Ankündigung des Vortrages – Dr. Thomas Brinkmann
Dr. Klaus von Dohnanyi
„Stabilität und Krise“: Wie ist Deutschland aufgestellt?“
Kehren wir, meine Herren, noch einmal zu der magischen Zahl 9 zurück. Wie kein anderes bestimmte das Jahr 1969 eine Zeitenwende in der heute vielfach so bezeichneten „alten Bundesrepublik“.
„Mehr Demokratie wagen“ – war das Credo einer ganzen Epoche.
Auch dieses Jahr hatte natürlich seine Vorläufer, etwa das Jahr 1959, in dem die SPD ihr Godesberger Programm und Günter Grass seine „Blechtrommel“ veröffentlichte.
Klaus von Dohnanyi wurde 1949 im Zivilrecht promoviert. 1969 wurde er Bundestagsabgeordneter und 1979 Landesvorsitzender der SPD in Rheinland Pfalz. Gleichfalls seit 1969 war er Parlamentarischer Staatssekretär im Bildungsministerium – und da es auch solche Jahreszahlen gibt, die nicht mit einer 9 enden – von 1972 bis zum Rücktritt Willy Brandts Bundesbildungsminister.
10 Jahre später wurde er zum Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg berufen. Er steht damit in einer Reihe der großen Persönlichkeiten der Hamburger Politik, – ich nenne nur die Namen Max Brauer und Herbert Weichmann.
Nach der Wende richtete er seinen Blick wie kaum ein anderer Politiker des Westens auf die östlichen Landesteile.
Herr Dr. von Dohnanyi, wir danken Ihnen für Ihr heutiges Kommen nach Bremen.
Wie ist Deutschland aufgestellt?
Ist die aktuelle Wirtschaftskrise für die erreichte Stabilität zerstörerisch?
Sie haben das Wort!
Bundesminister a.D. Dr. Klaus von Dohnanyi
Meine sehr verehrten Herren,
zunächst möchte ich als Hamburger meinen Respekt und meine Bewunderung ausdrücken für die große, kulturelle Tradition, die dieses Rathaus und Ihre Versammlung zum Ausdruck bringen. Das lässt sogar einen Hamburger etwas neidisch werden. Und Die Bewunderung gilt natürlich besonders für dieses Rathaus, diesen Saal. Wir hatten unsere ehrwürdigen Gebäude schon 1842 im großen Brand verloren.
Unsere beiden Städte sind seit jeher der Welt offen zugeneigt und so lohnt es sich, bevor ich mich der Lage in Deutschland im Einzelnen zuwende, einen Blick auf die weltwirtschaftliche Ausgangslage zu richten.
Es waren eine hohe Weltliquidität und die Ungleichgewichte, unter anderem aus den großen Devisenreserven Chinas, seiner hohen Sparrate und der daraus resultierenden Notwendigkeit für dieses Kapital Anlagen zu finden, die einen wichtigen Ausgangspunkt der heutigen Lage ausmachten. Denn diese Anlagen waren dann amerikanische Staatsanleihen oder die amerikanische Börse und das Auslandskapital führte von da in den Markt der USA mit allen Folgen, wie wir es beobachtet haben. Ich betone das, weil ich nicht glaube, dass neue Gier und außergewöhnliche Boni eine wirklich zentrale Rolle in dieser Entwicklung gespielt haben. Gier ist eine urmenschliche Eigenschaft und reicht immer so weit, wie menschliche Freiheit, ungehindert durch Gesetz und Moral, reichen kann.
Wir haben in Deutschland natürlich vom chinesischen Export nach USA profitiert, denn von uns kamen die Maschinen, die Maschinen mit denen in China z. B. die Schuhe hergestellt wurden, die dann nach Amerika gingen und die Amerikaner haben ihre Schuhe auf Kredit gekauft. Das war, etwas vereinfacht gesprochen, der Kreislauf.
Nun ist es sicher richtig, dass wir nach Regulierungen suchen, nach neuen Regulierungen. Aber das wird schwierig werden wegen der sehr unterschiedlichen Interessen – ich komme darauf noch zurück – von China, zum Beispiel, den USA oder auch Großbritannien auf der einen Seite und Kontinentaleuropa, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland, auf der anderen Seite. Wir müssen wenn wir über diese Kontrollen reden dabei auch überdenken, dass die offenen Weltmärkte, in denen wir leben, einen hohen Bedarf an Finanzinstitutionen und Finanzinstrumenten haben, wobei es solche Instrumente gibt, die man beurteilen kann und solche, die man – wie wir wissen – erst hinterher als giftig, als toxisch bezeichnet, weil man sie eben zuvor nicht wirklich überschauen konnte. Die Krise war also im Ursprung eine der Realwirtschaft – eben eine der Verschuldungsbereitschaft der Amerikaner. Es ist der Abfall der Nachfragen, die durch den Kreditwahnsinn insbesondere im Hypothekenbereich hochgeschaukelt worden war, gewaltige Kapazitäten in der Welt geschaffen hat, die nun – ohne diese Kredite – nicht mehr ausreichend ausgeschöpft werden kann. Aber wir sind noch immer nicht an der Wurzel.
Denn es hat Finanzkrisen gegeben seit es Geldverkehr gibt. Schon im römischen Reich kennen wir Finanzkrisen und Professor Kindleberger, der große amerikanische Wirtschaftshistoriker, leider vor einigen Jahren verstorben, hat – mit letzter Auflage 2005 – ein Buch über diese Krisen „Maniacs, panics and chrashes“ , genannt also „Verrücktheiten, Panik und Chrash“, und es beginnt mit der legendären Tulpenkrise zu Beginn des 17. Jahrhunderts – etwa in der selben Zeit, in der dieses schöne Rathaus gebaut wurde, oder mindestens im Renaissancestil ausgestattet wurde. Kindleberger zählt etwa 40 große Finanzkrisen seit dieser Zeit. Und es gibt ein neues Buch von Carmen M. Reinhard und Kenneth S. Rogoff (Princeton University Press) „Eight Centuries of Financial Follies“ also „Acht Jahrhunderte Financial Follies“, das sich demselben Thema widmet.
Überwiegend sind die Krisen der letzten 100 bis 150 Jahren entweder in den USA oder in Großbritannien entstanden. Spekulationen, neue Produkte, neue Märkte: Fantasie auf den Finanzmärkten – und keine ausreichende Kontrolle. Doch auch da sind wir, so scheint mir, noch nicht wirklich an der Wurzel der Krisen. Wir müssen sorgfältiger über die Zusammenhänge nachdenken. Denn immer es gab neue Finanzinstrumente immer erst, wenn eine kommerzielle Notwendigkeit sie erforderte, also wenn sie in der Realwirtschaft ihre Begründung hatten. Es gab den Schuldschein und um Kreditmöglichkeiten zu erschließen ohne Pfand, aber zu Beginn wurden die Leute, die nicht bezahlen konnten, als Sanktion in den Schuldturm gesteckt. Und weil man das Geld ja nicht immer bar über die Grenzen tragen wollte wurde der Wechsel entwickelt und erst dann gab es ein Wechselrecht. Ich habe kürzlich gelesen, Hamburg sei auf dem Kontinent wohl der erste Stadtstaat gewesen, der ein Wechselrecht eingeführt habe. Oder: Man schuf haftungsbeschränkte Gesellschaften, also was die Engländer „Limited“ nannten, und wir dann GmbH`s. Erst dann wurde ein GmbH-Recht geschaffen, um den beginnenden Missbrauch begrenzter Haftung unter Kontrolle zu bringen. Dasselbe galt für das Aktienrecht, oder für das Konkursrecht. Die Kontrollen folgten immer den neuen Entwicklungen der Realwirtschaft, also deren Dynamik: Panta Rhei, heißt es bei dem Griechen Heraklit, alles fließt. Dynamik kennzeichnet die menschliche Entwicklung. Dynamik in der Gesellschaft, Dynamik in der Wirtschaft. Für die Ordnung dieser Entwicklung gab es lange Zeit hindurch nur den regionalen Gesetzgeber, das Gewaltmonopol des Staates. Zunächst des Kleinstaates. Dieses Gewaltmonopol war geeignet um Ordnung und Kontrollrechte zu schaffen. Dann bemühte man sich, dieses Privatrecht international wirksam zu machen. zu koordinieren: Das Internationale Privatrecht
Wenn man den Verlauf der großen Wirtschafts- und Finanzkrisen verfolgt, dann gibt es gewiss viele Ursachen. Aber fast immer gab es zu Beginn erhebliche Erweiterungen der Wirtschaftsräume. Sozusagen große Schritte in der Evolution, in der Entwicklung der Menschheit. Denn was wir heute Globalisierung nennen ist ja kein neues Phänomen. Es ist nur das Ausmaß, die Erfassbarkeit, die Erreichbarkeit, die Beherrschbarkeit der großen Räume, die schwieriger geworden ist, aber die Entwicklung war es immer dieselbe: Vom Rad, mit dem man über das Hoftor rollen konnte, bis zum Jet. Es war immer derselbe Entwicklungstrend. Neue Räume, neue Freiheiten und verbunden mit den neuen Freiheiten die Fragen zuerst: „Wie können wir diese neuen Räume wirtschaftlich beherrschbar machen? Und dann: „Wie können wir das für den Menschen erträglich, kontrollierbar, ökonomisch und sozial beherrschbar machen?“
mit Krieg
Früher waren derartige Raumerweiterungen in der Regel verbunden. Der Krieg war der Kumulationspunkt einer schrittweise, durch technisch bedingter neue Erreichbarkeiten entfernter Räume aufgebaute Konfliktlagen. Die Krise entstand, weil die bisherige Stabilität durch diese Erreichbarkeit und potentielle wirtschaftliche Erschließung größerer Räume nicht mehr garantiert und gesichert war. Im Grunde genommen kann man den Krieg mit einem Erdbeben vergleichen, wo ja durch tektonische Verschiebungen in der Erdkruste Spannungen entstanden sind, die nach einer Weile zu einer explosiven Eruption führen. Wie die Erde findet auch die historische Welt nach den großen Kriegen wieder eine neue Stabilität, aber eben nie auf Dauer; auf jeden Fall bisher nicht. Insofern zitiere ich Heraklit erneut, der gesagt hat: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge – aller Dinge König!“.
Gegenwärtig erscheint es, als ob große Kriege äußerst unwahrscheinlich geworden sind. Wir sind inzwischen so verflochten in der Welt und die Wirkung der nuklearen Waffen ist so immens, dass wohl nur noch der asymmetrische Krieg des Terrorismus vorstellbar sind, und nicht mehr der „große Krieg“, wie ich ihn in meiner Jugend selber noch erlebt habe und wie er ja das Europa danach im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt hat. Ob allerdings diese heutige Stabilität auch sicher sein wird, wenn alle Nuklear-Waffen einst abgeschafft sein sollten, darüber muss man wohl lange nachdenken, darüber kann man auch streiten.
Wenn größere Räume einmal erschlossen und befriedet sind, dann entfallen innerhalb des Raumes die Grenzen. Befriedung und offene Grenzen hängen zusammen. Was ist die Folge? Eine Welt ohne Krieg ist eine Welt der offenen Grenzen wird dann notwendig zu einer kommerziellen Welt, weil die Menschen ihren Wettbewerb, ihre Konkurrenz – der Mensch ist eben ein ehrgeiziges und wenn man so will auch sehr aggressives Wesen – nun nicht mehr mit Waffen sondern kommerziell austragen wollen und können.
Heute ist der Globus durch weltweite Kommunikation „erschlossen“. Und insofern auch „befriedet“. Wir gehen also in der Globalisierung auf eine kommerzielle Welt zu. Wenn aber der „Krieg“ nicht mehr der Vater aller Dinge sein wird, dann wird die „Krise“ wohl die Mutter aller Dinge werden. Das heißt, wir werden auch in Zukunft – so wie jetzt auch – in der Entwicklung dieser Welt Krisen erleben, und diese Krisen werden uns verändern, die Strukturen verändern und wir werden mit diesen Folgen umgehen müssen.
Die gegenwärtige Krise ist also in ihren tiefer liegenden Wurzeln keine Folge neuer Gier. Der Mensch ist immer gierig gewesen. Sie ist auch keine Folge von neuen Boni. Ich habe dieser Tage einen Artikel gelesen, dass es vergleichbare Boni schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten gegeben hätte; ein Bankchef, also ein Chef einer großen deutschen Bank, verdiente schon damals etwa so 150 mal so viel wie ein normaler Mitarbeiter; es hat sich also in der Beziehung nicht so sehr viel verändert. Die gegenwärtige Krise hat in ihrer Wurzel auch nicht bei machthungrigen Managern, auch die hat es immer gegeben; wie auch verantwortungslose Eigentümer. Die Konzentration der Ursachenforschung auf Gier und Werteverlust ist nach meiner Meinung – ich sag das mal so offen, –zu kurz gedacht und eigentlich Unsinn!
Das Problem ist vielmehr, dass der Mensch so ist wie er ist. Er hat sich als Lebewesen nicht grundsätzlich verändert. Aber durch die neuen Freiheitsräume sind die Regelsysteme, also das, was durch Sitte und Moral im kleinen Raum entstanden war, verloren gegangen. Ich habe vor einiger Zeit, als ich in der Krise historisch etwas tiefer schürfen wollte, unter anderem noch mal eine Rothschild Biografie gelesen. In dieser Biografie des großen Rothschilds stand auf der Rückseite des Einbandes Rothschild sei wohl die zweitbedeutendste Persönlichkeit gewesen, die Frankfurt am Main hervorgebracht habe: Goethe die wichtigste und dann Rothschild. Ich halte das für keine Übertreibung, wenn man die Bedeutung des Hauses Rothschild im 18. Jahrhundert oder im 19. Jahrhundert sieht,. Wenn Sie allerdings diese Biografie lesen, werden Sie feststellen, dass dieser Mann nach heutigem Recht jede Woche einmal im Gefängnis gelandet wäre. Einfach deswegen, weil das Recht damals anders war. Weil man früher Dinge tun konnte, die man heute nicht mehr tun darf. Weil wir eben, zum Beispiel, Insider-Trading unter Strafe stellen, was damals nur eine Frage der Geschicklichkeit war. Weil wir es nicht mehr zulassen, dass jemand eine Information auf irgendeinem Wege nach London bringt, um dort auf Baisse zu spekulieren, um dann wie Rothschild (nach der Schlacht von Waterloo) ein riesiges Vermögen zu machen. Das dürften wir heute nicht mehr.
Die Regelsysteme haben sich eben nach unseren Erfahrungen verändert, jeweils im Zuge der Veränderung wirtschaftlicher Instrumente, die wiederum im Zuge größerer Wirtschaftsräume entstanden waren.
Und hier liegt für mich die entscheidende Frage zum Nachdenken: In den letzten 30 Jahren, sind die Räume explodiert. 1978 hat der große Deng Xiaoping China geöffnet; 1989 ist die Mauer gefallen; in den 90iger Jahren wurde Indien aus einem sozialistisch regierten Land zu einem Land mit demokratischer Marktwirtschaft, trotz aller Einschränkungen, die noch bestehen. Und wenn sie heute diese Länder bereisen und diese noch aus der Zeit vor 30 Jahren kennen – was für eine riesige Explosion von Freiheit! In meiner Zeit – ich hatte übrigens das Glück 1973 zwei Stunden mit Deng Xiaoping zu reden, damals waren in China noch alle in ihren „Blaumännern“ eine einheitliche Farbe. Heute ist China ein Land, da können sie eine Stadt wie Shanghai fast mit New York verwechseln. Eine völlig andere Situation. „Freiheit“ sicherlich mit vielen Einschränkungen nach unserem Demokratieverständnis, aber China ist gewiss ein Land, in dem es eine große Freiheitsexplosion in Richtung Kommerz gegeben hat.
Und das hat es in gewisser Weise auch in Russland und in Indien gegeben und gibt es gegenwärtig auch in Brasilien. Die sogenannten BRICs, also Brasilien, Russland, Indien, China – wie man sie zusammenfasst – haben einen riesigen neuen wirtschaftlichen Freiheitsraum geschaffen, für den es zwar Kommunikation, aber noch keine Ordnung, keine Regeln gibt.
Das alles in sehr kurzer Zeit. Nach meiner Kenntnis ist z. B. der erste Container nach Hamburg im Jahre 1968 gekommen. Das ist mal gerade 40 Jahre her. Man hat erst vor 20 Jahren begonnen mit dem Internet zu arbeiten, heute googelt die Welt. Und zwar mit sehr verschiedenen Folgen, wie wir alle wissen. Oder: Wenn sie nur 100 Jahre zurückgehen und sie sehen einen Film aus dem Berlin vor dem ersten Weltkrieg, also vor 100 Jahren, dann fahren da noch mehr Pferdekutschen als Autos. Nur 100 Jahre…!
Diese Freiheitsexplosion, die insbesondere in den letzten 30 Jahren stattgefunden hat enthält aus meiner Sicht den Kern der Problematik, aus der die heutige Krise entstanden ist. Denn Transport zu günstigen Kosten und Produktion an welcher Stelle auch immer, das alles hat sich eben völlig verändert und drang ein in Räume, die bisher wirtschaftlich weitgehendverschlossen waren, wie China, Russland oder auch Ost-Europa.
Ein Beispiel: Es ist ja bekannt, dass die Bremer Bürgerinnen und Bürger wussten, wie ein guter Rotwein schmeckt. Aber schmeckten sie wirklich so viel feiner als, sagen wir mal, die Leute in Berlin oder die Leute in Nürnberg? Nein – die Qualität des Rotweins in Bremen und in Hamburg war eine Frage des Transports! Man konnte eben aus dem Mittelmeerraum oder von der Atlantikküste per Schiff Rotwein in die deutschen Küstenstädte bringen. Man konnte das aber noch nicht über die Straße, dann wäre der Wein in den Postkutschen zu sehr geschuckelt worden und kaputt gegangen! Oder: Warum ist der Moselwein in der ganzen Welt so bekannt ist und der vielleicht sogar bessere Wein, sage ich mal, aus der Südpfalz oder vom Kaiserstuhl nicht? Das liegt wiederum daran, dass für lange Zeit der Rhein nur bis zur Mosel schiffbar war.
Die Globalisierung ist Kommunikation, ist die wirtschaftliche Öffnung von Räumen durch verbesserte Kommunikation. Und Wirtschaftsräume, Märkte, brauchen Ordnung. Wenn man das erkennt, dann kommt man zu dem Ergebnis, das es heute um zwei Dinge gehen muss: Nämlich einmal, wie können wir für die neuen großen globalen Wirtschaftsräume neue Ordnungen schaffen, und bis wann können wir es schaffen und wie handeln wir in der Zeit bis dahin?
Während wir gegenwärtig auf die Regeln starren, also auf neue Regelsysteme, insbesondere die des Finanzsystems, entwickelt sich in zugleich als Folge der Öffnung der Welt, als Folge der neuen Freiheiten, die durch Internet und neuen Kommunikationsmethoden erschlossen wurden und weiter erschlossen werden, eine völlig neue Weltwirtschaft! Und zwar ganz unabhängig von den Finanzregeln, auf die wir starren!!
Bildung, Wissenschaft, angewandte Technik, moderne Dienstleistungen usw.: Sie sind alle international übertragbar geworden. Und der Export von Maschinen und Anlagen industrialisiert gegenwärtig die sogenannten Schwellenländer, die aber in vielen Bereichen die „Schwelle“ längst überschritten haben. China beherbergt heute, das nach der Firma Ericsson zweitstärkste Mobilfunkunternehmen. Deutschland hat seine Textil- und Schuhproduktion an Ostasien – insbesondere an China – abgegeben. In Indien, so sagt Renault, werde man mit Tata ein Auto für 2.000 Euro bauen! Niemand soll glauben, dass so ein Auto nie nach Europa kommen wird! Das wäre eine leichtfertige Illusion. Und bei uns beginnen auf dem Automobilsektor Rabattschlachten und Überkapazitäten führen dazu, dass Daimler einen Teil der C-Produktion, zwar in Bremen lässt, aber eben auch einen Teil in die USA verlagert, wo billiger produziert werden kann.
Wir haben in den 60iger Jahren relativ leichtfertig ganze Branchen verloren. Die Fotobranche an die Japaner, die Elektronikbranche ebenfalls an die Japaner und an China. Wir stehen heute in der EU und in der globalisierten Welt vor einem harten Kosten- und Qualitätswettbewerb, mit neuen und mit erneuerten Anbietern. Mir sagte neulich in einer Mediation, also einer Art Schlichtung, in der ich im Augenblick befangen bin, ein sehr kluger Gewerkschaftler, der den Strukturwandel in seinem Bereich vor Augen hat: „Diese Krise ist nur der Brandbeschleuniger des Strukturwandels.“ Und das muss man, glaube ich, sehr ernst nehmen! Sie ist nur der Brandbeschleuniger, sie beschleunigt was ohnehin stattfinden würde, aber sie beschleunigt nur es mit großem Tempo.
Gleichzeitig steigt zur Bekämpfung der Krisenfolgen die Staatsverschuldung und stößt an ihre Grenzen auf den Kapitalmärkten. Es gibt zwar noch keine erkennbare Inflationsgefahr und ich glaube auch nicht, dass in absehbarer Zeit Inflation eine wirkliche Gefahr sein wird, denn wir haben Überkapazitäten in der Welt und einen solchen Druck auf die heimischen Löhne: Woher soll dann eigentlich der Inflationsdruck kommen? Auch die Gefahr einer Deflation scheint ja jetzt überwunden.
Aber es wird erkennbar, dass die Krise erheblich in den Arbeitsmarkt hineinwirken wird. Die Kurzarbeit verdeckt das bisher, aber es wird im Gefolge der Krise erhebliche Rationalisierungseffekte geben. Und wenn man weiß, dass im Dezember 1944, als faktisch jeder Mann in Deutschland, der auf zwei Beinen gehen konnte, eingezogen war, das Deutsche Reich dennoch die höchste Produktion und Produktivität der ganzen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreicht hatte (weil man eben mit sehr viel weniger Leuten oft sehr viel mehr herstellen kann), dann wird einem klar, dass auch diese Krise langfristig einen großen Druck auf den Arbeitsmarkt ausüben wird.
Besteht eine Gefahr des Protektionismus? Wenn sie heute die „Financial Times“ aufschlagen, enthält so die Titelüberschrift die Warnung. Ich sehe das eigentlich aber noch nicht, obwohl es natürlich in den USA und in China Tendenzen gibt. Aber ich glaube, dass die technische Entwicklung immer wieder eine offene Welt erzwingen wird, eine kommerzielle Welt, eine Welt des Wettbewerbs und eine Welt wachsender Produktivität. Mit neuen und erneuerten Anbietern – auch auf unseren klassischen Sektoren.
Man kann sich natürlich in diesem Zusammenhang die Frage stellen, ob es nach der langen Debatte über die Grenzen des Wachstums, die wir aus der Studie von Meadows und des „Club of Rome“ aus dem Jahre 1973 kennen, heute vielleicht eine Studie geben müsste über „Grenzen der Freiheit“. Sie, zum Beispiel, dürfen hier nur rauchen, wegen eines besonderen Gesetzes! Hab´ ich gelernt, eben. Noch vor kurzem war man aber ganz frei zu rauchen. Man begrenzte diese Freiheit gesetzlich aus Gesundheitsgründen. Oder: Wir haben noch keine umfassende Geschwindigkeitsbegrenzung, aber das Argument „freie Fahrt für freie Bürger“ ist vielleicht nicht mehr ganz so tragfähig, wenn wir an die Umweltfolgen denken. Wir haben auch viele andere Einschränkungen unserer Freiheiten auf dem Umweltsektor. Man muss auch sehen, dass wir in vielen anderen Bereichen an die Grenzen der Freiheit stoßen, über die wir nachdenken müssen. Ich will das hier jedoch nur erwähnen und mich diesem Thema hier nicht im Einzelnen widmen, obwohl ich das für eine sehr wichtige Frage halte. Wie wollen wir mit den neuen Freiheiten in den globalen Räumen so um, sodass wir uns dabei gegenseitig helfen und nicht beschädigen?
Was ist für unser Land zu tun? Wie sind wir aufgestellt? Jedenfalls scheint es mir nicht sinnvoll mit der Antwort zu warten, bis neue Finanzmarktregeln die Welt für angeblich immer sicher gemacht haben! Die Erfahrung mit Finanzkrisen in der Geschichte spricht dafür, dass selbst wenn gültige Regelsysteme für China, Indien, Lateinamerika und besonders die USA vereinbart und alle eingehalten werden, wird sich in der Welt evolutionär Neues entwickeln, werden neue Verwerfungen entstehen, wie es in der Geschichte immer wieder der Fall gewesen ist. Mit neuen Krisen, auch der Finanzen.
Wir sind, als Exportnation von den Folgen dann zunächst in besonderer Weise betroffen – wir waren es auch diesmal zunächst in besonderer Weise. Und so gibt es Vorschläge, wir sollten unsere Exportabhängigkeit reduzieren. Zunächst sollte man dafür wissen, dass alle Nachzügler in der Industrialisierung – und Deutschland war ein solcher im 19. Jahrhundert – heute exportlastig sind! Japan ist exportlastig, Deutschland ist exportlastig. China wird exportlastig. Alle Länder, die in erster Linie spät industrialisierten, mussten nämlich ihren Wohlstand über den Export erwerben und haben daher auch ihre Angebotsseite, also ihren wirtschaftlichen Entwicklungspfad, über den Export gesucht und gefunden.
Nun heißt es, wir sollten die Binnennachfrage stärken. Doch nicht nicht auf Kosten des Exports! Der Export ist doch nun mal unsere Angebotsstruktur! Ich sage in solchen Debatten manchmal so zum Scherz: „also wenn wir unsere Maschinen in Schokolade herstellen könnten, könnten wir sie ja als Binnennachfrage verwenden!“ Aber Maschinen sind eben Maschinen, und wenn man dafür Kapazitäten braucht, die nur in einem bestimmten Kapazitätsvolumen wettbewerbsfähig sind, muss man sie eben in diesen Mengen herstellen. Wenn man dann aber einen begrenzten eigenen Markt hat, der bei uns aus 80 Millionen Menschen besteht, muss man einen wachsenden Teil dieser Produktion außerhalb der Grenzen verkaufen. Also exportieren.
Kann man die Binnennachfrage dann über Lohnerhöhung stärken, wie verlangt wird? Das ist seit langer Zeit eine Debatte, die insbesondere im Sachverständigenrat von Herrn Professor Bofinger vertreten wurde. Für mich war das Argument immer unverständlich. Denn mit unseren Löhnen liegen wir, nach der letzten Statistik die mir vorliegt, in der OECD oben an dritter Stelle. Da sind natürlich dann auch die Lohnnebenkosten dabei. Wir sind auch bei den Lohnstückkosten weit oben im oberen Drittel. Doch wir sind exportabhängig, und im Export treffen wir jetzt auf Niedriglohnländer mit großen Kapazitäten und auch exzellenter Technik und Technologie.
Ich bin immer noch Aufsichtsratsvorsitzender eines Teils der früheren „TAGRAF“; bei der „Kranunion“, bisher nur „Kirow“. Wir produzieren Krane, Hafenkrane und Eisenbahndrehkrane. Bei den Eisenbahndrehkranen sind wir Weltmarktführer, wieder! Wirklich ein sehr tüchtiges Unternehmen in Leipzig. Kocks in Bremen ist eine Tochter von uns, ebenso produzieren wir in Eberswalde und auch in Oberhausen. Aber als kürzlich der Großinvestor des neuen Hafens in Wilhelmshaven sprach und erläuterte, wie er sich dort den Tiefseehafen vorstellt, sagte er wortwörtlich: „Und die Krane kommen alle aus China…!“ Die Chinesen haben heute schon 75 % Weltmarktanteil am Hafenkranbau und unterbieten uns preislich regelmäßig um ungefähr 25 %! Also in einer Größenordnung, in der wir nur noch zubuttern könnten, was wir aber nicht mehr finanzieren könnten und auch nicht sollten. Und da sollen wir die Löhne erhöhen?
Also, mit Lohnerhöhungen für die Binnennachfrage zu argumentieren, scheint mir töricht zu sein, äußerst töricht! Was bleibt also übrig? Man sollte sich fragen: Was mache denn die Binnennachfrage in anderen Ländern aus? Es wird oft von Frankreich gesprochen, von der finanziellen Struktur und vom französischen Binnenmarkt. Aber was dort den privaten Konsum angeht, so liegt er fast genau bei dem Anteil am Sozialprodukt wie bei uns . Zwischen 56% und 57% gegenüber 70%, die in Amerika verbraucht werden. Neulich las ich in einer amerikanischen Zeitung, die Deutschen müssten endlich mehr Binnennachfrage machen – die hätten ja nur 56% Verbrauch, „wir“ Amerikaner haben 70% Konsum! Da habe ich mir gedacht, ja, das wollen wir euch wirklich nicht nachmachen! Und das auch noch auf Kredit…!
Der Konsumanteil also fast identisch in Deutschland und in Frankreich. Aber die Franzosen verbrauchen anders! Vor einiger Zeit gab es eine Studie von Nestlé. Da hieß es in der Überschrift: „Die Deutschen essen am liebsten billig!“ Die Franzosen nicht…. Franzosen geben ungefähr 2 Punkte mehr für Essen aus und wir mehr für Autos. Aber unsere Autos werden zu einem erheblichen Teil gar nicht in Deutschland produziert, sind also gar nicht „Binnenwirtschaft“. Der Porsche, zum Beispiel, wird mit 65% in der Slowakei produziert! Und das, was Professor Sinn einmal die „Basar-Ökonomie“ genannt hat, gilt natürlich besonders für den ganzen Zulieferbereich im Sektor der Autoindustrie. Und weiter: Die Franzosen verbringen ihren Urlaub mehr im eigenen Land, wir haben zwar eine schöne Nordseeküste, wir haben eine schöne Ostseeküste, und ein schönes Mecklenburg-Vorpommern und Süddeutschland, aber wir haben eben nicht eine so schöne Sonne wie der Süden Frankreichs und die südliche Atlantikküste. Wir haben auch kein großes eigenes Skigebiet, wie die Franzosen, sondern wir müssen nach Österreich fahren. Also, mit anderen Worten, wir geben weniger für Konsum im Inland aus und mehr für einen Konsum, der importiert wird, der dann nicht „Binnennachfrage“ ist. Löhne zu erhöhen, um unsere Abhängigkeit vom Export durch hohe Lohnkosten zu gefährden halte ich für schlicht nicht durchdacht und eigentlich nicht würdig einer gesunden ökonomischen Debatte. Was aber soll im Inland zusätzlich für das Inland produziert werden?
Was können wir tun? Wir sollten, und das ist sicher richtig, eine etwas größere Unabhängigkeit vom Export gewinnen und binnenwirtschaftlich mehr zu konsumieren. Wir kriegen das aber nicht hin, wie die Franzosen in Restaurants usw.. Die Leute gehen bei uns eben ihre Nahrungsmittel lieber im Supermarkt kaufen!
Wir sind für diese neue Welt exzellent aufgestellt durch viele kleine Unternehmen, viele Weltchampions, wie man so schön sagt, durch eine exzellente betriebliche Zusammenarbeit: Ich habe eben mit dem Bürgermeister beim Abendessen – Abendbrot wie sie so schön sagen – darüber geredet, wie das auch hier in der betrieblichen Zusammenarbeit ist und habe ihm aus meinen drei Schlichtungen in diesem Jahr berichtet. Was wir da in Deutschland an Potential der Zusammenarbeit haben zwischen Betriebsräten, Gewerkschaften und der Betriebsleitung, das ist wirklich hervorragend und auch nicht zu ersetzen.
Bildung verbessern ist richtig, innovativ sein ist wichtig. Wir in Deutschland registrieren übrigens nach Japan die meisten Patente pro Einwohner. Diese Patente entsprechen in der Summe denen von Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien zusammen. Eigentlich doch kein schlechtes Zeichen für den Ausbildungsstand in Deutschland! Aber immerhin, da muss natürlich etwas geschehen. Wir sind schwach auf dem Sektor neuer Bereiche, zum Beispiel, sind wir dünn auf dem Sektor IT, wir sind da Netto-Importeure.
Unsere Wettbewerbsfähigkeit in der Industrie wird zukünftig einem noch härteren Rationalisierungs-Wettbewerb – ich sagte das bereits – ausgesetzt sein und einem ebenso harten Kostenwettbewerb. Arbeitsplätze werden dort nur begrenzt wachsen, wenn überhaupt und die Krise wird auf diesem Sektor – wie ich bereits sagte – tiefe Spuren hinterlassen.
Was also tun? Bildung in den Schulen verbessern, Hochschulen verbessern, Gesundheits-Systeme ausbauen, mehr Sicherheit vor Ort durch Polizei, das ist alles richtig, ist aber alles auch mit erhöhten öffentlichen Personalkosten verbunden. Das angelsächsische Konsummodell, das scheint mir ohnehin nicht wirklich nachahmenswert. Ich denke, die Republik hat eine Weichenstellung vor sich, und zwar zwischen einer immer weiter ausufernden Konsumgesellschaft mit dem dritten Flachbildschirm für das eine Kind, oder einer modernen Wohlstandsgesellschaft, für die Bildung, Schulen, Hochschulen und Gesundheit, aber auch Sicherheit und Polizei, eine größere Rolle spielen.
Nun gibt es ja eine aktuelle Steuerdebatte und auch darüber haben wir beim Abendbrot gesprochen. Wenn ich, um die Nachfrage in der Bevölkerung zu steigern die Wahl habe zwischen Lohnerhöhungen oder Steuersenkung, würde ich mich gegenwärtig immer für die Steuersenkung entscheiden, weil sie von der Wettbewerbslage her die zweckmäßigere Lösung ist. Trotz aller Probleme, die auch die jetzt vorgesehenen 20 Milliarden Steuersendung als Belastung für die Länder, Kommunen und Städte bedeuten. Ich weiß das, aber wenn ich mich entscheiden müsste, ob ich in dieser Phase der Krise die Binnennachfrage lieber durch Steuersenkung stärken oder in eine Kostenerhöhung durch höhere Löhne hineingehen soll, dann würde ich es jetzt lieber über Steuersenkungen machen.
Das gilt besonders für die Unternehmenssteuern. Denn in einer friedlichen, offenen Welt wird der Unternehmer zur Schlüsselfigur. Im Mittelpunkt in einer kommerziellen Weltwirtschaft wird der Unternehmer stehen. Nach der Krise kommt die Zeit des Unternehmers. Und deswegen bin ich fest davon überzeugt, dass wir unsere Unternehmenssteuern versuchen müssen stets so anzupassen, dass sie wirklich wettbewerbsfähig bleiben. Was sie heute wohl bei den Kapitalertragssteuern sind, aber bei den Steuern für die Kleinunternehmen, die nicht Kapitalgesellschaften sind, haben wir wohl noch immer eine zu hohe Belastung. Die Unterscheidung, die wir treffen müssen, zwischen entnommenem Gewinn und nicht entnommenem Gewinn, ist wohl immer noch nicht präzise genug und daran muss nach meiner Meinung weiter gearbeitet werden
Aber wir haben eine kurzfristige Frage nach Steuersenkungen und eine langfristige. Die kurzfristige dient der Krisenbekämpfung – wenn sie es dann tut. Langfristig bin ich nicht der Meinung, dass wir in Deutschland nicht zu hohe Steuern haben, sondern eher zu niedrige. Ich werde sie alle oder die meisten von ihnen vielleicht mit ein paar Statistiken erstaunen.
Im Jahr 2007, letzte statistische Meldung des Bundesfinanzministers aus dem November 2009, war die Steuerquote in Deutschland etwa 23%. Ich will ja nicht gleich nach Dänemark gehen, wo es 47% waren oder nach Schweden. Aber wir liegen, wenn man mal von Ausreißern wie Slowakei und Tschechien absieht, in der Steuerquote im internationalen Vergleich niedrig und eher nahe der Schweiz. Die Schweiz hat 22,8 % wir 23,9 % – macht eigentlich keinen so großen Unterschied. Wir hatten schon eine (Phase 2006 und 2005), wo wir mit 20,9 % und 21,9% sogar fast das amerikanische Steuerniveau erreicht hatten. Nun werden sie sagen: Ja, aber wir haben ja auch Sozialabgaben! Richtig. Aber es gibt auch hier eine Statistik, ebenfalls vom Bundesfinanzminister auf der Basis OECD und ebenfalls von November 2009, also „buchwarm“, wenn man so will. Da hatte Deutschland eine Abgabequote, also Steuern und Sozialabgaben in Prozent des Bruttosozialproduktes, von 36,2 %, das Vereinigte Königreich 36,6%. Uns wurde aber immer gesagt, die Briten sind da viel besser, viel niedriger. Aber niedriger als wir sind von den ernstzunehmenden Kokurrenten sonst eigentlich nur Kanada und Irland. Andere liegen alle entweder höher, zum Teil wesentlich höher.
Jetzt frage ich, was bedeutet es denn eigentlich? Wenn man eine schwache Binnennachfrage hat, die man durch die bestehende industrielle Angebotsstruktur und höhere Löhne nicht ausgleichen kann, aber auf dem öffentlichen Sektor, sprich Schulen, Hochschulen, Polizei und anderes, was ich vorhin genannt habe, doch dringenden Bedarf hat und zugleich eine zu hohe Staatsverschuldung: Sollte man dann eine niedrige Steuerquote haben? Eine niedrige Abgabenquote? Haben wir vielleicht deswegen auch eine schnell wachsende Staatsschuldenquote?
Hier sind andere Zahlen auch sehr interessant. Ich nehme mal den schwedischen Vergleich oder ich nehme die dänische Situation. Doch wirklich erfolgreiche Länder. Die dänische Abgabenquote lag im Jahr 2007 bei 48,9%, also viel höher als die unsrige, aber die dänische Staatsverschuldung erreicht auch jetzt in der Krise nur 35,2%. Wir erreichen nach unserer heutigen Schätzung im Jahre 2011 80%!Das ist bald doppelt so hoch.
Die wirkliche Frage also, die wir heute in Deutschland diskutieren müssen, lautet dennoch: Wollen wir niedrige Steuern, niedrige Abgaben und dafür einen stärkeren privaten Konsum, der uns dann zwangsläufig den notwendigen Ausbau von Schulen, Straßen, Hochschulen und medizinischen Einrichtungen usw. nicht erlaubt – oder wollen wir zwar niedrige Unternehmenssteuern für den Wettbewerb, aber gleichzeitig persönliche Einkommenssteuern und Mehrwertsteuern, die es uns erlauben, unser Land auf der öffentlichen Nachfrageseite ausreichend zu finanzieren,dort dann auch nützliche Arbeitsplätze zu schaffen, ohne das wir in 80% Verschuldung gehen? Wenn nämlich unsere skandinavischen Kollegen bei 40% verharren, trotz Krise dann werden sie nach der Krise uns einiges voraus haben!
Ich halte fest: Es wird keinen endgültigen Schutz gegen Krisen geben. In einer offenen Welt schon ganz gewiss nicht. So wie es keine endgültige Verhinderung von Krankheiten geben kann, aber es gibt doch, zum Beispiel, bei der Grippe, die Möglichkeit, sich impfen zu lassen oder sich fit zu halten, um nicht krank zu werden.
Die Erfahrung zeigt, so scheint mir:
1. Entscheidend bleiben die Kosten im Wettbewerb. Deutschland ist teuer, nicht nur bei den Löhnen. Wir haben zum Beispiel 25% höhere Durchschnittsgehälter der Lehrer als die OECD im Durchschnitt. Oder unsere Auszubildenden werden einmal alle zwei Jahren in einer sogenannten Ausbildungsolympiade in Helsinki geprüft und schneiden dort immer ganz an der Spitze ab, neben der Schweiz. Aber die Schweizer haben kürzlich ausgerechnet, dass unser duales deutsches System pro Kopf 25% teurer ist, als das der Schweiz! Warum? Also, wir sind teuer. Wir müssen darauf achten, dass wir unsere Kosten in Deutschland wettbewerbsfähig halten! Das wird immer wichtiger werden.
2. Wir müssen Wachstum im Visier haben, möglichst ökologisch orientiert. Aber ohne Wachstum und ohne erfolgreiche Unternehmen werden wir auch die gefährlichen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft nicht ausgleichen können. Wir müssen uns der Zuwanderung zuwenden. Und uns um eine gezielte Zuwanderung für qualitativ exzellentes Personal bemühen, so wie die Amerikaner oder die Kanadier das machen.
3. Weil die neuen Märkte in der Marktnähe der Produzenten liegen müssen unsere Firmen auch im Ausland investieren. Dafür brauchen wir starke Finanzorganisationen für Investition, damit unsere Unternehmen dort erfolgreich bleiben.
4. Wir müssen zugleich stark für international wirksame Regelsysteme eintreten, diese international wirkungsvoll vertreten. Aber das können wir nur als starke Volkswirtschaft.
5. Wir müssen stets eine Krisenvorsorge betreiben, denn die Krisen werden wiederkehren.
6. Wir müssen lernen, dass wir für die Märkte, in denen wir tätig sind, produzieren und nicht glauben, dass wir hier das alles besser wissen. Und wir müssen schnell handeln können, sowohl politisch, als auch in den Unternehmen. Wir müssen in der Lage sein, uns auch politisch effektiver zu bewegen und brauchen eine erhöhte Kreativität, die durch flache Hierarchien und durchlässige Entscheidungsprozesse gefördert werden kann.
Das Internet beginnt ja erst seine Folgen zu zeigen. Auch wenn wir manches am Internet nicht so kultiviert finden, wenn wir hier heute Abend so zusammen sind, sage ich ihnen doch auch aus eigener Erfahrung: Es ist unglaublich, was ihnen Amazon so alles liefert. Wenn sie nur ins Internet gehen und klicken! Das ist aber heute erst der Anfang, das dicke Ende kommt noch! Das gilt natürlich insbesondere für den Pressemarkt und für den ganzen Informationssektor.
Und deswegen komme ich zum Schluss zu einer Bemerkung, die mir sehr am Herzen liegt. Wir müssen in Deutschland die Gründerinitiativen stärken. Wir stehen heute in die Gefahr einer Kreditklemme, weil wir die Banken auf der einen Seite an die Kandare nehmen, damit sie ihr Eigenkapital erhöhen und nicht so leichtfertig Risiken eingehen wir früher, aber zugleich sollen sie jetzt dem Mittelstand trotz aller Risiken Kredite geben, denn jetzt werden sie dafür gebraucht! Das ist ein Dilemma, in dem wir uns hier befinden, für das ich auch noch keine Antwort habe. Vielleicht ist hier die Mediation, die von der Bundesregierung ins Auge gefasst wird, eine Antwort.
Aber auch das ist nicht der Kern. Es geht um unsere deutsche Mentalität. Wir sind eine risikoaverse Gesellschaft, obwohl das am wenigsten für die seefahrenden Hansestädte gilt. Wir mögen keine Risiken, wir mögen auch keine Unterschiede, wir fragen die Leute, was ist ihnen wichtiger: Freiheit oder Gleichheit? Und dann finden wird die Mehrheit der Stimmen bei der Gleichheit! Wir sind damit ein Land, das mental für die Zeit nach der Krise in der der Unternehmer im Mittelpunkt stehen wird, nicht gut gerüstet ist. Denn wo kriegen wir die neuen Unternehmer her?
Wir müssen an dieser deutschen Mentalität rütteln und wir müssen etwas tun, um unser Land im Denken unternehmerischer zu machen Oder, sehr spitz ausgedrückt: Gerechtigkeit bäckt noch keine Brötchen. Wir müssen erst die Brötchen backen und dann können wir sie gerecht verteilen. Umgekehrt wird kein „Brötchen“ draus. Das ist nach meiner Meinung eine Erkenntnis, die wir alle mutig und offen vertreten müssen. Denn sonst verharren wir in unserer politischen Debatte auf dem falschen Ausgangsort.
Große Aufgaben liegen vor uns: Gesellschaftsreformen, Klima, Finanzkrise, Europäische Einigung. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass der Standort Deutschland unsere erste Aufgabe ist. Ihn gilt es zu sichern für eine neue und andere wirtschaftliche Weltordnung. Es ließe sich noch viel dazu sagen und viel diskutieren, aber ich war schon jetzt etwas zu lang und bedanke mich für ihre Geduld!