Vortrag – Prof. Dr. Dr. h.c. Richard Schröder
„Wie wir mit der Einheit umgehen„ oder
„Deutsche Einheit – besser als ihr Ruf!“
Wenn mich Journalisten nach dem Stand der deutschen Einheit fragen, ist regelmäßig die erste Frage: „Was ist verkehrt gemacht worden?“ und die zweite: „Wann ist die deutsche Einheit vollendet?“ Meine erste Antwort auf die zweite Frage: wenn ihr mit der blöden Fragerei aufhört. Was soll denn das sein: die vollendete Einheit oder die viel gesuchte „inneren Einheit“? Ost und West ein Herz und eine Seele? Nord und Süd sind doch in Deutschland auch nicht ein Herz und eine Seele, SPD und CDU auch nicht. Dieses und jenes Kunstwerk kann vollendet sein nicht die Beziehungen zwischen lebenden Menschen, auch nicht kollektive. Denn nur Beendetes kann vollendet sein. Zur ersten Frage könnte auch ich einiges nennen, aber meine Liste ist nicht sehr lang.
Warum wird die deutsche Einheit mit Vorliebe unter „Pleiten, Pech und Pannen“ abgehandelt? Sicher spielt dabei eine Rolle, dass gute Nachrichten den Adrenalinspiegel nicht anheben. Nur was aufregt, steigert die Auflagen und die Einschaltquoten. Aber dadurch lassen sich die Leser und Zuschauer nicht unbedingt einreden, dass es ihnen auch persönlich schlecht geht. So belegen den auch Umfragen regelmäßig eine seltsame Diskrepanz. Befragt, wie sie ihre persönliche Lage seit der deutschen Einheit beurteilen, antworten die meisten Ostdeutschen: „gut“ oder „kann nicht klagen“. Befragt nach der Lage in Ostdeutschland allgemein antworten die meisten: „schlecht“. Über ihre eigene Lage werden sie sich ja wohl schlecht täuschen. Die Mehrheit ist zufrieden, jeder hält sich aber für eine Ausnahme.
Wir führen unsere Einigungsdebatten mit Scheuklappen. Ost und West sind auf einander fixiert. Wir führen einen Wettstreit ums Bedauern. Wer hat mehr zu leiden unter der deutschen Einheit, Ost oder West? Nichts scheint begehrter zu sein im vereinigten Deutschland als der Opferstatus. Denn dann hat man Anspruch auf einen Opferbonus. Nur wer klagt, gewinnt. Und so jammern wir uns um die Wette durch die Jahre.
Mit diesen Scheuklappen nehmen wir gar nicht hinreichend wahr, was seit 1989 geschehen ist und bewältigt werden musste. Und deshalb sind auch die Erfolge selten oder nie im Blick. Um die zu bemessen, müssen wir uns klarmachen, dass es bei der deutschen Einheit im Osten nicht um einen, sondern um vier Prozesse ging. Für ein gerechtes Urteil muss man sie unterscheiden, obwohl sie mit einander verschränkt sind.
1. Die Herbstrevolution von 1989.
Die unvermeidliche Folge dieser Revolution war
(a) ein Elitenwechsel, der in der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März und den ersten freien Kommunalwahlen am 6. Mai sichtbar vollzogen wurde. Dazu mussten sich Leute finden, die ohne Vorübung politische Verantwortung übernahmen. Man hat sie vom Westen aus gern als Laienspieler betitelt und dabei offenbar übersehen, dass Politprofis nicht zu haben waren, denn die bisherigen waren in Sachen Demokratie und Marktwirtschaft auch Laienspieler, aber mit Ressentiments. Dafür gibt es einen äußerst erfreulichen Beleg. Als das Politbüro nach Honeckers Rücktritt auch Glasnost praktizieren wollte, kam es zu der glücklich verunglückten Pressekonferenz, durch die Schabowski unbeabsichtigt die Maueröffnung auslöste. Wenn heute manche beklagen, kein einziger Bundeswehrgeneral und kein einziger oberster Richter sei Ostdeutscher, so wird schlicht übersehen, dass eine Revolution stattgefunden hat.
(b) Eine Revolution, das Ende einer Diktatur, stellt immer das Problem der sog. Vergangenheitsbewältigung. Täter und Opfer stehen sich gegenüber. Und
(c) löst jede Revolution unvermeidlich erhebliche Orientierungsprobleme aus. Das Bisherige gilt nicht mehr, die bisherigen Autoritäten sind diskreditiert, was gilt jetzt?
2. Die staatliche Vereinigung. Der Osten übernahm die politischen, sozialen, wirtschaftlichen Ordnungen der Bundesrepublik, während im Westen zunächst alles beim alten blieb. Aber aus eigener Machtvollkommenheit konnten sich die Deutschen gar nicht vereinigen. Völkerrechtlich war nämlich der Zweite Weltkrieg noch nicht beendet. Die Siegermächte hatten sich die Zuständigkeit für Deutschland als ganzes vorbehalten, wie am Berlin-Status augenfällig war. Zum Jahreswechsel 89/90 hatten sich lediglich zwei europäische Regierungschefs für die deutsche Einheit ausgesprochen, nämlich der spanische und der irische. Der italienische Politiker Andreotti hatte gesagt „wir lieben Deutschland so sehr, dass wir am liebsten zwei davon haben.“ Der französische Staatspräsident Mitterand stattete der DDR Ende Dezember demonstrativ einen Staatsbesuch ab und schloss mit der DDR ein langfristiges Handelsabkommen. Margret Thatcher berief eine Historiker-Konferenz ein und die Times beschwor die Gefahr eines „Vierten Reichs“. Von der Sowjetunion war zwar zu erwarten, dass Gorbatschow einer inneren Reform der DDR zustimmt, aber doch nicht, dass er den westlichen Vorposten des Imperiums aufgibt.
3. Die staatliche Vereinigung war nicht so einfach wie seinerzeit der Beitritt des Saarlands zur Bundesrepublik, denn nun war im Osten eine zweifache Transformation nötig: von der Diktatur zur Demokratie und von der zentralistischen Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft. Es gibt dafür keine Vorläufer, wohl aber sozusagen Mitläufer, nämlich alle anderen ehemals sozialistischen Länder Europas. Die mussten den Prozess aber ohne Vereinigung mit einem prosperierenden westlichen Land absolvieren. Die Schmerzen waren und sind deshalb dort erheblich größer.
4. Die Transformation der DDR-Wirtschaft war aber nicht nur ein organisatorisches Problem. Das war schon groß genug. Die Betriebe mussten aus der Verflechtung mit dem Staatshaushalt und der politischen Kommandostruktur herausgelöst, in neue Rechtsformen überführt werden und sich selbst um ihre Produkte und ihren Absatz kümmern. Es musste aber außerdem ein technologischer Rückstand von zehn bis zwanzig Jahren aufgeholt werden, wie er am Vergleich von Trabant und Golf augenfällig war. Deshalb lief die Modernisierung der DDR-Wirtschaft faktisch auf eine Neugründung hinaus. Nach einer ersten Schätzung der Treuhandanstalt waren ganze zwei Prozent der DDR-Unternehmen auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig.
Die Vereinigung fand zwischen zwei sehr ungleichen Partnern statt. Und das konnte gar nicht anders ein. Ein Fünftel kam zu vier Fünfteln. Ein Staat in Auflösung kam zu einem stabilen Staatswesen, das zwar Reformbedarf, aber keinen Revolutionsbedarf hatte. Ein Staat, dem der Staatsbankrott bevorstand, kam zu einem finanziell wohlsituierten. Für vier Fünftel blieb zunächst alles beim Altbewährten, während sich für ein Fünftel alles änderte. Das eine Fünftel hatte jene drei Prozesse zu durchlaufen, die kein Gegenstück im Westen hatten. Diese Asymmetrien sind nicht durch Fehlentscheidungen entstanden, sondern bildeten die Exposition des Einigungsprozesses.
Und nach welchen Maßstäben können wir Erfolg und Misserfolg des Einigungsprozesses beurteilen?
Ich kenne vier Maßstäbe, an denen plausibel bemessen werden kann, wie es mit der deutschen Einheit steht.
Erster Maßstab: Wie wird der Stand der deutschen Einheit von außen, also im internationalen Vergleich ändern beurteilt? Ein Italiener hat bemerkt, sie sei weiter fortgeschritten als die italienische. Er hat recht. Sie ist auch weiter fortgeschritten als die belgische. Es gibt in Europa hier und da separatistische Bewegungen, bloß nicht in Deutschland. Die Tschechen und Slowaken und die Völker der Sowjetunion haben die neue Freiheit dazu gebraucht, sich schiedlich-friedlich zu trennen. Wir haben uns vereinigt. Nicht einmal die PDS fordert die Wiederherstellung der DDR. Sie hat auf ihre Weise eine Vereinigung vollzogen. Die Mehrzahl ihrer Bundestagsabgeordneten sind jetzt Westdeutsche. Vom Ausland her betrachtet man die deutsche Einigung als eine Erfolgsgeschichte.
Zweiter Maßstab: Einheit in der deutschen Geschichte. Deutschland ist schon immer durch markante Unterschiede geprägt und hat es gelernt, mit ihnen zu leben. Da ist der uralte Unterschied zwischen dem Niederdeutschen und dem Hochdeutschen. Seit der Reformation ist Deutschland zudem konfessionell gespalten. Aber nach dem furchtbaren Dreißigjährigen Krieg hat es in Deutschland nie wieder konfessionelle Kriege gegeben. Man hat dank des Westfälischen Friedens mit den Unterschieden zu leben gelernt. Die traditionellen Unterschiede in Deutschland sind stärker nord-südlich als west-östlich ausgerichtet, übrigens auch in den Neuen Bundesländern. Mecklenburg und Brandenburg waren auch früher vorrangig agrarisch und dünn besiedelt, Sachsen und Thüringen handwerklich-industriell bestimmt. Deshalb sind auch heute die Verständigungsschwierigkeiten zwischen Ostfriesen und Bayern größer als zwischen Thüringern und Hessen oder Schleswig-Holsteinern und Mecklenburgern.
Was vom Westen aus oft übersehen wird, sind die gewaltigen Unterschiede innerhalb des Ostens. Ich meine jetzt nicht die landsmannschaftlichen, sondern die posttotalitären. Es gibt hin und wieder Veranstaltungen, bei denen ehemalige Funktionäre der SED und DDR-Oppositionelle auf einander stoßen. Da fliegen die Fetzen.
Es gibt in den östlichen Bundesländern einen tiefreifenden Bevölkerungsrückgang. Er beruht allerdings nur zur Hälfte auf Abwanderung, die andere Hälfte ist Folge des Geburtenrückgangs nach 1990. Und die Abwanderung ist der Saldo viel größerer Wanderbewegungen in beide Richtungen. Von 2001 bis 2003 ist die ostdeutsche Bevölkerung insgesamt durch Abwanderung um 150.000 gesunken. 862.000 sind gegangen, aber 715.000 sind von West nach Ost gekommen oder zurückgekommen. Wir vermischen uns also.
Dritter Maßstab: die anderen ehemals sozialistischen Länder. Überall war der Transformationsprozess mit schweren wirtschaftlichen Verwerfungen und hoher Arbeitslosigkeit, auch mit Abwanderung verbunden. Überall sitzen postkommunistische Parteien in den Parlamenten, öfter auch in Regierungen. Überall ist das Wahlverhalten und die Wahlbeteiligung sehr wechselhaft. Überall gibt es leider auch nationalistischen Radikalismus. Überall gibt es das Problem des Elitenwechsels, zermürbende Auseinandersetzungen um die Vergangenheit und um Eigentumsfragen. All das und mehr erscheint vielen Westdeutschen als typisch Ost, ist aber in Wahrheit typisch posttotalitär.
Bei diesem Vergleich schneidet Ostdeutschland sehr gut ab. Dank der Vereinigung konnten die Schmerzen dieses Prozesses in Ostdeutschland namentlich für die Rentner und Arbeitslosen erheblich abgefedert werden. Alle jene Länder waren mit dem Problem der hohen Staatsschulden konfrontiert. Sie haben sie durch Inflation abgebaut, was die Sparguthaben vernichtet und zu einer Phase der Altersarmut geführt hat. In Polen beträgt die Arbeitslosigkeit 18 Prozent, in Nordböhmen ebenfalls, aber Arbeitslose bekommen nur ein Jahr Unterstützung. Von allen ehemals sozialistischen Ländern hat Ostdeutschland den weitaus höchsten Lebensstandard und die beste Infrastruktur.
Vierter Maßstab ist der Vergleich der Lebensbedingungen in der DDR mit unseren heutigen.
Die Forderung der ostdeutschen Demonstranten von 1989 sind erfüllt: Stasi raus, Reisefreiheit, freie Wahlen, Einheit Deutschlands.
Ich nenne an erster Stelle den Freiheitsgewinn und denke dabei nicht zuerst an die Reisefreiheit, sondern an die Freiheit von der Angst vor Verhaftung. Noch im Sommer 1989 wurde von SED-Funktionären vertraulich die Warnung weitergegeben, der Platz des Himmlischen Friedens sei näher als manche denken. Gemeint war die blutige Niederschlagung der Demonstrationen in Peking, die Egon Krenz ausdrücklich gelobt hatte. Zum 9. Oktober 89, nach der Jubelfeier des vierzigsten Jahrestag, war alles vorbereitet, um die Leipziger Montagsdemonstration gewaltsam niederzuschlagen. Die Krankenhäuser waren mit zusätzlichen Blutkonserven beliefert und das AGRA-Gelände in Markkleeberg zur Internierung der Demonstranten vorbereitet. Es kam aber kein Einsatzbefehl aus Berlin und die Sicherheitskräfte zogen sich zurück, weil sie befürchteten, mit der unerwartet hohen Anzahl von Demonstranten nicht fertig zu werden.
Als zweites nenne ich die Freiheit vom ideologischen Zwang. Ich denke dabei besonders an die Zeitungen, an die Museen und an die Schule, an Staatsbürgerkunde und Geschichte.
Drittens nenne ich die Freiheit zur politischen Betätigung namentlich für Christen. Als Pfarrer durfte ich in der DDR nicht einmal Mitglied im Elternbeirat werden.
Nun zu den ökonomischen Seiten. Sie wird uns im Detail noch später beschäftigen, auch mit ihren problematischen Seiten. Jedenfalls aber haben die Ostdeutschen einen mit den anderen ehemals sozialistischen Ländern unvergleichlichen Wohlstandsgewinn erfahren. Während sich nämlich in jenen anderen Ländern nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus die Lebensbedingungen und Einkommen über Jahre rapide verschlechterten, kam es nach 1990 im Osten zu beachtlichen Lohnsteigerungen. Die haben auch eine problematische Seite, auf die noch einzugehen ist. Jedenfalls hat die Ausstattung der Haushalte mit technischen Gütern den westlichen Standard erreicht, auch der Grad der Motorisierung, während in der DDR die Lieferfrist für ein Auto mehr als zehn Jahren betrug.
In der DDR herrschte bis zuletzt Wohnungsmangel. Honecker wollte zwar das Wohnungsproblem bis 1990 lösen. Da er das nicht schaffte, wurde verfügt, dass Wohnungssuchende nicht mehr erfasst werden sollen. Man wollte das Problem ersatzweise durch geschönte Statistik lösen. Heute haben wir mit dem Gegenteil zu kämpfen, nämlich Leerstand. Auch der macht erhebliche Probleme. Trotzdem sollten wir doch nicht vergessen, dass der Wohnungsmangel behoben ist und dass sich die Qualität der Wohnungen ganz erheblich verbessert hat. Manche sagen, das Gesundheitswesen sei in der DDR besser gewesen. Das ist falsch. Es war in mancher Hinsicht bequemer. Und Praxisgebühren gab es auch nicht. Wir waren aber damals nicht etwa gesünder, sondern mussten im Durchschnitt früher sterben. Für manche Krankheiten gab es Medikamente und Operationen nur im Westen – oder im Regierungskrankenhaus, aber nicht für Otto Normalverbraucher. Seit 1990 ist die Lebenserwartung im Osten um fünf Jahre gestiegen, das heißt doppelt so schnell wie im Westen. Sie ist jetzt in Ost und West etwa gleich. Auch das hat Milliarden gekostet. Übrigens: seit 1990 ist die Suizidrate in den Neuen Bundesländern erheblich gesunken.
Das Bildungswesen entspricht westlichem Standard. Östliche Universitäten sind auch bei westlichen Studenten beliebt, weil sie nicht so riesengroß und anonym sind. Die Anzahl der Abiturienten pro Jahrgang hat sich enorm erhöht.
Schließlich sind mit ungeheuren Kosten die massiven Umweltschäden beseitigt worden, die die DDR hinterlassen hat. Am gefährlichsten waren die beim Uranbergbau (Kosten: 6,2 Mrd. Euro). Aber auch der Braunkohlenabbau hatte Wüsten hinterlassen, die nun zu Seenlandschaften werden. Die verseuchten Truppenübungsplätze und Kasernengelände, die Beseitigung der Minen am Grenzstreifen, der Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg, die Liste lässt sich fortsetzen.
Die Städte und Dörfer haben ihr Gesicht wiederbekommen. In den sechzehn Jahren seit der Vereinigung ist weit mehr renoviert worden als in vierzig Jahren DDR. Die Infrastruktur, Straßen, Schienen, Telekommunikation, Strom, Wasser, Abwasser haben in einem Aufholprozess, der einen Bruchteil der Zeit gedauert hat, der im Westen für diesen Standard gebraucht wurde, im Ganzen westliches Level erreicht, auch wenn die Landespolitiker hier noch ein Stück Autobahn und dort irgendetwas anderes vermissen. Und weil man nicht auf fünfzehn Jahre alt renovieren kann, kann ein westlicher Bürgermeister auf Besuch im Osten durchaus zu Recht bemerken, sein Rathaus sei in einem schlechteren Zustand als dieses.
Es ist nicht ganz einfach, einen plastischen Eindruck von dem enormen Zuwachs an Lebensqualität zu vermitteln, den wir alle im Osten erfahren haben. Ich habe in vierzig Jahren DDR zweimal in einem Hotel übernachtet. Die waren nämlich dank der Planwirtschaft weitestgehend durch organisierten Tourismus ausgebucht. Urlaub habe ich entweder mit Zelt oder bei Bekannten und Verwandten gemacht. Da ich kein Arbeiter war, waren mir die FDGB-Ferienheime verschlossen. Einen Platz in einer Gaststätte zu bekommen war Glückssache. Vorn das Schild: „Sie werden platziert“ und davor eine Schlange. Ein einziges Mal habe ich ein Flugzeug benutzt, dienstlich, nach Ungarn.
Auch die genialsten Klagekünstler werden sich schwer tun, diese Bilanz im Tatsächlichen anzufechten. Sie können nur jeweils „ja, aber“ dagegensetzen und da mischen sich oft handfeste Irrtümer über die deutsche Einheit ein. Ich habe voriges Jahr ein Buch dazu geschrieben, das im Februar erschienen ist.
Selbstverständlich behaupte ich nicht, es seien im Zuge der deutschen Einheit keine Fehler gemacht worden. Es gab ja weder Vorbilder noch Vorbereitungen für diesen einmaligen Prozess. Bei Umgestaltungen dieses Ausmaßes gibt es immer auch falsche Einzelentscheidungen. Und immer gibt es auch Betrüger und Glücksritter. Ich behaupte aber, dass es für die Grundentscheidungen damals keine Alternative ohne Schmerzen und Nachteile gegeben hat. Meine Fehlerliste ist nicht sehr lang. Ich nenne vier.
1. Es wäre besser gewesen, wenn die Bundesregierung 1990 zu einer großen kollektiven Anstrengung aufgerufen, die enormen Kosten auf den Tisch gelegt und erklärt hätte: das wird hart, aber wir schaffen das. Die deutsche Vereinigung wurde nicht zum nationalen Projekt. Ich weiß aber, warum Helmut Kohl nicht gesagt hat: das wird hart für alle, aber wir schaffen das. Als nämlich der Kanzlerkandidat der SPD (jetzt PDS/Linkspartei) erklärt hat, die schnelle Einigung werde in einem finanziellen Desaster enden und deshalb werde Helmut Kohl die nächste Wahl im Dezember 1990 verlieren, hat er dafür im Westen laut Umfragen so viel Zustimmung bekommen, dass die Bundesregierung an der Belastbarkeit der westlichen Solidarität Zweifel bekam.
2. Die Lohnerhöhungen in Ostdeutschland sind zu schnell zu kräftig ausgefallen. Nun haben aber nicht die Ostdeutschen die schnelle Lohnerhöhung erzwungen. Sie wurde ihnen auf dem silbernen Tablett herübergereicht. Dabei spielte die westliche Angst vor östlicher Billiglohnkonkurrenz wohl die wichtigste Rolle. Und ein Aufbau Ost als Abbau West, Arbeitsplatzgewinn Ost als Arbeitsplatzverlust West, das hätte die westliche Volksseele zum Kochen gebracht: die nehmen uns die Arbeit weg, wir finanzieren unseren eigenen Ruin.
3. Der Aufbau der sozialen Sicherungssysteme im Osten hätte aus Steuern statt aus Beiträgen finanziert werden müssen, da es sich um versicherungsfremde Leistungen gehandelt hat. Das hat die Lohnnebenkosten erhöht. Aber die Bundesregierung hat Steuererhöhungen aus Anlass der deutschen Einheit möglichst vermeiden wollen, aus den bekannten Gründen. Der Solidarbeitrag übrigens wird in Ost und West bezahlt.
4. Die Übernahme der westdeutschen Rechtsordnung rechne ich nicht zu den Fehler. Aber namentlich das Verwaltungsrecht oder auch das Arbeitsrecht war in vierzig Jahren Bundesrepublik dermaßen verfeinert oder besser verkompliziert, dass es seinerzeit den Aufbau West und das Wirtschaftswunder behindert hätte, wenn es damals schon so engmaschig geknüpft gewesen wäre. Bloß: hinter jeder zweiten Vorschrift steht eine Lobby. Und hinter manchen Vorschriften steht die EU. Wie groß die Widerstände gegen Vereinfachungen im Steuersystem oder im Gesundheitswesen in diesem Lande und vorzüglich im Westen sind, kann man täglich studieren. Die Kritik an dieser Mentalität ist immer berechtigt, es war und ist aber eine weltfremde Forderung, aus Anlass der deutschen Einheit im Jahre 1990 nicht nur den Osten, sondern auch noch den Westen umzukrempeln.
Ich will nun nicht aus meiner Liste von Irrtümern über die deutsche Einheit referieren, sondern auf zwei Punkte eingehen, die das Hausklima belasten, nämlich
das im Osten weit verbreitete Gefühl, benachteiligt und betrogen zu sein
und
die sich im Westen immer stärker verfestigende Überzeugung, „der Osten“ sei rechtsextrem und ausländerfeindlich.
Ad 1.
Dieses Gefühl betrogen zu sein, macht sich vor allem an der Arbeit der Treuhandanstalt fest. Sie habe das Volksvermögen Westdeutschen zugeschanzt. Dass es bei der Treuhand nicht mit rechten Dingen zugegangen sei, ist auch im Westen eine weit verbreitete Ansicht. Nun steht es außer Zweifel, dass es bei der Privatisierung auch zu Gaunereien gekommen ist. Man muss aber die Betrugsrate gerechterweise auf den gesamten Umsatz der Treuhand beziehen. Dann kommt man zu dem Ergebnis, dass die Betrugsrate nicht höher ist als sonst in der Wirtschaft. Es stimmt auch nicht, dass unter Westdeutschen die Neigung zum Betrug verbreiteter sei als unter Ostdeutschen. Das beweisen die Betrügereien ostdeutscher Wirtschaftsfunktionäre mit Transferrubeln bei der Währungsunion.
Es ist schon erstaunlich, dass der wirtschaftliche Zusammenbruch mit der enorm hohen Arbeitslosigkeit nicht der Wirtschaftspolitik der SED, sondern der Treuhand angelastet wird. Erstaunlich deshalb, weil zu DDR-Zeiten Witze über den erbärmlichen Zustand unserer Wirtschaft gern erzählt wurden. Außerdem gibt es ein SED-internes, damals geheimes Dokument vom 31.10.1989, von führenden Wirtschaftsfunktionären der DDR für Egon Krenz angefertigt, als dieser die Nachfolge Honeckers antrat. Dort heißt es, die Infrastruktur und der Maschinenpark seien wegen unterlassener Investitionen verschlissen und die DDR stehe in Devisen vor der Zahlungsunfähigkeit.
Eine erste Inventur der Treuhand ergab, dass ganze zwei Prozent der ostdeutschen Betriebe weltmarktfähige Produkte fabrizieren. 68 % konnten mit viel Geld saniert, also modernisiert werden, was aber immer auch eine Reduktion der Belegschaft bedeutete, und 30 % wurden schließlich stillgelegt.
Dass es im Osten nicht, wie nach 1949 im Westen, zu einem Wirtschaftswunder kam, hat mehrere einleuchtende Gründe. Westdeutschland war damals von der Weltwirtschaft isoliert, alle Westdeutschen befanden sich in derselben verzweifelten wirtschaftlichen Lage. 1990 aber wurde eine florierende westliche Wirtschaft mit einer desolaten ostdeutschen Wirtschaft vereinigt. Die westliche Wirtschaft war zu nur 68 % ausgelastet und hätte den gesamten östlichen Bedarf durch eine Steigerung der Produktion um 20 % befriedigen können. Zudem lag die Arbeitsproduktivität im Osten bei 30 % der westlichen. Deshalb kam der Umbau der Wirtschaft im Osten einer Neugründung gleich, und dies unter den erschwerten Bedingungen gesättigter Märkte. Zusätzliche Fabriken im Osten zu bauen wäre gar nicht so schwer gewesen. Woran es fehlte, waren die Kunden für zusätzliche Produkte.
Das ist aber offenbar schwer zu vermitteln und zu kompliziert. Daraufhin tun viele Ostdeutsche, das was wohl alle Menschen tun, wenn ihnen etwas Schmerzliches zustößt, das sie sich nicht erklären können. Sie suchen einen Sündenbock. Und da lag es sehr nahe, der Treuhand und den Westdeutschen die Schuld zu geben.
Aber wo ist denn das Volksvermögen der DDR geblieben? Irgend jemand muss es sich doch angeeignet haben. Ich hatte zu DDR-Zeiten einen Wartburg. Anfang 1989 hätte ich ihn, er war sechs Jahre alt, noch für ein Jahresgehalt verkaufen können. 1991 habe ich ihn nicht einmal mehr verschenken können. Meine Tochter hat abgewinkt. Zwölf Liter auf hundert Kilometer seien ihr zu teuer. Er wurde verschrottet. Nun frage ich: welcher Westdeutsche hat den Wert meines Wartburgs gestohlen? Das Auto hatte ich ja noch, nur der Wert war weg. Mit dem Fall der Mauer und verstärkt nach der Währungsunion war der Wartburg den westlichen Autos hoffnungslos unterlegen, und zwar in den Augen der ostdeutschen Kunden. Der Wert des Wartburgwerks sank ohne Kunden auf den Wert der Immobilie abzüglich Verschrottungskosten. Ökonomisch betrachtet ist daran nichts Verwunderliches. Aber für die Mitarbeiter des Wartburgwerkes war es natürlich eine biographische Katastrophe. In dem Werk steckte doch ihre Lebensarbeitsleistung. Viele sagen: dass die DDR-Wirtschaft marode war, wissen wir. Aber mein Werk, das hätte doch erhalten werden können. Und so hält sich der Verdacht, betrogen worden zu sein. Er wird als Stimmung und auch an die nächste Generation weitergegeben. Ich bin einigermaßen ratlos darüber, was dagegen getan werden kann.
Der andere Punkt, an dem sich das Gefühl betrogen zu sein, festmacht, sind die Unterschiede im Einkommen und im Vermögen zwischen Ost und West. Zwar sind die Einkommen seit 1991 im Osten um 58 % und im Westen nur um 15 % gestiegen. Aber im Durchschnitt wird im Osten immer noch 20 % weniger als im Westen verdient. Dazu kommt noch, dass im Osten das westliche Einkommen von Normalverdienern beachtlich überschätzt wird. Außerdem wird übersehen, dass der westliche Durchschnitt eben auch nur ein Durchschnitt ist, der in manchen Regionen überboten und in anderen unterboten wird. Es herrscht wohl immer noch die Vorstellung von einer landesweiten Einheitlichkeit der Einkommen vor, wie es ihn in der DDR ja tatsächlich gab. Befragungen haben ergeben, dass im Osten das westliche Einkommensniveau überschätzt, im Westen das östliche unterschätzt wird. Wenn man nämlich einmal die 20 % der Großverdiener im Westen beiseite lässt – es gibt tatsächlich sehr viel weniger Großverdiener und Millionäre im Osten als im Westen – und die Familieneinkommen vergleicht – im Osten sind häufiger beide Eltern berufstätig – ist die Einkommensdifferenz nämlich nicht mehr sehr groß.
Besonders seltsam ist die strittige Beurteilung der östlichen Rentenhöhe. Im Westen heißt es nämlich, die Renten im Osten seien durchschnittlich höher als im Westen. Statistisch stimmt das auch bei den gesetzlichen Renten, es stimmt aber nicht bei den Alterseinkommen, denn die sind im Westen höher. In der DDR gab es nämlich nur die gesetzliche Rente, keine Betriebsrenten und vor allem: keine Pensionen, die im Westen im Durchschnitt höher sind als die Renten. Bei derselben Erwerbsbiographie bekommt der Maurer im Osten eine niedrigere Rente, und der Professor eine erheblich niedrigere. Und das empört nun wieder die Ostdeutschen. Das Gefühl betrogen zu sein bestimmt natürlich auch das Wahlverhalten der Ostdeutschen. Ich bitte aber zu beachten, dass etwa 70 Prozent weder PDS/Linke noch NPD wählen. Besonders seltsam finde ich, wenn der Anspruch der PDS/Linken, für die Ostdeutschen zu sprechen, vom Westen aus akzeptiert wird. Inzwischen ist die PDS/Linke ja gar kein ausschließlich ostdeutsches Phänomen mehr. In ihrer Bundestagsfraktion sitzen derzeit mehr Westdeutsche als Ostdeutsche, wegen der Vereinigung mit der WASG.
Ad 2.
In der Nacht zum 19. August wurden in Guntersblum (Rheinland-Pfalz) bei einem Weinfest zwei Afrikaner tätlich angegriffen und der eine schwer, der andere leicht verletzt. Aus der sechsköpfigen Gruppe der Angreifer wurde geschrieen: „Wir machen die Neger platt!“ Der Vorfall wurde erst mit einer Woche Verspätung öffentlich gemacht, „aus ermittlungstechnischen Gründen“. Der Sicherheitsbeirat des Landkreises erklärte, dass das ein Einzelfall sei, was aber m.W. nur der SWR berichtet hat. Empörung hat diese Erklärung jedenfalls nicht ausgelöst.
In derselben Nacht wurden in Mügeln (Sachsen) beim Stadtfest acht Inder angegriffen. Sie flüchteten in eine zwanzig Meter entfernte Pizzeria. „Ausländer raus“ wurde geschrieen. Einige versuchten, die Tür zur Pizzeria aufzubrechen und viele schauten zu.
Gibt man heute bei Google „Guntersblum“ ein, findet man unter den ersten 20 Eintragungen drei, die sich mit dem Vorfall beschäftigen. Bei „Mügeln“ findet man nur drei, die sich mit dem Vorfall nicht beschäftigen. Mügeln hat eine gewaltige Medienkampagne ausgelöst, Guntersblum ist nach wie vor unbekannt.
Mügeln ist wochenlang von den Medienvertretern geradezu überschwemmt worden, in Guntersblum blieb es ruhig. Der Bürgermeister von Mügeln wurde in die Mangel genommen. Seine Erklärung, Ausländerfeindlichkeit gebe es tatsächlich in Mügeln, aber keine rechtsextreme Szene, freilich könne er den Mensche nicht ins Herz sehen, – sie wurde als Verharmlosung gebrandmarkt. Sie entsprach aber genau dem (späteren) Ermittlungsergebnis der Polizei.
Der Bürgermeister von Guntersblum erklärte, er habe von dem Vorfall erst aus der Zeitung erfahren. Darüber hat sich niemand aufgeregt.
Das ist Berichterstattung mit zweierlei Maß – und das ist nicht harmlos. Die sächsische Landtagsfraktion der NPD hat sich in einem Brief an die Einwohner von Mügeln gewandt und ihnen Beistand angeboten. Hoffen wir, dass niemand dort so verblendet ist, in ihnen tatsächlich die Helfer gegen einen Generalverdacht zu sehen.
Nun gibt es aber tatsächlich auf dem Feld von Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus nachgewiesene Unterschiede zwischen Ost und West. Sie liegen aber etwas anders als das Publikum vermeint.
1. Ausländerfeindliche Haltungen sind im Osten tatsächlich weiter verbreitet als im Westen. Dem Satz „Bei Arbeitsplatzmangel sollte man Ausländer zurückschicken“ stimmen im Westen 9 % und im Osten 17 % zu. Dem Satz „Ausländer sollten unter sich heiraten“ stimmen im Westen 6 % und im Osten 12 % zu.
Manche sagen nun: die Vorbehalte gegenüber Ausländern sind im Osten höher, obwohl es im Osten so wenig Ausländer gibt, was sozusagen strafverschärfend wirkt. Es wird wohl umgekehrt sein: weil es so wenige gibt, zu wenig Erfahrung mit dem Ausländer nebenan, die die Westdeutschen auch erst gemacht haben, als die Gastarbeiter kamen. Es ist die Angst vor etwas unbekanntem Unheimlichen, Überfremdungsangst. Und das andere Motiv: die (gemeint sind Asylbewerber) kriegen Geld von Staat und an uns wird’s gespart, also Sozialneid. Und die nehmen uns die Arbeit weg. Dabei konnte doch jeder Ostdeutsche auch eine Dönerbude oder Pizzeria aufmachen. Diese Stimmung spüren die (wenigen) Gewalttäter und deuten sie nicht ganz zu Unrecht als Rückendeckung.
Diese Ausländerfeindlichkeit ist nicht rassistisch, also mit einem Unwerturteil über bestimmte Menschengruppen verbunden wie der Antisemitismus, der im Osten geringer verbreitet ist als im Westen, sondern aus Angst und Neid geboren: die nehmen uns die Arbeit weg, oder: für die hat der Staat Geld, für uns nicht.
Antisemitische Einstellungen sind im Westen verbreiteter als im Osten. Der Satz „Juden haben zu viel Einfluss in der Welt“ wird im Westen von 12 %, im Osten von 9 % bejaht. Der Satz „Juden nutzen die deutsche Vergangenheit aus“ im Westen von 24 %, im Osten von 17 %.
2. Beim Rechtsextremismus müssen wir unterscheiden:
– die rechtsextremen Parteien, die in die Volksvertretungen drängen, nämlich Republikaner, DVU und NPD, und
– rechtsextreme Skinheads und Neonazis, also eine jugendliche Subkultur.
Der Parteienrechtsextremismus ist typisch westdeutsch. Bis 2000 waren 95 % der Parteimitglieder Westdeutsche. Das hat sich inzwischen hinsichtlich der NPD geändert, die ihren Schwerpunkt von Gießen nach Sachsen verlagert hat. Nunmehr sind von 6000 NPD-Mitgliedern 2000 Ostdeutsche.
Dagegen ist der Rechtsextremismus der Jugendkultur, besser Unkultur, typisch Ost. Es gibt davon im Osten relativ zur Bevölkerungszahl etwa dreimal so viele wie im Westen. Dieser Rechtsextremismus ist ideologisch gering fundiert, schwach organisiert, spontan und besonders aggressiv (Richard Stöss).
Grundsätzlich vertragen sich diese beiden Formen des Rechtsextremismus sehr schlecht. Während die rechtsextremen Parteien für Zucht und Ordnung eintreten und den (Klein-)Bürgern imponieren wollen, stilisieren sich die Skinheads und Neonazis geradezu als Bürgerschreck, mit Vorliebe unter Alkohol.
Die NPD hat nun den Brückenschlag zur gewalttätigen Rechtsextremistenszene versucht, bekommt aber dadurch Imageprobleme bei ihren Wählern, die sich vor Gewalttätern fürchten.
So viel zu Mitgliedern. Wie steht es mit den Wählern? Da möchte ich zunächst daran erinnern, dass rechtsextreme Parteien insgesamt zwölf Mal den Sprung in westliche Landtage geschafft haben. Heute sitzt die NPD im sächsischen und mecklenburg-vorpommerschen Landtag. Die DVU saß im sachsen-anhaltinischen Landtag, scheiterte aber bei der letzten Wahl an der 5-Prozent-Klausel. Im Brandenburger Landtag ist sie mit wenigen Abgeordneten vertreten.
Für das Jahr 1998 gibt es eine Umfrage zur Wahlbereitschaft für rechtsextremistische Parteien: „Könnten Sie sich unter Umständen vorstellen, bei Landtagswahlen/Bundestagswahlen auch einmal die Republikaner, die DVU oder die NPD zu wählen?“ Das bejahten in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg 11 Prozent, in Bayern und Thüringen 10 Prozent, im Saarland und Mecklenburg-Vorpommern 9 Prozent, in Sachsen und Nordrhein-Westfalen 7 Prozent. Aber nur der Osten gilt als rechtsextrem – vom Westen aus.
Ich habe die Lage nach bestem Wissen und Gewissen dargestellt. Ich muss hier nicht eigens betonen, dass wir uns weder mit dem Rechtsextremismus der Parteien noch mit dem der gewalttätigen Skinheads und Neonazis abfinden dürfen. Meine Pointe ist nie: wir irren uns, wenn wir Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit zu typisch ostdeutschen Erscheinungen erklären. Auch im Osten löst jede Gewalttat gegen Ausländer Entsetzen aus und jede Demonstration der NPD eine größere Gegendemonstration. Ich erinnere noch einmal an den Fall Sebnitz aus dem Jahre 2000. Ein irakisch-deutsches Apothekerehepaar aus dem Westen hatte in Sebnitz eine Apotheke eröffnet, aber die Sebnitzer gingen weiter zu den zwei alteingesessenen Apotheken. Die Frau vermutete einen Komplott. Als ihr siebenjähriger Sohn 1997 beim Baden starb, wollte sie die Diagnose „plötzlicher Herztod“ nicht glauben. Über Jahre ermittelte sie, sammelte Aussagen von Kindern, denen sie ein bisschen Geld gab, und kam zu dem Schluss, 50 Neonazis hätten unter Anstiftung der Apothekerstochter ihren Sohn vor dreihundert Zeugen im Stadtbad betäubt, geschlagen und ertränkt. Einige Zeitungen, darunter der Spiegel, hatten nach Prüfung der Unterlagen von einer Veröffentlichung abgesehen. Sie erschienen ihnen nicht glaubwürdig. Im November 2000 aber brachte BILD die Meldung. „Viele hörten seine Hilferufe, keiner half.“ Es kam zu drei Verhaftungen. Die meisten deutschen Medien meldeten darauf die Geschichte als Tatsache. Wenige Tage später stellte sich heraus, dass nichts davon stimmte. Einige Zeitungen entschuldigten sich bei ihren Lesern. Andere warnten vor Entwarnung. „Es hätte passieren können“ titelte die taz. Ich habe das seinerzeit Inländerfeindlichkeit genannt. Denen im Osten ist einfach alles Schlechte zuzutrauen. Dass Neonazis ein Kind umbringen, ist noch nie vorgekommen. Dass es nie vorkommen kann, wage ich nicht zu behaupten, aber es passt nicht in ihr typisches Feindbild. Dass aber dreihundert Zeugen in einem Stadtbad einen öffentlichen Kindermord trotz der Hilferufe des Kindes geschehen lassen und dann noch drei Jahre lang geheim halten, das kann nie vorkommen, nirgends in der Welt. Wer bei Sinnen ist, weiß das.
Mein letzter Punkt: Warum sind die Ostdeutschen nicht dankbar, fragen viele Westdeutsche. Im Klartext soll das heißen: uns müssen sie doch dankbar sein für so viel Hilfe. Sie möchten sich einseitig als Wohltäter anerkannt sehen, eine sehr komfortable Position. Den römischen Patronen mussten ihre Klienten dankbar am Bett ihre Aufwartung machen.
Undank ist verletzend, das ist wahr. Aber die Einforderung von Dankbarkeit ist der Tod jeder Beziehung. Eheberater können davon ein Lied singen.
Im Alltag wissen wir das. Wenn uns jemand dankt, sagen wir „keine Ursache“ oder „gern geschehen“. Wir wehren den Dank ab. Wer Dankbarkeit einfordert, fordert Unterwerfung und verhindert damit, was er erwartet. Denn echte Dankbarkeit gibt es nur in Freiheit, in einer Beziehung wechselseitiger Anerkennung.
In Süddeutschland beantwortet man Hilfe mit dem schönen Satz „vergelt’s Gott“. Darin steckt auch Weisheit. Deine Hilfe hat Lohn verdient. Den kann ich nicht liefern, und wenn ich das versuchte, würde ich dich zum Geschäftemacher degradieren, der es auf Gegenleistung abgesehen hatte. „Vergelt’s Gott“, das ist eine schöne Bezeugung von Dankbarkeit, ohne in die Dankbarkeitsfalle der Abhängigkeit zu geraten. Übrigens: nur Gott können wir ohne Verlust unserer Freiheit uneingeschränkt dankbar sein. Unter Menschen verträgt sich Dankbarkeit mit Freiheit nur bei beiderseitiger Großherzigkeit, am besten unter Liebenden.
Bei Lichte gesehen haben doch beide Seiten Grund zur Dankbarkeit. Erst die Herbstrevolution hat den Weg zur deutschen Einheit eröffnet. Und die große Last der Umstellungen und Umwälzungen hat die ostdeutsche Bevölkerung getragen. Und es ist ja kein persönliches Verdienst, im Westen geboren zu sein unter den freundlicheren Besatzungsmächten, die euch zum Grundgesetz gedrängelt haben.
Es wäre manches einfacher, wenn wir aus Anlass der deutschen Einigung gemeinsam sagen könnten: „Nun danket alle Gott“.