Meine Damen, meine Herren,
I. Wo stehen wir?
„Zeitenwende“ dürfte der Begriff sein, der von der kurzen Kanzlerschaft von Olaf Scholz historisch überdauern wird. Dabei hat er selbst die Dimension dieser Diagnose gar nicht überblickt. In einem Artikel über „The Global Zeitenwende“ in Foreign Affairs sprach er Ende 2022 viel mehr von Kontinuitäten als von Neuausrichtungen. Und auch der Zusammenhang mit den inneren Entwicklungen westlicher Gesellschaften blieb außen vor. Dabei haben wir es mit einer doppelten, wenn nicht gar – mehr als im Titel des Vortrags versprochen – mit einer dreifachen Zeitenwende zu tun: einem Paradigmenwechsel sowohl auf internationaler wie auch auf politisch-kultureller Ebene, die sich miteinander verbinden.
Geopolitisch erleben wir einen neuen Ost-West-Konflikt. Er ist, anders als der erste Kalte Krieg, nicht von politischen Ideologien im engeren Sinn getrieben, sondern von unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen. Er ist diffuser, was die Akteure, die Konfliktgegenstände und die Schauplätze angeht, dadurch aber auch weniger berechenbar und noch explosiver.
In diesem neuen Ost-West-Konflikt beansprucht ein revisionistischer globaler Osten hegemoniale Herrschaftsräume, in denen die Vormächte über die Souveränität untergeordneter Staaten verfügen, Russland etwa über die der Ukraine oder China über die Taiwans. Und sie nehmen für sich in Anspruch, militärische Gewalt nach eigenem Ermessen und nicht als ultima ratio einzusetzen. Dieser revisionistische globale Osten fordert einen globalen Westen heraus, dessen Vorstellung einer regelbasierten internationalen Ordnung auf der Integrität und der Selbstbestimmung souveräner Staaten sowie auf grundlegenden Menschenrechten beruht.
Dieser neue Ost-West-Konflikt ist das Ergebnis der ersten Zeitenwende, insbesondere durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Hinzu kommt die unabsehbare Entwicklung der USA unter der Präsidentschaft Donald Trumps: Sollten sich die USA tatsächlich von ihrer Rolle als Vormacht des Westens und der liberalen Ordnung abwenden, dann würde dies eine zweite internationale Zeitenwende bedeuten, vergleichbar mit der amerikanischen Abwendung von Europa nach dem Ersten Weltkrieg, dem sie sich allerdings erst drei und nicht 85 Jahre vorher zugewandt hatten. Selbst wenn es so käme, wäre freilich nicht klar, ob das Ergebnis ein neuer amerikanischer Isolationismus wäre, den sich die USA eigentlich nicht erlauben können, oder ein neuer Transaktionalismus, der im Ergebnis hegemoniale Vormachtansprüche befördern würde.
Jedenfalls fällt die amerikanische Politik der Präsidentschaft Trumps aus tradierten Rollenmustern heraus. Diplomatie hat sich über Jahrhunderte als eine eigene Form, ja Kunstform des gemäßigten und gedämpften, geschützten und schonenden Sprechens entwickelt, das dem anderen stets einen gesichtswahrenden Ausweg lässt. Eine Konfrontation wie die zwischen Donald Trump, J.D. Vance und Wolodimir Selensky im Oval Office des Weißen Hauses am 28. Februar 2025 hätten Historiker früher nach 30 Jahren als Sensation im Archiv gefunden – heute wird sie live auf allen Kanälen gesendet. Mit Trumps Worten: „This is going to be great television, I will say that.“
Die USA stehen auch im Zentrum der anderen Zeitenwende: einer politisch-kulturellen. Die Wiederwahl Donald Trumps ging mit der Devise „woke is broke“ einher, und die Regierung hat sogleich energische Schritte gegen DEI, gegen jahrelang etablierte Maßnahmen zugunsten von Diversität, Gleichstellung und Inklusion verordnet. Vizepräsident Vance hat zugleich auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2025 klar gemacht, dass Fragen der politischen Kultur kein Schaum auf der Welle sind, sondern die Tiefenströmung, auf der die Welle geht. Ich selbst habe diesen Paradigmenwechsel im Januar 2024 als „Ende der grünen Hegemonie“ interpretiert. Viele westliche Gesellschaften erleben einen Pendelschlag nach rechts, und die entscheidende Frage lautet: Wird er in der rechten Mitte abgefangen, oder schlägt er nach rechts außen durch?
Die doppelte oder gar dreifache Zeitenwende bedeutet: Die westlichen Gesellschaften erleben Ordnungskonflikte, in denen sie es mit einer doppelten Herausforderung zu tun haben: durch revisionistische Gegner von außen und durch die Überdehnung der liberalen Demokratie im Inneren.
II. Wo kommen wir her?
- Geopolitik: Die Ordnung von 1990 und ihre Feinde
„Ich hoffe, dass von den hier Anwesenden niemand an den Unsinn glaubt, dass eine der Seiten den Sieg im ‚Kalten Krieg‘ davongetragen habe.“ Michail Gorbatschows Äußerung gegenüber dem amerikanischen Präsidenten George Bush am 31. Mai 1990 war ebenso sachlich falsch wie psychologisch signifikant.
Natürlich hatte die Sowjetunion den Kalten Krieg verloren: Ihre kommunistischen Satellitenregime in Ostmittel- und Südosteuropa brachen 1988/89 zusammen, und als ihr Machtbereich, der Warschauer Pakt, 1991 aufgelöst wurde, stand aus russischer Perspektive das Schlimmste noch bevor: die Auflösung der Sowjetunion am 25. Dezember 1991, mit der Russland auf die Grenzen von etwa 1650 zurückgeworfen wurde.
Das war es, was Wladimir Putin 2005 als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete. Und es gibt guten Grund zu der Annahme, dass die unverarbeitete Niederlage von 1989/91 und der Verlust des Weltmachtstatus die entscheidenden Treiber für den russischen Revisionismus im 21. Jahrhundert waren.
Die chinesische Führung war fest entschlossen, ein solches Schicksal zu vermeiden. Daher schlug sie im Juni 1989 die Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking mit militärischer Gewalt nieder – auch wenn China damit zu einem Outlaw im Freiheitsrausch von 1989 wurde.
Peking passte sich aber der liberalen Ordnung strategisch an, von der es insbesondere nach dem Beitritt zur WTO 2001 in seinem einzigartigen ökonomischen Aufstieg erheblich profitierte. Dass die chinesische Führung den westlichen Universalismus der liberalen Ordnung niemals teilte, offenbarte 2012 das Dokument Nr. 9 des Zentralkomitees der KP Chinas „zur aktuellen Situation im Bereich der Ideologie“, das westlichen Vorstellungen von Demokratie und Zivilgesellschaft, Neoliberalismus und Pressefreiheit den Kampf ansagte. Stattdessen strebte Xi Jinping die „Erneuerung der chinesischen Nation“ an, die auf die imperiale Vormachtstellung des „Reichs der Mitte“ vor dem Eingreifen westlicher Mächte seit 1839 abzielte.
In der Ordnung von 1990 war mithin ein grundlegender Ordnungskonflikt angelegt. Diese Ordnung beruhte auf westlichen Institutionen aus der Zeit des Ost-West-Konflikts: einer vertieften EU und einer reformierten NATO, die binnen 15 Jahren nach Ostmittel- und Südosteuropa erweitert wurden. Damit gewannen – so jedenfalls die Vorstellung im Westen – auch die Werte der westlich-liberalen Ordnung globale Geltung.
Diese Werteordnung wurde in der „Charta von Paris für ein neues Europa“ niedergelegt, wie sie die Staats- und Regierungschefs der KSZE am 21. November 1990 mit geradezu endzeitlichen Erwartungen beschlossen: „Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen“, hieß es in der Präambel, und in der ein „neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ angebrochen sei.
Integrität und Selbstbestimmung souveräner Staaten, einschließlich des Rechts, „ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen“, das heißt ihre Bündnisse zu wählen – das war das Grundgesetz der liberalen Ordnung von 1990 zwischen den Staaten. Damit aber nicht genug, erstreckte sie sich auch auf die Ordnung innerhalb der Staaten. Die Charta von Paris verpflichtete ihre Unterzeichner auf die Demokratie als einzig legitime Regierungsform, auf das Bekenntnis zu Menschenrechten und Grundfreiheiten, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Pluralismus als innere Organisationsprinzipien.
Es war unschwer zu erkennen, dass diese als universal deklarierten Werte westlichen Ursprungs waren. Das galt auch für die wirtschaftliche Ordnung, die sich im Washington Consensus niederschlug. Er setzte auf Haushaltskonsolidierung und Währungsstabilität, Wettbewerb und Angebotsorientierung, Liberalisierung der Handelspolitik und Deregulierung von Märkten und Preisen sowie Privatisierungen und Abbau von Subventionen.
Die Euphorie der Charta von Paris spiegelte die westliche Erwartung vom „Ende der Geschichte“ wider, an dem sich die liberale Ordnung nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch in anderen Ländern verbreiten würde, die sich hin zu Demokratie, Menschenrechten und Marktwirtschaft entwickelten. Mit dem hegelianischen Anspruch, das Ziel der Geschichte zu kennen, bediente sich der Westen dabei im Sieg über den Kommunismus ironischerweise eines marxistischen Werkzeugs. Und stand damit vor demselben Dilemma wie der Marxismus: Wenn man den gesetzmäßigen Lauf der Geschichte kennt – kann man ihn dann einfach abwarten, oder müsste man ihm doch nachhelfen? Für Kommunisten war das Mittel der Wahl die Revolution. Für den Westen der Demokratieexport und die promotion of freedom.
Das galt insbesondere für den war on terror der neokonservativen amerikanischen Regierung George W. Bush nach den Anschlägen des 11. September 2001. In einer Verbindung aus Furcht, Macht und Hybris (Melvyn Leffler) gab die US-Regierung die traditionelle Leitlinie, den Status quo im Nahen Osten zu bewahren, zugunsten des regime change auf. Im Krieg gegen den Irak 2003 stellte sich allerdings heraus, dass die USA, mit einem falschen Kriegsgrund und westlichen Vorstellungen von Freiheit und Demokratie einmarschiert, völlig unzureichend darauf vorbereitet waren, eine tragfähige Neuordnung an Stelle des gestürzten Regimes zu schaffen. Das Ergebnis waren eine Destabilisierung der Region sowie ein eklatanter Glaubwürdigkeitsverlust der USA und der liberal order.
Einen weiteren Glaubwürdigkeitsverlust, diesmal des westlichen Wirtschaftssystems, brachte die Weltfinanzkrise von 2008 mit sich. Der chinesische Premierminister Wen Jiabao bescheinigte dem Westen ein „nicht nachhaltiges Entwicklungsmodell“ und einen „Mangel an Selbstdisziplin“. Die Krise wurde in Peking als Zeichen des Abstiegs der westlichen Ordnung gedeutet und bereitete den Weg für die nationalistische und revisionistische Wende unter Xi Jinping in den 2010er Jahren.
Hinzu kam 2008 der Bukarester NATO-Gipfel, der mit dem problematischsten aller denkbaren Kompromisse endete: der Ukraine die NATO-Mitgliedschaft zu versprechen, aber keine verbindlichen Schritte dorthin zu beschließen. Hinzu kam das militärische Vorgehen Russlands gegenüber Georgien im Konflikt über Abchasien und Südossetien. Während man den Konflikt in Europa klein redete, kommentierte der amerikanische Publizist und Politikberater Robert Kagan ebenso dramatisch wie letztlich hellsichtig: „Russlands Angriff auf das souveräne Territorium Georgiens markiert die offizielle Rückkehr der Geschichte im Stile der Großmächterivalität des 19. Jahrhunderts, angereichert mit bösartigen Nationalismen, Ressourcenkämpfen, Auseinandersetzungen über Einflusssphären und Territorien und – auch wenn es unsere Sensibilität im 21. Jahrhundert schockiert – sogar mit dem Gebrauch militärischer Macht, um geopolitische Ziele durchzusetzen.“
Das Jahr 2008 markierte einen Kulminations- und Kipppunkt der Geschichte nach 1989 – auf internationaler ebenso wie auf politisch-kultureller Ebene.
2. Politische Kultur: Die grüne Hegemonie, die Überspannung der liberalen Demokratie und die populistische Reaktion
Die Weltfinanzkrise zog einen Paradigmenwechsel der öffentlichen Meinung nach sich. „Öffentliche Meinung“ hat Elisabeth Noelle-Neumann als Meinungen im kontroversen Bereich definiert, die man äußern kann, ohne sich zu isolieren. Wichtig sind dabei der kontroverse Bereich und die Vermeidung von Isolation – denn Isolation suchen Menschen aller Erfahrung nach möglichst zu vermeiden. Umgekehrt ist die Drohung mit Isolation ein scharfes Schwert, auch in der öffentlichen Debatte einer Demokratie. Öffentliche Meinung in diesem Sinne kann man mit dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci auch als „kulturelle Hegemonie“ bezeichnen. Gemeint ist das Set allgemein und öffentlich zustimmungsfähiger Ideen. „Kulturelle Hegemonie“ bedeutet die eigentliche Macht im Staate. Denn sie legt fest, was überhaupt öffentlich gesagt und damit gemacht werden kann, bevor ein Parlament abstimmt oder ein Politiker entscheidet.
Solche kollektiven Mindsets sind freilich nicht statisch, sondern sie verändern sich. Sie bauen sich über längere Zeit am Rande der Gesellschaft gegen das herrschende Paradigma auf. Und sie können von einem Moment auf den anderen umkippen.
So auch 2008. Die Weltfinanzkrise erschütterte den Washington Consensus, das Wirtschaftsmodell liberalisierter digitalisierter Finanzmärkte – und ein gesamtes politisch-kulturelles Paradigma, das Märkte für die überlegene, weil rationale und effiziente Form der Ordnung hielt und das die gesamte Gesellschaft demzufolge nach marktförmigen Mechanismen umgestalten wollte, beispielsweise in Form der „unternehmerischen Universität“ mit CEO und Aufsichtsrat, die Studenten zu Kunden machte.
Dieses neoliberale Paradigma verlor mit der Weltfinanzkrise seine Glaubwürdigkeit und machte die Bühne frei für die kulturelle Hegemonie eines postmodernen und postkolonialen Denkens. Ausgehend von den Universitäten in Paris und Berkeley war es seit den 1970er Jahren intellektuell fundiert und konzeptionell entwickelt worden. In Deutschland kann man es als grünes Paradigma bezeichnen, ohne dass es an die grüne Partei gebunden oder auf sie beschränkt gewesen wäre. Vielmehr handelte es sich um ein allgemeines Mindset zustimmungsfähiger Vorstellungen. So wie die Regierungen Blair oder Schröder um die Jahrtausendwende das neoliberale Paradigma exekutiert hatten, so wurde die Regierung Merkel vom Atomausstieg bis zur Migrationspolitik zur Ausführenden des grünen Paradigmas.
Damit sind die „kontroversen Bereiche“ genannt, von denen Elisabeth Noelle-Neumann gesprochen hatte: Klima und Energie, Migration und Integration, Geschlecht und Sexualität. Hinzu kommt die drohende „Isolation“. Zum Instrument dafür wurde Moralisierung. Denn Moral ist nicht verhandelbar, sondern folgt dem dichotomischen Schema gut gegen böse – in der Konsequenz: ingroup und outgroup, drinnen und draußen.
Ein Beispiel: 2011 legte der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung einen „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ hin zu Klimaschutz und einer gerechten neuen Weltordnung vor. Der Anspruch war kaum zu überbieten: eine dritte Revolution der Weltgeschichte als „umfassende[r] Umbau aus Einsicht, Umsicht und Voraussicht“, moralisch auf einer Stufe mit der Abschaffung der Sklaverei und der Ächtung von Kinderarbeit. Das heißt: Wer Widerspruch äußerte, stellte sich auf eine Stufe mit der Befürwortung von Sklaverei und Kinderarbeit. Und wer mit dem Etikett „Klimaleugner“ belegt wurde, erlebte den Ausschluss aus einer Debatte, die es ohnehin gar nicht geben konnte. Denn der „demokratiepolitische Clou“, so einer der Autoren, lag in der „Umsetzung objektiver Notwendigkeiten in normative Verhaltensweisen“. Da gibt es nichts zu diskutieren.
Analoge Mechanismen griffen im Bereich von Migration und Integration. Kritiker der Politik von 2015 oder der Seenotrettung im Mittelmeer wurden als „rassistisch“ oder „menschenfeindlich“ etikettiert. Im Bereich von Geschlecht und Sexualität galt als „transphob“, wer die Existenz von zwei Geschlechtern behauptete. Und das Selbstbestimmungsrecht von 2024 stellte die Ansprache einer transsexuellen Person mit ihrem Herkunftsnamen unter Strafe.
Die deutsche Ampel-Regierung stellte die Kulmination dieses grünen Paradigmas dar. Minderheitenrechte waren nicht mehr Abwehrrechte gegen den Staat, um eine Tyrannei der Mehrheit zu verhindern, wie sie Alexis de Tocqueville als Gefahr der Demokratie identifiziert hatte. Sie begründeten vielmehr den Anspruch auf aktive Umgestaltung der Gesellschaft im Zeichen von Gleichstellung und Diversität. Dahinter steht ein Selbstbild der Vulnerabilität, eine Vorstellung der strukturellen Diskriminierungen, Benachteiligungen und Verletzungen durch eine bürgerliche Leistungsgesellschaft, die wiederum als zerstörerisch und strukturell diskriminierend erachtet wird. Dass jede Inklusion neue Exklusion nach sich zieht, dass eine Frauenquote für Aufsichtsräte einer kinderlosen Unternehmertochter aus München-Bogenhausen zum Beispiel den Vorzug vor einem dreifachen Familienvater aus Berlin-Neukölln gibt – solche Widersprüche wurden nicht offen diskutiert, sondern mit dem Anspruch der „Diversität“ marginalisiert.
„Kulmination“ bedeutet freilich nicht nur einen Gipfelpunkt, sondern auch einen Richtungswechsel. In der Tat war der Zenit der grünen Hegemonie mit der Ampel-Regierung erreicht und überschritten. Ein erstes Fanal ging von einer Demonstration im bayerischen Erding im Juni 2023 aus, auf der die massiven öffentlichen Widerstände sichtbar wurden, an denen das symbolbeladene Heizungsgesetz des grünen Wirtschaftsministers scheiterte. Verstärkt wurde diese Richtungsumkehr durch das Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023, weil die darauffolgenden Demonstrationen in europäischen Städten das Phänomen des durch Migration aus der arabischen Welt importierten Antisemitismus öffentlich sichtbar machten. Zur Ikone wurde schließlich die Wiederwahl Donald Trumps als US-Präsident im November 2024. Was Niall Ferguson als „vibe shifts“ bezeichnet, interpretiere ich als neuerlichen politisch-kulturellen Paradigmenwechsel im Range desjenigen von 2008.
Diese Gegenbewegung wird üblicherweise mit dem Begriff „Populismus“ bezeichnet. Linker Populismus formierte sich in Europa im Gefolge der Euro-Schuldenkrise in den von den Rettungsmaßnahmen betroffenen Staaten wie Griechenland und Spanien in den frühen 2010er Jahren. Aber auch die AfD entstand im Gefolge der Euro-Rettungspolitik und gewann nachhaltige Stärke durch die Opposition gegen eine Migrationspolitik, die zum Motor des europäischen Rechtspopulismus seit 2015 wurde.
Währung und Grenzen waren mithin Treiber des europäischen Populismus. Es ist kein Zufall, dass es sich ausgerechnet um Politikbereiche handelt, die seit den 90er Jahren europäischen Verträgen überstellt und damit politischen Entscheidungen und nationalen Politiken entzogen wurden: Währungsfragen regelte die Währungsunion, Migrationsfragen die Dublin-Vereinbarungen. Datenpolitik liegt bei der europäischen DSGVO, und der Europäische Gerichtshof geriert sich zunehmend als europäisches Verfassungsgericht. Auch in Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Klimaurteil von 2021 die Spielräume demokratischer Mehrheitsentscheidungen durch Rechtsvorgaben eingeengt.
Solche weitgehenden Verrechtlichungen der Politik führen indessen zur Entpolitisierung der Politik – und zu einer Politisierung des Rechts. Der deutsche Verfassungsschutz hat die interne bürokratische Maßnahme einer Hochstufung der AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ mit absehbar maximaler politischer Wirkung öffentlich kommuniziert und sich damit zum politischen Player gemacht. „Nicht allein der Verfassungsschutz ist dafür zuständig, die Umfragewerte der AfD zu senken“, bekannte der vormalige Präsident. „Nicht allein“ impliziert: „aber auch“. Ist der Verfassungsschutz zuständig für Umfragewerte einer Partei?
Der Politikwissenschaftler Philipp Manow spricht vom „liberal overstretch“, der Überdehnung der „liberalen Demokratie“, die nach 1990 und dann noch einmal verstärkt in den 2010er Jahren zu einem normativ aufgeladenen Begriff geworden ist. Die „liberale Demokratie“ wurde zum pauschalen und moralischen Anspruch einer „Mitte“, die ihrerseits zum politischen Kampfbegriff geworden ist.
Das Adjektiv „liberal“ bedeutet dabei nicht, so der Verfassungsrechtler Frank Schorkopf, „weniger staatliche Intervention und mehr individuelle Freiheit und Selbständigkeit. Liberal bedeutet stattdessen eine ausdifferenzierte staatliche Kontrolle über die Gesellschaft und weitreichende Begrenzung kollektiver Selbstbestimmung durch ein spezifisches Ensemble von Institutionen.“ Und weiter: „Die liberale Demokratie ist die Handpuppe der Progressiven. Und eben jener progressive Liberalismus ist es, der vielen unattraktiv geworden ist.“
Den eigenen Anspruch auf Moral und Wahrheit an die Stelle des Mehrheitsprinzips der Demokratie zu setzen, hat zur Polarisierung der politischen Öffentlichkeit geführt: „wir“ gegen „die“, „unsere Demokratie“ gegen den Anspruch der populistischen Opposition, ihrerseits die wahren Demokraten gegenüber dieser „liberalen“ Demokratie zu sein. So hat sich in Deutschland über mehr als zehn Jahre eine Eskalationsspirale aus Radikalisierung und Ausgrenzung gedreht, die eines verhindert: die Integrationsfunktion des demokratischen Staates. Im Ergebnis steht ein brandmauerbewehrtes juste milieu, das sich selbst innerhalb der Blase verstärkt, aber nicht out of the box denkt, der Echokammer ressentimentgeladener Außenseiter gegenüber, die sich an Donald Trumps Anspruch orientieren, den Sumpf trockenzulegen. Was Washington inside the beltway, ist Berlin innerhalb der Ringbahn. Die Konstellationen sind ähnlicher als es oftmals scheint. Und oft sind die USA dem alten Europe nur ein paar Jahre voraus.
III. Wohin gehen wir?
Die offenen Gesellschaften des Westens sind mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: durch revisionistische Gegner von außen und den „liberal overstretch“ im Innern.
Auf geopolitischer Ebene sind von der Achse der Revisionisten eher zunehmende Konflikte zu erwarten. Sie verfolgen noch unerfüllte Desiderate und machen die Erfahrung, dass unilaterale Gewalt und strikt nationale Machtpolitik sich auszahlen. Solche Erfahrungen haben Sardinien-Piemont und Preußen in den späten 1850er und den 1860er Jahren ermutigt, nationale Einigungskriege zu führen, und in den 1930er Jahren den Expansionismus Japans, Italiens und des Deutschen Reichs befördert.
Die Regierung Trump agiert demgegenüber nicht als Weltpolizist der liberalen Ordnung oder des freien Westens, sondern unilateral und transaktionistisch, raum- statt werteorientiert, unklar ist, ob imperialistisch oder isolationistisch, jedenfalls disruptiv und damit unberechenbar, aber auch fähig zum game change.
Die Europäische Union hat demgegenüber das historische Verdienst erworben, vom Modell des antagonistischen zum kooperativen Nationalstaat überzugehen. Belgien oder Polen sind heute keine Einmarschgebiete benachbarter Großmächte mehr, sondern stellen führende europäische Repräsentanten. Die EU zahlt dafür freilich einen Preis: Sie ist kein global player. Und mehr noch: Standen Deutschland und Europa im Zentrum der Ereignisse von 1989/90, so stehen sie 2025 am Rande. Und schaut man sich die europäische Selbstabschreckung gegenüber Putin nach 2022 an, kann man sich kaum mehr vorstellen, dass dieser Kontinent einmal die Welt beherrscht hat. Die Erfahrung des vereinten Europa nach 1990 ist gekennzeichnet von Überambition und Unterperformanz. Die historische Erfahrung ist aber auch die, dass äußerer Druck zu Bewegung in Europa führen kann. Die historischen Befunde sind so widersprüchlich wie die aktuellen Signale: Macron, Merz, Starmer und Tusk in Kiew waren ein starkes Signal, ein substanzloses Ultimatum an Putin war schwache Strategie.
Auf der Ebene der politischen Kultur dominiert der Pendelschlag nach rechts in vielen westlichen Gesellschaften – und die Frage ist, ob er in der rechten Mitte abgefangen wird oder nach rechts außen durchschlägt.
Entscheidend dafür sind die Performanz des politischen Systems und die Leistungsfähigkeit des Staates. Das Versagen in wesentlichen Bereichen wie Migration oder Infrastruktur, stattdessen ein dysfunktionales Überengagement in der Mikrosteuerung der Wirtschaft und eine kompensatorische Übergriffigkeit durch einschüchternde Ausweitung von Beleidigungstatbeständen, die früher als Bagatellen gegolten hätten, zudem die Entpolitisierung und Entdemokratisierung wesentlicher Politikbereiche durch ihre Verrechtlichung und die Übertragung auf die europäische Ebene – all dies geht zu Lasten der Legitimität von Staat und politischem System. Und die Herkulesaufgabe liegt darin, unter diesen schwierigen Rahmenbedingungen die staatliche Handlungsfähigkeit in seinen zentralen Aufgabenbereichen ohne dysfunktionale Mikrosteuerung und paternalistische Übergriffigkeit wiederherzustellen.
Im Februar 1946 schickte der amerikanische Diplomat George F. Kennan ein „langes Telegramm“ aus Moskau nach Washington, in dem er die Lage im Übergang zum ersten Ost-West-Konflikt analysierte. Was der Westen in diesem Systemkonflikt brauche, sei Stärke nach außen, nicht weniger aber auch Stärke von innen: Die „selbstbewusste Umsetzung eines positiven und konstruktiven Leitbildes“ und die „Prosperität und Lebenskraft unserer eigenen Gesellschaft“, so Kennan, seien wichtiger als tausend diplomatische Kommuniqués.
Nichts könnte heute aktueller sein. Der neue Ost-West-Konflikt verlangt eine Politik der Stärke und die glaubhafte Abschreckung gewaltbereiter Autokraten, und zwar in transatlantischer Solidarität, soweit sie eben möglich ist.
Ebenso erfordert er Stärke von innen. Wie aber steht es um das positive und konstruktive Leitbild des Westens? Klimaaktivisten und Woke halten die westliche Gesellschaft für grundsätzlich zerstörerisch und strukturell rassistisch. Defätistische „Postliberale“ sehen die westliche Gesellschaft im unumkehrbaren Niedergang liberaler Dekadenz. Wer glaubt an die Zukunftsfähigkeit der offenen bürgerlichen Gesellschaft, die das historisch und global größte Maß an Freiheit und Wohlstand hervorgebracht hat?
Vielleicht ist es die historische Selbstbesinnung und damit zugleich die Selbstbeschränkung der Demokratie auf ihre Kernbestandteile ohne ideologische (Selbst-)Überhöhung, die den Weg in die Zukunft weist: (1) Mehrheitsprinzip statt Wahrheitsanspruch – (2) Minderheitenschutz, Rechtsstaat und Gewaltenteilung – (3) das Prinzip des friedlichen Regierungswechsels, aber auch des echten Richtungswechsels – und (4) eine vitale politische Öffentlichkeit. Und ebenso die Konzentration des Staates auf die zuverlässige Erfüllung seiner Kernaufgaben, ohne die Bürger zu bevormunden und die Gesellschaft zu regulieren.
Die historische Erfahrung besagt: Die Zukunft ist offen. Im besten Falle schafft die neue deutsche Regierung eine Wende, und die amerikanische Disruption setzt neue europäische Dynamiken frei. Im schlechtesten Fall ziehen sich die USA aus Europa zurück, Europa wird zum Spielball der Mächte, und in Deutschland beschleunigt sich der Abstieg.
Die historische Erfahrung besagt: Die Zukunft ist nicht nur offen, sondern sie wird auch doppelt anders – anders als Gegenwart und ganz anders, als wir sie erwarten. Wir sollten unsere Phantasie nicht immer wieder von den Realitäten überflügeln lassen. Sondern an das Machbare glauben. Geschichte ist kein Automat, und die Zukunft ist nicht determiniert. Sie lässt sich gestalten. Das ist die gute Nachricht der doppelten und dreifachen Zeitenwende.