Liebe Johanna Rachinger, lieber Franz Vranitzky, meine sehr geehrte Herren,
es freut mich sehr, dass Sie heute zu Gast sind bei Ihrem größten Nachbarn.
Sie werden sich denken, ich beginne bereits meine Rede mit der ersten Fehleinschätzung oder mit dem ersten Versprecher. Ich weise Sie allerdings darauf hin, dass es kein Land gibt, dass mit Deutschland eine längere Grenze hat als Österreich.
Denn weder Polen, Tschechien, Frankreich, die Niederlande und all ihre anderen Nachbarn, haben eine längere Grenze mit ihnen, als wir.
Und man nimmt ja immer als Erstes wahr, was an der Grenze ist. Das, was dahinter kommt, kann dann manchmal kleiner, größer, sympathischer oder weniger sympathisch sein.
Bevor ich auf das eigentliche Thema unseres heutigen Abends zu sprechen komme, bleibt es einem natürlich nicht erspart, ein bisschen das Verhältnis unserer beiden Staaten auch zu paraphrasieren, wie das schon meine Vorredner in einer sehr humorvollen Art und Weise und auch in einer nachdenklichen Art und Weise getan haben. Der kleine Nachbar Österreich, der in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bedeutend ärmer war, als Deutschland – im Jahr 1960 war das Brutto-Inlands-Produkt pro Kopf umgerechnet auf heute in Österreich EUR 900,– und in Deutschland EUR 1.300,–.
Im Jahr 2013 war es in Deutschland EUR 33.300,– und in Österreich EUR 37.000,–.
Also wir haben uns ein bisschen angestrengt. Im Übrigen haben sich auch andere Verhältnisse etwas verändert.:
Mein Vater hat noch zu jener Generation gehört, Ende der 50er und beginnenden 60er Jahre, die nach Deutschland zum Arbeiten gefahren sind, um sich dann eine kleine Wohnung einrichten zu können oder einen Hausbau beginnen zu können. Es waren zu diesem Zeitpunkt über 400.000 Österreicher in Deutschland arbeitend tätig.
In der Zwischenzeit haben sich auch hier die Verhältnisse etwas geändert.
Im Jahr 1999 gab es noch in Österreich 15.634 Deutsche die hier arbeiteten. Im Jahr 2013 sind es knapp 89.000.
Während die Österreicher, die in Deutschland arbeiten im Jahr 1999 noch 66.000 waren, sind es jetzt nur noch 59.000.
Also, es arbeiten bedeutend mehr Deutsche in Österreich als Österreicher in Deutschland!
Das verführt uns nicht zu der Aussage, dass wir es jetzt mit einer Welle der Deutschen Gastarbeiter zu tun hätten.
Aber es ist wahr, dass aufgrund der aktuellen Einwanderungsquoten auf jährlicher Basis aus Deutschland mehr Menschen nach Österreich einwandern als aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien oder anderen Teilen Europas und der Welt. Das heißt, die Deutschen sind unsere größte Zuwanderergruppe.
Das hat sich für Österreich außerordentlich positiv ausgewirkt.
Es führt nämlich dazu, dass in den Tiroler Tourismusorten jetzt weniger mit steirischen, Tiroler, Vorarlberger oder Kärntner Idiomen gesprochen wird, sondern doch in viel stärkeren Ausmaß Sächsisch und Thüringisch und es ist so, dass in der Zwischenzeit in der Landesberufsschule Hall in Tirol, wo die Tiroler Gastronomie ausgebildet wird, 50% aller Auszubildenden – also Lehrlinge – aus Deutschland kommen. Mehr als aus Österreich oder jedem anderen Land!
Und ich finde diese Veränderungen sind nicht nur in der Gastronomie, sondern auch an den Universitäten und an vielen Betrieben spürbar – es geht natürlich nicht nur um die Numerus-Clausus-Flüchtlinge, sondern auch um sehr viele Facharbeiter, Ingenieure und Manager, die aus Deutschland heute in Österreich tätig sind. Und ich finde, das hat das Verhältnis der beiden Länder zueinander auch etwas geändert.
Wir haben ja auch schon einige Schnurren aus der Geschichte heute gehört, und Peter Haßkamp hat uns auf elegante Art und Weise versucht klarzumachen, dass wir uns mit dem Sieg 1978 in Cordoba doch für die Niederlage von 1866 in Königgrätz ausreichend revanchiert hätten. Wobei wahrscheinlich dieses Thema in Deutschland nicht ganz einheitlich betrachtet wird. Nachdem ja bekanntlich die Bayern der Meinung sind, dass 1866 der letzte Zeitpunkt war, als man noch legal auf die Preußen schießen konnte.
Es gibt natürlich eine Reihe von Unterschieden, die wahrscheinlich ihren Grund darin haben, dass der Idealismus in Deutschland eine sehr tiefe Verankerung hat; Österreich vom Idealismus kaum angekränkelt war und sich eher eine spezifisch österreichische Art des Pragmatismus entwickelt hat, die bei uns dazu geführt hat, dass wenn es irgendwelche Probleme zu lösen gibt, dass wir zur Meinung kommen, wir sollten eine „österreichische Lösung“ finden.
Und „österreichische Lösungen“ sind im schlechteren Fall weder „Fisch noch Fleisch“; im besseren Fall sind es Lösungen, die nicht von idealtypischen Vorstellungen ausgehen, sondern von der pragmatischen Sichtweise, die Interessen und Zukunftsperspektiven in einer vernünftigen Art und Weise zueinander gebracht werden können.
Wir haben natürlich einige Boshaftigkeiten aufzuweisen, die auch Teil des österreichischen Charakters sind.
Ein Österreicher zu sein ist ja nicht einfach! Es handelt sich ja nicht um eine ethnische Kategorie, wie das in Deutschland der Fall ist.
Die österreichische Nation ist ja bekanntlich ein politisches Konstrukt, das sich ergibt aus den Spezifika der politischen und sozialen Entwicklung. Spätestens seit dem Zeitpunkt, als Deutsch-Österreich als Rest der ehemaligen K.-und- k.-Monarchie verblieben ist.
Aber ein paar Dinge haben wir ganz gut gemacht, denn aus Adolf Hitler einen Deutschen zu machen und aus Ludwig van Beethoven einen Österreicher das bedarf schon einigen Geschicks!
Ich weiß, dass das vielleicht nicht auf universelle Zustimmung in Deutschland treffen wird, aber zumindest in der Welt ist es so, und das ist auch nicht so schlecht.
Nun sind wir auf das Engste miteinander verbunden, was die Wirtschaft der beiden Länder betrifft, was die kommunizierenden Kultur- und Kommunikationsgefäße in unseren Ländern anbelangt – Peter Haßkamp war ja so freundlich und hat darauf hingewiesen, was der „Kurier“ über die Aufführung im Theater an der Wien von „Cosi fan tutte“ geschrieben hat unter der besonderen Erwähnung der Bremer Musikanten – wir sind ja nicht ganz damit zufrieden, wenn wir nur im „Kurier“ vorkommen. Wenn nicht zumindest das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen oder der Süddeutschen oder der ZEIT über Veranstaltungen kultureller Natur in Österreich berichtet, dann betrachten wir das schon als eine gewisse Art der Zurücksetzung.
Denn wir sind natürlich nach wie vor der Meinung, dass das, was wir hier kulturell produzieren oder machen, nicht für uns alleine tun, sondern weit über Österreich hinaus geht.
Nachdem ja unausgesprochen wir der Meinung sind, dass fast alles in Österreich seine Probe hält und, um mit Karl Kraus zu sprechen, in erster Linie der Weltuntergang. Das heißt Österreich leidet unter einer gewissen Selbstüberhöhung auf der einen Seite und einem gewissen Minderwertigkeitsgefühl auf der anderen Seite. Das ist eine spezifische Form von kognitiver Dissonanz, die unseren sympathischen Nationalcharakter ausmacht und offensichtlich dazu beiträgt, dass nach wie vor im ungebrochenen Zahlen unsere Freunde und Freudinnen aus Deutschland nach Österreich kommen.
Man könnte natürlich einen ganzen Abend gestalten , um das Österreichisch-Deutsche Verhältnis humoristisch, ironisch, politisch, philosophisch zu analysieren – allerding wurde mir untersagt, diese Übung heute durchzuführen und mir ein ganz anderes Thema gegeben, was ganz offensichtlich von einer gewissen Ernsthaftigkeit getragen ist.
Normalerweise, wenn man in Deutschland einen Vortrag hält, muss man immer über Österreich reden. Heute einen Vortrag über Deutschland vor Deutschen zu halten ist eine ganz besondere Herausforderung!
Keine Sorge, ich werde nicht zur Publikumsbeschimpfung übergehen! Auch wenn das sättigende Abendessen die meisten sicherlich in eine Art von vormitternächtlicher Trance versetzt hat. Verbunden mit den Tabak-Gerüchen, die ich wahrnehmen kann, und der Menge des Weinkonsums, den ich vermuten kann. Eine bestimmte Art von Provokation würde mit Sicherheit die Aufmerksamkeit steigern – aber ich versuche, dem nachzukommen, was die Einlader mir verordnet haben.
Wobei sie natürlich wissen müssen, dass sie es mit einem spezifischen Austriacus zu tun haben, wenn sie mich eingeladen haben. Bekanntlich bin ich ja österreichischer Sozialdemokrat und im Unterschied zu anderen habe ich auch keine Scheu, das zu bekennen.
Ich komme aus der niederösterreichischen Provinz. Von den Abhängen des Stiftes Göttweig.
Sie werden sich fragen, was das jetzt damit zu tun hat.
Nun das etwas damit zu tun, dass die Familie meines Vaters in der dortigen Pfarrgemeinde seit dem Jahr 1724 registriert ist; die meiner Großmutter seit dem Jahr 1613. Und einer meiner Vorfahren Abt von Göttweig war – nämlich Abt Rudolf Gusenbauer.
Ich habe mir bis zum Ende noch nicht überlegt, ob ich meine Erbrechtsansprüche geltend machen werden, weil noch nicht klar ist, zu welche Steuerpolitik sich die österreichische Bundesregierung in Bezug auf Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer und ähnlichen in den nächsten Monaten entschließen wird.
Also, ich befinde mich fürs Erste auf der sicheren Seite, hier keine Ansprüche geltend zu machen.
Also ich bin aus einer katholischen Vergangenheit, österreichischer Sozialdemokrat und befasse mich mit Europa und der Welt.
Das Widersprüchliche in einer Person aufzulösen ist etwas, was wir Österreicher immer wieder tun müssen.
Nun gibt es unterschiedliche Meinungen über Deutschland.
Wenn man vor 10 Jahren den „Economist“ aufgeschlagen hat und über Deutschland als den „Patienten Europas“ berichtet wurde, und die große Sorge vorhanden war, dass der zentrale Wirtschaftsmotor Europas nicht mehr funktioniert, dann hat sich dieses Bild in der Zwischenzeit doch einigermaßen geändert. Es kommt zu neuen Betroffenheiten und zu neuen Einschätzungen.
Emmanuel Todd, einer der wesentlichen französischen Philosophen und Präsidentschaftsberatern hat vor zwei Wochen in der Hamburger Wochenzeitung „Die ZEIT“ ein Interwiew gegeben und unter anderen den folgenden bemerkenswerten Satz gesagt: „Deutschland lebt mit einem falschen Bild seiner selbst. Unbewusst auf eine undramatische Art und Weise, bei der es keine Drohungen und keine Toten gibt, sind die Deutschen heute dabei, ihre katastrophenbringende Rolle für die andren Europäer und eines Tages auch für sich selbst wieder einzunehmen.“ Das heißt offensichtlich, dass Denker in Europa – und Frankreich ist immerhin eines der wesentlichen Bündnisländer innerhalb der Europäischen Union – die Auffassung vertreten, dass
1. die europäische Politik heute in erster Linie durch Deutschland gestaltet ist und zum
2. diese Politik direkt oder indirekt in die Katastrophe Europas und letztendlich auch Deutschlands führen wird.
Ich widerspreche dieser Auffassung ganz vehement und versuche heute zu argumentieren, wieso ich der Meinung bin, dass Deutschland Führungsfähigkeit in Europa entwickeln und übernehmen muss. Aus Überlegungen, die sowohl im Inneren der deutschen Struktur als auch in den Außenverbindungen Deutschland gelegen sind.
Das erste, was Deutschland auszeichnet ist – aufgrund der katastrophalen Erfahrungen der beiden Weltkriege – eine tiefe Abneigung gegen kriegerische Auseinandersetzungen und eine weit verbreitete, tief verwurzelte Auffassung, dass Kriege nicht mehr im Stande sind, die Probleme der Menschheit und der Geschichte zu lösen.
Diese Grundauffassung hat sich letztendlich auch an der Weigerung Deutschlands, am Krieg im Irak teilzunehmen, ganz eindrücklich bestätigt. Und erfährt- so meine ich zumindest- auch heute eine Bestätigung, wenn Deutschland zu den Ländern gehört, nicht zuletzt vertreten durch den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, die der Meinung sind, dass eine bellizistische Zuspitzung unseres Verhältnisses zu Russland erstens gefährlich, zweitens falsch und drittens entgegen unseren kurz oder langfristigen Interessen gelegen ist.
Zum Zweiten: Deutschland ist heute ein tolerantes Land geworden. Von der deutschen Steifheit kann man wohl schwerlich mehr sprechen, wenn über 19% der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben und in einzelnen Städte wie Offenbach, Mannheim, München und vielen anderen der Anteil der Zuwanderer bei über 25% liegt.
Deutschland ist heute eine Zuwanderungsgesellschaft, und man braucht nur in den deutschen Bundestag zu blinken und sich die Namensliste der deutschen Abgeordneten anzugucken, und man wird sehen, aus wie vielen Ländern Europas und der Welt heute die Abgeordneten kommen, die in zweiter oder dritter Generation in Deutschland wohnen.
Es gibt also in Deutschland also Toleranz, wenn auch nicht die von manchen strapazierte multi-kulturelle Gesellschaft, weil viele Zuwanderungsgruppen da und dort noch in ihrem eigenen kulturellen Ambiente leben.
Deutschland ist die stabilste Demokratie des Kontinents. Während bei den Wahlen zum europäischen Parlament in Großbritannien, der ältesten Demokratie unseres Kontinents, eine rechtsradikale europafeindliche Gruppierung an die 25% erhalten hat (UKIP), in Frankreich (Front National) mit etwa 25%, in vielen anderen europäischen Ländern – Österreich nicht ausgenommen – rechtsextreme, rechtsradikale, fremdenfeindliche und europaskeptische Gruppierungen 20% oder mehr erhalten haben, ist Deutschland ein Land, in dem es de facto keine rechtsradikalen Gruppierungen in den Parlamenten gibt, und selbst die europaskeptische Partei, die jetzt den Einzug ins europäische Parlament geschafft hat, ist nicht zu vergleichen mit rechtsextremen Parteien anderen Länder.
In Deutschland ist das Votum nach wie vor mit großer Mehrheit für die großen Volksparteien plus den GRÜNEN. Wenn man das alles zusammenzählt muss man sagen, dass bei allen wahlpolitischen Veränderungen, die es gibt oder gegeben hat, der pro-demokratische, pro-europäische Konsens in Deutschland stärker ausgeprägt ist als sonst wo.
Zum Vierten: Deutschland ist eine leistungsfähige Volkswirtschaft.
Und auch wenn es richtig ist, dass Österreich und Deutschland durch den EURO bedeutend bessere Konditionen vorfinden und vorgefunden haben als in der Vergangenheit, weil uns die kompetitiven Abwertungen der mediterranen Staaten unter denen wir Jahrzehnte leiden mussten, erspart blieben, und wir daher zu stabilen Währungsrelationen nämlich innerhalb des EURO exportieren und damit den Wettbewerb gestalten können.
Auch wenn wir diesen Vorteil überall in Betracht ziehen, müssen wir sagen, dass die Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft eine der größten in Europa ist, und wir Österreicher müssen neidvoll zugestehen, dass zumindest im heurigen Jahr das erste Mal seit längerer Zeit Deutschland eine höhere Wachstumsrate haben wird, als wir. Keine Sorge, das wird uns anspornen! Wir werden das nicht kommentarlos zur Kenntnis nehmen.
Zum Fünften ist Deutschland ein Land der sozialen Marktwirtschaft, das nach sozialem Ausgleich orientiert ist, in dem es – wie in vielen skandinavischen Ländern und eben in den mitteleuropäischen Staaten, wie Deutschland und Österreich – bedeutend ausgeglichenere soziale Verhältnisse gibt, als im ganzen Rest der Welt. Wenn man sich die internationale Tabelle des Gini-Index ansieht, dass das Maß der Ungleichheit in den Gesellschaften ist, dann schneiden die Gesellschaften in Skandinavien, Deutschland und Österreich am allerbesten ab.
Weil vor dem Hintergrund eines sozialen Dialogs, der manchmal auch in kämpferischen Auseinandersetzungen münden kann, in Deutschland öfter als bei uns in Österreich, denn wir messen Streiks nach wie vor in Sekunden. Aber nichtsdestotrotz gibt es hier aufgrund dieses institutionellen Settings eine weit verankerte soziale Verantwortung.
Und Deutschland ist ein föderales Land, das seit langer, langer Zeit an Gewaltenteilung und -trennung gewöhnt ist. Das bei allen Schwierigkeiten und Problemen, die sich in einem föderalen Staat stellen, die uns auch in Österreich nicht unbekannt sind, sich eine Gesellschaft daran gewöhnt hat, dass nicht von einer einzigen Machtzentrale ausgehend alle Entscheidungen zu treffen sind, sondern, dass in einem ausgeklügelten Institutionensystem es eine Verbindung gibt von Entscheidungsfähigkeit, lokaler Autonomie und föderale Aufteilung der Aufgaben.
Wieso nenne ich diese sechs Punkte? Ich nenne diese sechs Punkte deswegen, weil es in der zentrale Herausforderungen für Europa heute sind.
Und wenn ein Land in Europa heute Führungsverantwortung wahrnehmen will, dann muss es bei sich zu Hause im eigenen Land all jene Ingredienzien aufweisen, die es gerne in Europa heute verwirklichen möchte.
Es kann nicht ein Land, das zentralistisch ist, ein Europa anführen, das selbstverständlich eine Gewaltentrennung braucht.
Es kann nicht ein Land, das dem Manchester-Liberalismus verpflichtet ist, für sozial ausgeglichene Verhältnisse in Europa sorgen. Und es kann nicht ein Land, dessen Demokratie täglich auf die Probe gestellt wird durch radikale Gruppierungen, im Stande sein, Europa in eine demokratische Zukunft zu führen.
Nein, Deutschland hat heute die Voraussetzungen Europa zu führen. Die Frage stellt sich wohin und wie?
Wobei wir beim „wie“ ganz besonders sensibel sein müssen. Die Art Deutschland zu führen hat sich in der Geschichte geändert.
Vor zwei Wochen habe ich mit Hans-Dietrich Genscher bei der Vorstandssitzung der Bonner Akademie für praktische und angewandte Politik ein interessantes und amüsantes Gespräch geführt. Er hat gesagt, „immer, wenn wir Deutschen das Große in der Geschichte wollten, dann ist das meistens in einer Katastrophe gemündet. Und je Größer das war, was wir wollten, desto größer war die Katastrophe! Seit 1945 backen wir von unserem Anspruch her kleinere Brötchen und wir sind bedeutender, als jemals zuvor“.
Das heißt Führung hat nicht immer etwas zu tun mit dem prätorischen ostentativen Anspruch: „Versammelt Euch alle hinter mir!“ – sondern Führung hat heute in unseren komplexen Gesellschaften viel mehr damit zu tun, die unterschiedlichen Akteure und deren Interessen soweit in Übereinstimmung zu bringen, dass ein vernünftiges gemeinsames Ganze dabei herauskommt.
Also nicht Führen mit starker Hand, nicht Führen mit quasi autokratischem Verhalten, sondern Führen mit demokratischem Ausgleich und mit Sensibilität.
Das ist eine Lehre der Geschichte, die ich nicht geringschätzen möchte, weil sie uns unter Umständen auch auf einen anderen Weg bringt, was die Beantwortung einzelner unserer Zukunftsfragen betrifft. Und wo liegen die?
Die liegen wohl darin, dass bei aller Stäke der europäischen Volkswirtschaft, die auch heute noch vorhanden ist, wir uns darüber im Klaren sein müssen, dass es im Jahr 2040 kein einziges Mitgliedsland der Europäischen Union geben wird, das zu den acht größten Volkswirtschaften der Welt gehört.
Deutschland, als unsere größte Volkswirtschaft, wird zu diesem Zeitpunkt nur mehr Nummer 10 sein.
Derzeit sind noch vier unter den größten acht. Im Jahr 2040 keiner unter den größten acht!
Das heißt, auch das deutsche Interesse wird sich nur verwirklichen können in einem europäischen, gemeinsamen Auftreten, mit und gegenüber den anderen Teilen der Welt.
Denn nicht einmal das größte Land unseres Kontinentes – alleine – wird im Stande sein die Interessen gegenüber dem Rest der Welt zu vertreten.
Daher ist es das ureigenste Interesse Deutschlands, dass Europa weiter existiert, dass Europa sich weiter integriert und das Europa jene Stärke entwickelt, damit auch die deutschen Interessen in der Welt nicht untergehen.
Zum Zweiten: wir werden ohne die Rohstoffvorkommen und die großen Märkte der Weite Russlands nicht auskommen können.
All das, was heute an Unsinn gesprochen wird, über alternative Gaslieferungen, an alternativen Lieferungen an Öl und anderen fossilen Brennstoffen, das alles auf den Tisch der Bewertung gelegt, muss zur Conclusio führen, dass es keine Alternative gibt – zumindest zu einer rohstofforientierten Kooperation mit Russland.
Glaubt wirklich jemand, dass das Gas, das heute durch die Pipelines fließt, durch Natural liquide Gas aus des Vereinigten Staaten von Amerika mit noch so vielen Tankschiffen – die es nicht gibt – und mit noch so vielen Konversionsstationen kompensiert werden könnte? Das ist meines Verständnisses nach zumindest ökonomischer Unsinn!
Wir brauchen die natürlichen Ressourcen, die in Russland lagern ganz dringend. Wir brauchen die Möglichkeit, die Märkte dort zu nutzen.
Und Russland braucht ganz dringend unsere technologische und politische Expertise, um das Land im geeigneten Ausmaß zu modernisieren.
Diese strategische Zielsetzung sollten wir nie außer Acht lassen, wenn wir auch aktuelle Konfliktfälle bewerten.
Und es würde heute zu weit führen, die Situation in der Ukraine im Detail zu analysieren – ich verweise auf meine einschlägigen Publikationen zu diesem Thema – aber immer die Möglichkeit offen zu lassen, die Möglichkeit, dass es zu einer Deeskalierung und zu einem friedlichen Ausgleicht kommt, ist eine Grundbedingung dafür, dass Europa von Russland nicht ganz getrennt wird.
Und wenn Franz Vranitzky heute darauf hingewiesen hat, dass wir bei massiveren Sanktionen gegen Russland unter Umständen die Mitverlierer sind, dann muss man ganz offen sagen, bei all unserer Freundschaft zu den Vereinigten Staaten von Amerika und die transatlantische Zusammenarbeit es steht für mich außer jeden Zweifels. Ebenso, wie ich der Meinung bin, dass wir alle Möglichkeiten der Handlungsintensivierung mit den USA auch durch ein Freihandelsabkommen nützen müssen.
Aber wir werden nicht erlauben, dass wir von den USA in eine Entscheidungssituation gedrängt werden, wo sie uns sagen, entweder handelt ihr mit uns und macht mit uns Geschäfte oder mit Russland.
Diese binäre Entscheidungssituation wäre für Europas Wirtschaft und für Europas Gesellschaft eine völlig falsche – ganz im Gegenteil – wir müssen versuchen, die bestehen Konflikte zu lösen und mit Russland ein Verhältnis zu entwickeln, das uns die Möglichkeit verschafft, daraus auch den maximalen ökonomischen Nutzen zu ziehen bei völliger Beibehaltung unserer Handelsbeziehungen und unserer politischen Verpflichtungen mit unseren Bündnispartnern.
Zu entscheiden, Europa gehst Du mit den USA oder gehst Du mit Russland, schon diese Frage schwächt Europa ganz entscheidend.
Und es gibt nicht wenige in den Vereinigten Staaten von Amerika, die der Meinung sind, sie sollten Europa vor diese Frage stellen, denn dann schwächen sie nicht nur Russland, sondern auch uns.
Die dritte große Herausforderung vor der wir stehen ist ganz sicherlich, wie wir die anstehenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme in Europa bewältigen. Und dazu brauchen wir – jetzt nach den europäischen Wahlen – auch politische Voraussetzungen.
Ich halte nichts von kindischen Erpressungstaktiken.
Und wenn jetzt Personalfragen schon eine Prominenz erhalten, wo gesagt wird, wenn der oder die gewählt wird, dann treten wir aus der europäischen Union aus, dann darf man sich auf ein solches Spiel nicht einlassen.
Es zeigt aber gleichzeitig, wie dünn in der Zwischenzeit der Konsens geworden ist.
Und daher bin ich der Meinung, Europa und die Bürgerinnen und Bürger Europas, die in den Wahlen ihre politische Entscheidung getroffen haben, dürfen nicht das Opfer einer politischen Erpressung werden.
Aber, man muss auch die Fragestellungen ernst nehmen, die von einzelnen unserer Partner gestellt werden und die nicht alle unrichtig sind.
Wenn Premierminister Cameron darauf hinweist, dass es notwendig wäre, darüber zu reden, was ist denn wirklich wichtig, was wir gemeinsam in Europa machen und sollte sich Europa nicht darauf konzentrieren, das Große zu machen und das Kleine den Nationalstaaten überlassen? Dann muss man sicherlich im Detail darüber diskutieren, was damit gemeint ist, aber die Regelungswut der Kommission geht nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Deutschland und in Österreich großen Teilen der Bevölkerung gehörig auf die Nerven.
Denn die Menschen haben den Eindruck, dass sich die Kommission in Dinge einmengt, die nach dem breiten Verständnis der Bevölkerung sie nichts angeht, während die großen Herausforderungen unseres Kontinentes nicht gelöst werden.
Und daher ist eine Debatte darüber, wie die Kompetenzen in Europa einer gewissen Revision unterzogen werden können, eine legitime Diskussion – bedeutend legitimer, als die Diskussion darüber, ob man wegen einer Personalentscheidung aus der europäischen Union austreten will oder nicht.
Die unglaubliche Jugendarbeitslosigkeit, mit der wir heute in Spanien, in Italien, in Frankreich in anderen Ländern und in Griechenland konfrontiert sind, wird durch das Wirtschaftswachstum, das wir derzeit erreichen, nicht verschwinden. Der Aufschwung ist außerordentlich flach. Wenn die politische Konfliktlage im Osten unseres Kontinentes sich weiter zuspitzen sollte, wird aus dem flachen Aufschwung ein wirtschaftspolitisches Nullum. Und diese Wachstumsraten sind in keinem Fall dazu geeignet, mehr als 50% Jugendarbeitslosigkeit abzubauen.
Das heißt, eine europäische Union, die sich anschickt, die Verbindungen zu den Bürgerinnen und Bürgern wieder herzustellen, eine solche europäische Union müsste in den nächsten fünf Jahren ein zentrales Mandat haben: die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und der Arbeitslosigkeit.
Und dabei sind wir natürlich sofort nicht nur bei Arbeitsmarkt, sondern auch bei Investitions- und Verteilungsfragen.
Wo soll das Wachstum herkommen, wenn alle Nationalstaaten gleichzeitig zur Austeritätspolitik verpflichtet worden sind, und gleichzeitig Europa keine Mittel zur Verfügung hat zu investieren, dann kann die europäische Zentralbank die Zinsen noch weiter reduzieren, vielleicht auch für die privaten Konsumenten unter null, das wird den Aufschwung nicht bringen.
Das wird den Aufschwung nicht bringen, weil mit Geldpolitik alleine die wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme unseres Kontinentes nicht zu lösen
sind.
Und daher müssen wir uns entscheiden.
Wenn wir bei der Austeritätspolitik auf nationaler Ebene bleiben, dann müssen wir das ergänzen durch Investitionspolitik auf europäischer Ebene. Und wenn wir nicht bereit sind, mehr Mittel für Investitionspolitik auf europäischer Ebene zur Verfügung zu stellen, dann müssen wir die Schrauben bei den nationalen Budgets lockern.
Ohne mehr Investitionen und ohne mehr Nachfrage wird es nicht das Wachstum in Europa geben, das wir dringend brauchen, um die sozialen Herausforderungen zu bewältigen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir leben an einer Wegkreuzung. An einer Wegkreuzung, wo Europa vieles zustande gebracht hat und die historische Leistung ist unbezweifelt.
Dass es nach dem zweiten Weltkrieg gelungen ist, die Wunden, die der Zweite Weltkrieg in unserem Kontinent aufgerissen hat, zu heilen, ist von welthistorischer Dimension. Dass die Osterweiterung das wesentliche Instrument war, um die Spaltung Europas durch den ‚Eisernen Vorhang‘ zu überwinden, hat sich bewahrheitet.
Wir stehen nun vor der nächsten großen Herausforderung – der westliche Balkan, der durch den Krieg im ehemaligen Jugoslawien erschüttert wurde und fragmentiert ist, dass dieser westliche Balkan eine europäische Perspektive hat, um auch dort für Frieden sorgen zu können – auf der Basis einer Aussöhnung zwischen den Konfliktvölkern, wie es derzeit zwischen Serbien und dem Kosovo der Fall ist. Und auf Basis von jenen Reformen der Rechtsstaatlichkeit und der Bekämpfung von Korruption, die die Grundvoraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union darstellen.
Das heißt, auf der Seite des Friedens und auf der Seite der Stabilität wurde viel erreicht, aber wir haben noch nicht die gesamte Tagesordnung bewältigt.
Aber ich stimme Tony Blair zu, wenn er in einem heute veröffentlichten Kommentar für ‚Project Syndicat‘ schreibt, dass die Frage der letzten Jahrzehnte in Europa war ‚Frieden‘. Die Frage der nächsten Jahrzehnte in Europa ist ‚Macht‘, und zwar Macht im Sinne der Vertretung europäischer Interessen in der Welt.
Denn bis jetzt war Europa für sich gesehen ein ökonomischer Riese, aber weltpolitisch ein Zwerg. Und es zeigt sich immer mehr, dass nur dann, wenn man auch weltpolitisch ein Riese ist, man seine Interessen in geeignetem Ausmaß vertreten kann.
Und wir haben es mit einer traditionellen und gewohnten Supermacht wie den Vereinigten Staaten von Amerika zu tun, wir haben es mit einer aufstrebenden Supermacht wie China zu tun und vielen anderen regionalen Mächten. Und wir sollten nicht so naiv sein zu glauben, dass die machtpolitische Enthaltsamkeit dazu führen wird, dass europäische Interesse in der Welt geeignet vertreten werden.
Nein, Europa muss sich, was seine Außen- und Sicherheitspolitik betrifft, weiter zu einander entwickeln und gemeinsam auftreten. Und Deutschland ist das erste Land, das das verstehen wird und schon verstanden hat.
Ich fasse zusammen:
Wir leben nicht in Zeiten des historischen Revisionismus. Wenn heute bei den einleitenden Reden des Öfteren auf Österreich und teilweise auch auf seine mangelnde Lebensfähigkeit nach dem ersten Weltkrieg hingewiesen worden ist, dann muss man dazu sagen, es handelt sich dabei nur um Deutsch-Österreich – nämlich um jenen kleinen Teil eines ehemals größeren Reiches, in dem deutsch gesprochen wurde und wo in der Tat es erhebliche Zweifel darüber gab, dass dieser Staat überlebensfähig sein wird.
Es ist auch eine österreichische Eigenart, dass nach allen Umfragen der beliebteste österreichische Politiker der gesamten Geschichte Kaiser Franz Josef ist. Wie wir wissen, der größte ‚Looser‘, den es gegeben hat. Denn er hat letztendlich jede kriegerische Auseinandersetzung verloren und hatte am Ende das Auseinanderfallen seines Reiches zu verantworten und zwar nicht auf friedlicher, sondern auf kriegerischer Grundlage.
Keine Angst, Österreich wird nicht den Anspruch stellen, dass es nach der Wiedervereinigung Deutschlands, jetzt auch zur Wiedervereinigung Österreichs kommen sollte.
In der Tat nicht!
Aber wir in Österreich fühlen uns als Europäer im Zentrum, die Verantwortung dafür tragen und tragen wollen, dass es zu einer friedlichen Entwicklung in unserer engeren und weiteren Nachbarschaft kommt.
Deswegen sind wir sehr starke Protagonisten für einen Beitritt aller Länder des westlichen Balkans auf Basis einer bestimmten Zeitstrecke zur europäischen Union.
Ebenso, wie wir stark dafür eingetreten sind, dass die Osterweiterung – also die erste Welle der Erweiterung – stattgefunden hat.
Nicht aus altimperialen Ambitionen heraus, sondern im tiefen Verständnis, dass es hier darum geht, Wunden der Geschichte Europas zu heilen und das gesamte Potential unseres Kontinents für die Zukunft zu erschließen.
Wird akzeptieren, dass Deutschland ein aufrechter und verlässlicher Partner ist.
Nicht nur in den Fragen, in denen wir einen speziellen Beitrag leisten können, sondern vor allem auch bei der Entwicklung eines gemeinsamen geeinten und starken Europas. Ein Deutschland, das kein Interesse daran hat, dass es erneut kriegerische Auseinandersetzungen gibt. Und ein Deutschland, das daran interessiert ist, dass wir nicht vor die Frage USA oder Russland gestellt werden, sondern die Potentiale aus Kooperationen mit beiden zieht.
Dies ist kein falsch verstandener Neutralismus, sondern dies ist vor dem Hintergrund der Herausforderungen, die sich stellen – so meine ich – eine klug formulierte Strategie.
Ich fühle mich – zumindest meistens – wohl, wenn ich einzelne deutsche Politiker über Europa reden höre und spüre die Verantwortung, die nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa übernommen wird.
Und nachdem ich einmal Politiker war, möchte ich noch einen abschließenden Satz zum Nachdenken Ihnen mitgeben:
Meiner Meinung nach besteht auch ein untrennbarer Zusammenhang zwischen dem Erfolg, der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung eines Landes und der Qualität der politische Klasse. Und es wäre, meinem Verständnis nach, weder der Aufstieg Österreichs noch – in einem viel größeren Ausmaß – der Aufstieg und die Wiedervereinigung Deutschlands möglich gewesen ohne jene Männer und Frauen, die in der Politik nicht Verantwortung für sich selbst, sondern für ihr Land, für die Bevölkerung und für ihren Kontinent getragen haben.
Herzlichen Dank!