr er sich und der Regierung schadete. Beispielsweise leitete die Reichskanzlei, die zuvor solches Material zurückgehalten hatte, im Mai 1891 Zeitungsausschnitte zu einer umstrittenen Rede direkt an Wilhelm weiter, wobei die kritischsten Passagen rot unterstrichen waren. Die Wirkung auf den Kaiser blieb nicht aus. Ende März 1892, fast einen Monat nach der umstrittenen Rede im Brandenburger Provinziallandtag, berichtete Graf Helldorf-Bedra, dass Wilhelm Nächte lang nicht geschlafen habe, nachdem er die Zeitungsausschnitte gelesen hatte, und immer noch angeschlagen und deprimiert wirkte. Aber derartige Episoden hatten keine dauerhafte Wirkung. Sobald der erste Schock nachgelassen hatte, kehrte nach und nach das kaiserliche Ego wieder zurück und der bombastische Wortschwall sprudelte von neuem. In seiner charakteristisch naiv-verworrenen Art betrachtete Wilhelm alle Versuche, seine öffentlichen Äußerungen zu zähmen, als Angriffe auf die persönliche Redefreiheit, die selbst die geringsten seiner Untertanen genossen.
Da der Souverän zumindest bis 1908 nicht willens oder außerstande schien, sich zurückzuhalten, bemühten Hof- und Regierungsbeamte sich darum, die Form zu kontrollieren, in der die Äußerungen des Kaisers das breite Publikum erreichten. Wilhelm reiste jedoch so häufig und sprach an so vielen Orten und zu so verschiedenen Anlässen, dass es so gut wie unmöglich war, die Verbreitung von Informationen über seine Äußerungen zu kontrollieren.
Ich komme langsam zum Schluss, denn Goethe hat einmal gesagt: “wer länger als zehn Minuten unwiedersprochen redet, erregt den Unwillen seiner Zuhörer”. Das Amt des Kaisers hatte, wie gesagt, keine solide Grundlage in der deutschen Verfassung. Überdies fehlte dem Amt eine politische Tradition. Es fand keine Kaiserkrönung statt. Es gab auch keine kaiserliche Krone. Wilhelm II. hatte dieses Defizit erkannt. Er sah viel klarer als seine Vorgänger, dass die preußische Krone es nicht geschafft hatte, sich als Bezugspunkt im öffentlichen Leben des deutschen Reichs zu etablieren. Bei der Thronbesteigung war er entschlossen, die kaiserliche Dimension seines Amtes auszufüllen. Er reiste unablässig durch die deutschen Staaten; er glorifizierte den Großvater als den heiligen Krieger, der dem deutschen Volk ein neues Zuhause gebaut hatte; er führte neue Feiertage und Gedenkfeiern ein, um gewissermaßen die konstitutionelle und kulturelle Blöße des preußischen Throns in den Mantel einer nationalen Geschichte zu kleiden. Er präsentierte sich selbst, so gut er konnte, als Personifizierung der “Reichsidee”. In diesem unablässigen Bemühen, die Reichskrone als politische und symbolische Realität in den Köpfen der Deutschen zu verankern, spielten die Kaiserreden eine wichtige Rolle. Sie waren Werkzeuge der “rhetorischen Mobilmachung”, die dem Kaiser eine einzigartig prominente Stellung im öffentlichen Leben in Deutschland sicherte. Für Wilhelm persönlich boten sie eine gewisse Entschädigung für die politische Beschränkung und Entmachtung, der er so häufig begegnete. Genau genommen waren sie, wie Walther Rathenau, der Autor der wohl tiefsinnigsten Reflektionen über diesen Monarchen, bereits 1919 beobachtete, das wirkungsvollste Instrument seiner kaiserlichen Souveränität.
Welchen Erfolg Wilhelm mit seinen Bemühungen hatte, ist eine andere Frage. Einerseits provozierten die eklatantesten Eskapaden, wie gezeigt, eine Woge feindseliger Kommentare in der Presse, vor allem wenn sie Deutschlands Beziehungen zu anderen Mächten betrafen. Als sichtbarstes (oder hörbarstes) Zeichen der Unabhängigkeit des Souveräns wurden diese Eskapaden zum Brennpunkt der Kritik am »persönlichen Regiment«. Langfristig erodierten sie allmählich den politischen Status der Äußerungen vom Thron. Es kam, vor allem nach 1908, immer häufiger vor, dass die Regierung sich von unerwünschten Reden mit der Begründung völlig distanzierte, dies seien keine bindenden, programmatischen Aussagen, sondern lediglich persönliche Meinungsäußerungen des Monarchen – ein Dementi, das den Schluss nahe legte, dass die politischen Ansichten des Kaisers keine größeren, politischen Konsequenzen hätten.
Die Skandale, die den Kaiserthron in den ersten beiden Jahrzehnten der Herrschaft erschütterten, waren nicht einfach willkürliche Störungen, wie plötzliche Gewitterstürme, die gelegentlich im Hochsommer vorkommen. Ihnen wohnte eine kumulative Logik inne. Mit jedem Skandal traten neue Themen zu Tage, die den politischen Diskurs nachhaltig prägten. An den Fäden, die in einem Fall zu Tage traten, wurde im nächsten weitergesponnen. Der Militärhistoriker und einstige Hauslehrer des Prinzen, Hans Delbrück, fasste diese schicksalhafte Dynamik in eine düstere Metapher: Jede neue Empörung sei wie ein Kranz, in den alle bisherigen Irrtümer und Fehltritte des Kaisers eingewoben würden, die im Gedächtnis der Öffentlichkeit gespeichert sind.
Wie der Wiener Korrespondent der Frankfurter Zeitung im Jahr 1910 treffend beobachtete, enthüllte ein Vergleich zwischen Wilhelm II. und Kaiser Franz Joseph von Österreich-Ungarn, wie kontraproduktiv der allzu häufige Gebrauch öffentlicher Stellungnahmen letztlich war: Der Habsburger sei, so hieß es in dem Artikel, ein »schweigender Kaiser«, der stets zwischen seiner Privatperson und dem öffentlichen Amt klar unterscheide. Niemals habe er das öffentliche Forum für irgendwelche persönlichen Äußerungen benutzt. »Was aber ist das Ergebnis dieser taktvollen Zurückhaltung? Eine Verminderung des kaiserlichen Ansehens etwa? Man mache doch einmal den Versuch, in Österreich vom Kaiser zu reden wie man es in Deutschland an jeder Tafelrunde hört, und man kann etwas erleben, auch von gar nicht in Loyalität getauchten Männern.«
Sollen wir aus alldem den Schluss ziehen, dass der Kaiser mit seinem Versuch, die Reichsidee zu verkörpern und zu projizieren letztlich gescheitert ist? Nicht unbedingt. Es ist bekanntlich schwierig, den Gradmesser der »öffentlichen Meinung« zu treffen, und man sollte sich vor jedem Urteil hüten, dass sich ausschließlich auf Zeitungskommentare stützt – »veröffentlichte Meinung« und »öffentliche Meinung« sind nicht ein und dasselbe. Die Ausländer sahen das manchmal klarer als die Deutschen: Der Kaiser mag »die Aura eines Souverän, der über jeder Kritik steht«, verloren haben, schrieb der niederländische Gesandte in Berlin 1908 auf dem Höhepunkt der Daily Telegraph-Affäre, als dem Kaiser wegen taktloser Äußerungen schon wieder eine Empörungswelle entgegenschlug. »Doch bei der persönlichen Ausstrahlung, die er besitzt, wird er in den Augen der Masse seiner Untertanen immer eine enorme Vorrangstellung behalten.«
Diese erstaunliche Unverwundbarkeit lässt sich nicht zuletzt durch den Umstand erklären, dass die Beziehung zwischen dem Kaiser und seinem Publikum nicht ausschließlich politisch, im engeren Sinne, war. Andere Elemente seiner Tätigkeit im Amt erregten ebenfalls das Interesse und die Sympathie wichtiger Teile der Öffentlichkeit. In einem viel stärkeren Ausmaß als seine beiden Vorgänger war Kaiser Wilhelm II., wie gesagt, ein Mann der modernen Wissenschaft, der sich mit renommierten Pionieren des industriellen und technischen Fortschritts umgab und sich öffentlich zu bahnbrechenden Forschungsprojekten bekannte. Wilhelms Anrufungen der göttlichen Vorsehung mögen zur Zielscheibe des Spotts der anspruchsvolleren Zeitungen geworden sein, doch trafen sie einen Nerv bei zahllosen einfachen Deutschen, und viele Protestanten der Mittelschicht unterstützten begeistert seine Bemühungen, die Kaiserkrone wiederum zu sakralisieren.
Zudem blieb der Kaiser ein nationales Symbol – nicht zuletzt mangels Alternative, weil das Reich über so wenige, echte nationale Symbole verfügte. In Bayern lockten Zeremonien des »Kaiserkultes« (Paraden, Denkmalenthüllungen und Feierlichkeiten von 1913) Zuschauermassen nicht nur aus der Mittelschicht, sondern auch Bauern und Ladenbesitzer an. Selbst innerhalb der sozialdemokratischen Milieus der Industrieregionen bestand offenbar eine Kluft zwischen der kritischen Sichtweise der SPD-Führung und der Masse der SPD-Anhänger: die von Polizeispitzeln in den Kneipen der Hamburger Arbeiterviertel aufgezeichneten Gespräche enthielten einige abfällige, aber auch viele positive und sogar leidenschaftliche Kommentare zu »unserm Willem«, der wegen seines Einsatzes für den Ausbau der Schiffindustrie gefeiert wurde.
Schließlich – und ich komme nun wirklich zum Ende – ist der »Unterhaltungswert« der Monarchie, der um 1900 durch die Kinematographie noch enorm gesteigert wurde, nicht zu unterschätzen. Der kaiserliche Hof erkannte rasch das propagandistische Potenzial der neuen Technologie. 1890 an gaben Hofbeamte und sogar der Kaiser selbst Filme in Auftrag, die den Monarchen zeigten. Oskar Messter, ein Pionier der Kinematographie, wurde in den Nahen Osten geschickt, um die Palästinareise des Kaisers zu filmen – das daraus hervorgegangene Material wurde im ganzen Reich gezeigt und war ein enormer Erfolg. Von 1905 filmte der Hoffotograf Theodor Jürgensen nicht nur Stapelläufe und andere Marineereignisse, an denen der Kaiser offiziell teilnahm, sondern auch – eine Neuheit in der Geschichte der monarchischen Selbstdarstellung – Szenen aus dem Alltagsleben an Bord der Jacht Hohenzollern, im Sommerpalast auf Korfu und zu Hause im Berliner Schloss. Die von Jürgensen aufgenommenen Sequenzen wurden von einem großen Filmverleih verwaltet und an Hunderten von Schauplätzen im ganzen Reich gezeigt. Dadurch wurde es möglich, den Kaiser in einer ganzen Palette privater Rollen zu präsentieren: als Familienvater, in der Freizeit und im Urlaub.
Die familiäre Dimension der Monarchie blieb ihrerseits ebenfalls ein wichtiger Brennpunkt für sentimentale Bindungen. Im Jahr 1913 war die Hochzeit zwischen Wilhelms Tochter Prinzessin Viktoria Luise und Ernst August III. von Hannover ein öffentliches Schauspiel; das mit einer frühen Form des Farbfilms aufgezeichnete und von Millionen Menschen im ganzen Reich bewunderte Spektakel bot den Massen womöglich das letzte Mal vor Ausbruch des Krieges die Gelegenheit, sich mit einem Ereignis im Leben des Monarchen emotional zu identifizieren. Selbst die kritischeren Zeitungen anerkannten die bemerkenswerte, psychologische Wirkung dieser Schauspieler auf die Zuschauermassen vor Ort und in den Kinosälen. Hier wurde ein Band zwischen Monarchie und Massenunterhaltung geschmiedet, das noch heute Bestand hat – wer in England während der Hochzeit von “Kate and Wills” weilte, als die ganze Nation während der Hochzeit von “Kate and Wills” beurlaubt und von Freude durchbebt das ganze herrliche Theaterspiel vor Millionen von Fernsehbildschirmen miterlebte, wird das nachdrücklich bestätigen können.
So erfolglos war Wilhelm II. meines Erachtens also nicht, in seinen Versuchen, als Reichsmonarch in den Geistern des Volkes lebendig zu werden. Beträchtliche (wenn auch nicht genau quantifizierbare) Reserven des »kaiserlich-royalistischen Kapitals« bestanden wohl doch noch in der deutschen Gesellschaft. Um sie ganz zu beseitigen, bedurfte es der traumatischen Umwälzungen eines Weltkriegs.