Meine Herren,
einen wunderschönen, guten Abend. Ich freue mich sehr, es gleich hinter mir zu haben!
Ich habe in den letzten Monaten sehr viel an diesen Worten gearbeitet und ich bin schon von verschiedenen, mit mir zusammenwohnenden Menschen, als vollkommen wahnsinnig bezeichnet worden, was für einen Psychiater relativ unangenehm ist – aber sei es drum!
Lesen als Grundlage unseres materiellen und immateriellen Wohlstandes – Von mindestens zwei Heiligen, vielfältigen Arten des Reichtums und vielen wilden Tieren.
Als der heilige Columban von Luxeuil von den Vogesen über die Alpen zog, hat es hier wie dort noch Luchse gegeben. Wegen stärkerer Besiedlung der Gebirge durch den Menschen und die intensivierte Jagd auf die Wildkatzen zum Schutz des Viehs, starben die Luchse im 17. Jahrhundert aus.
So war das nun einmal – wir befinden uns auf St. Bartholomä und der Apostel Bartholomäus ist der Schutzpatron der Hirten.
Im 20. Jahrhundert sollten die Luchse wieder in den Vogesen angesiedelt werden. Zwischen 1983 und 1993 setzte man einundzwanzig Luchse aus. Diese waren in den Karpaten gefangen, unter der Bedingung minimalen menschlichen Kontakts in die Vogesen transportiert und dort freigelassen worden. Engmaschig überprüfte man den Erfolg des Experiments. Wie alle Wildkatzen sind Luchse so genannte Apex-Prädatoren, benannt nach ihrer Spitze in der Nahrungspyramide. Sie bewohnen, verteidigen und bejagen riesige Reviere. Die natürlichen Voraussetzungen in den Vogesen wurden als hervorragend eingeschätzt.
Die Vorbereitung auf diese Rede hat mich Monate gekostet, schlaflose Nächte und Tage, in denen ich angesichts der Monstrosität des Themas erschauderte und mich dafür verurteilte, dieses Monster mit erschaffen zu haben. Unzählige Bücher waren zu lesen und zahlreiche Quellen zu beschaffen – online und off. Ich habe Besseres zu tun, versuchte ich mich zu belügen.
Gequält habe ich mich mit dieser Rede und bin damit unzufrieden geblieben bis zum Schluss. Und ich möchte Ihnen allen herzlich dafür danken.
Ich bedanke mich für das große Vergnügen, mich herausgefordert zu haben, für die zahlreichen neuen Fragen, vor denen ich nun wieder stehe, vor allem aber für die zahllosen neuen Verknüpfungen in meinem Gehirn, für die Sie verantwortlich sind.
Denn die Verknüpfungen in unserem Gehirn sind unser Denken und unser Denken ist unser Selbst. Das heißt, ich darf Ihnen herzlich für eine Erweiterung meines Selbst danken, wenn auch nicht gerade für eine Erweiterung meines Selbstbewusstseins.
Die herausragende Wissenschaftlerin Jane Goodall lebte im Gombé, Nationalpark von Kenia, über zehn Jahre mit den Schimpansen. Auch ihr eigener Sohn Hugo wurde dort geboren. Jane Goodall, ganz Biologin und Mutter, beschreibt, dass sich Hugo wunderbar mit den Nachkommen der Schimpansen verstand, dass es anfangs praktisch keinen Unterschied zwischen ihrem Kind und den Nachkommen der Schimpansen gab – bis die Sprache kam. Als Hugo sich seine Welt auch durch Sprache erschloss, begann sich seine Entwicklung von der der Schimpansen-Säuglinge immer schneller zu unterscheiden. Hugo konnte Dinge benennen, die nicht da waren, konnte die Welt ordnend, verstehen.
Diese Episode von Hugo Goodall bringt alles zusammen, was mich an Sprache interessiert, was mich dazu geführt hat, sie aus verschiedenen Perspektiven zu erforschen und zu verstehen, obwohl ich niemals eine einzige Vorlesung an einer sprachwissenschaftlichen Fakultät gehört habe.
Die Sprache ist mein Instrument, auf dem ich tagtäglich zu spielen versuche. Als Schriftsteller versuche ich, die Bilder und Geschichten aus meinem Kopf in Sprache zu übersetzen, als Kinderpsychiater interessiere ich mich für die verschiedenen Entwicklungsstufen des Sprechens, Lesens und Schreibens und ihre Repräsentanz im Gehirn und als Psychotherapeut versuche ich einerseits durch Sprache zu heilen und andererseits auch im Rahmen von Hypnosetherapien den Geist mit dem Mittel der Sprache in Regionen seines Unterbewusstseins zu führen.
Dazu versuche ich noch, mit Sprache meine Kinder zu erziehen, meine Ehe zu unterhalten und mir Lebensmittel zu kaufen. Was ist das Ich, wenn nicht meine Sprache? Ganz zu schweigen vom Über-Ich.
Wer sich mit dem Lesen als Grundlage unseres materiellen und immateriellen Wohlstandes beschäftigt, wird sich der Schultern der Riesen bewusst, auf denen jeder Leser, sogar jeder Nichtleser, wir alle eigentlich getragen werden. Es ist für den Redner sehr bedauerlich, einer Zuhörerschaft gegenüber zu stehen, bei der er keine Überraschung mit der Feststellung bewirken kann, dass die bedeutendsten und bis heute meistdiskutierten, ja in ihrer Gültigkeit heute, 2500 Jahre später geradezu wachsenden Einwände gegen das Lesen und Schreiben ausgerechnet vom großen Sokrates vorgetragen wurden.
Der hier fehlenden Überraschung kann ich mir im Gespräch mit meinen Studenten praktisch sicher sein. Sie können meist nicht glauben, dass ausgerechnet ein alter, weiser Grieche etwas gegen das Lesen gehabt haben soll, ein kognitiver Widerspruch, wie ihn Sokrates geliebt hätte, der die Einprägsamkeit der Argumente des großen Philosophen stark erhöht.
Im Gespräch mit dem jungen Phaidros erläutert Sokrates seine Bedenken minutiös. Phaidros kann als Freund moderner Medien keine Probleme mit dem geschriebenen Wort erkennen, Sokrates sieht sich bewegt, den jungen Mann zurechtzuweisen.
Erstens sieht Sokrates im Lesen einen toten Diskurs. Die geschriebenen Worte verändern sich nicht und können sich damit gewissermaßen auch nicht gegen ihre Leser wehren. So liest der wohlwollend lesende Mensch die toten Worte und bildet sich womöglich lesend ein, etwas vom Thema zu verstehen, obwohl er doch gerade erst davon hört. Der Text kann sich auch nicht gegen Kritik des weniger wohlwollenden Lesers zur Wehr setzen. Der Text kann sich nicht erklären.
Zweitens befürchtet Sokrates den Tod des Gedächtnisses. Während die Philosophen seiner Schule ihre Argumente noch auswendig erlernen, lange, komplizierte Vorträge Wort für Wort vortragen, könnten die Philosophen durch die Schrift das Interesse und die Fertigkeit dieser Kunst des Auswendiglernens und Argumentierens erst vergessen und dann verlieren.
Drittens befürchtet Sokrates den Verlust der Kontrolle über das Wissen, wenn es schriftlich niedergelegt wurde. Das, was der Schreibende mit seinen Worten gemeint oder erhofft hat, kann nun in die Hände und mehr noch Köpfe von Menschen geraten, von denen der Schreibende möglicherweise sehr wenig hält.
Wir kennen diese vielschichtigen Argumente, die ganze Philosophie des Sokrates nur durch Platon, der der Nachwelt einen ebenso riesigen Dienst erwies, wie er die Ratschläge seines hoch verehrten Lehrers in den Wind schlug, indem er Sokrates‘ Philosophie niederschrieb. Es ist dies ein brillantes Beispiel historischer Ironie, noch verstärkt durch den Umstand, dass Platon das Lachen so verachtete.
Sokrates äußert seine Zweifel in einer Zeit, als die Schriftsprache ein neues Medium war. Und zweifellos stehen wir heute an einem Punkt der menschlichen Geschichte, wo das Lesen und Schreiben erneut auf dem Prüfstand stehen. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass eine bestimmte Kultur des Lesens, eine historische Anomalie wieder ihren Rückzug angetreten hat und sich erneut der gesellschaftliche Normalzustand einstellt, eine Klassengesellschaft, in die menschliche Gesellschaften der vergangenen 6000 Jahren aufgeteilt waren: die lesende und die nichtlesende Klasse.
Zu Ihrem Glück ist mir an diesem Orte Kulturpessimismus streng untersagt worden. Aber es gibt begründbare Befürchtungen, was die Kunst des Lesens betrifft. Um es mit der New York Times zu sagen: Es wäre eine Schande, wenn die Technologie am Ende genau die Art von Intellekt bedrohen würde, der sie hervorgebracht hat.
Darum möchte ich zu Ihnen nicht über Untergangsszenarien sprechen, die sich mir in den vergangenen Monaten durch meine Vorbereitungen auf diese Worte aufdrängten, sondern lediglich das Lesen als Grundlage unseres materiellen und immateriellen Wohlstandes preisen.
Seit Jahrtausenden sind Lesen und Schreiben die entscheidenden Träger der gesellschaftlichen Verantwortung, erworbenes Wissen von Generation zu Generation weiterzugeben. Man muss nicht einmal so ein komplexes Beispiel heranziehen wie das Gefährt, mit dem jeder einzelne von uns heute hierher gekommen ist. Kaum eine der grundlegenden Technologien, die uns heute selbstverständlich scheinen, sei es der elektrische Strom, die Uhrzeit oder Landkarten, könnten selbst vom Genialsten unter uns ohne die Schriftsprache in einer Lebenszeit vollständig entwickelt werden. Und auf individueller Ebene wäre ohne die Schrift, um es mit Hermann Hesse zu sagen, keines Menschen Leben lang genug, um die Regeln und Gesetze der Welt zu kennen.
Von den ersten Schriften der Sumerer bis zum Mittelalter waren Lesen und Schreiben allein in der Hand einer kleinen gebildeten Schicht. In dieser Zeit kam es zur genialen Erfindung der Alphabete und im Mittelalter sogar zur Worttrennung, beides Erfindungen, die die Effektivität des Lesens erheblich steigerten.
Doch die historische Anomalie ist im Wesentlichen natürlich zurückzuführen auf den Mainzer Kaufmannssohn Johannes Gensfleisch, der nach seinem elterlichen Hof allgemein Gutenberg genannt wird und ich muss ihn nicht nur erwähnen, weil wir uns hier auf St. Bartholomä befinden und der Heilige Bartholomäus der Schutzpatron der Buchbinder ist.
Was Gutenberg um das Jahr 1450 herum erfand, resultierte in einer gewaltigen Explosion des Lesens und damit auch des Fortschritts, führte zu einer Verbreitung von Wissen und Bildung in jeglicher Hinsicht. Durch die Druckkunst konnte bald jeder Mensch seine Lektüre haben und damit eine gänzlich individuelle Vorstellung vom Selbst. Das gesamte Konstrukt von Individualität westlicher Prägung ist ohne Gutenberg praktisch nicht denkbar. Kein Staat westlicher Prägung ist ohne Gutenberg denkbar.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist unser Lesen und unser Schreiben besser als zu Sokrates‘ Zeiten. Denn es hat sich die eigene Kunst des Schreibens entwickelt, die nicht nur Wert darauf legt, was der Schreibende dokumentiert, sondern auch darauf, was beim Lesenden davon ankommt. Die immer wieder an dem Versuch scheitert, möglichst vollendet zu schreiben, um die zu Druck gelegten Worte möglichst vollkommen komponiert zu haben, um das auszudrücken, was man meint, um – noch besser – dem Leser dabei zu helfen, ein eigenes Erleben in diesem Text zu haben.
Das Kind erwirbt zunächst die mündliche Sprache. Es findet ein paar Laute, probiert sie aus, bekommt Reaktionen, bestimmte Laute werden durch die Umwelt sehr verstärkt und so beginnt es zu sprechen. Hat das Kind jetzt so viel Glück, wie wir ihm wünschen wollen, werden seine Eltern ihm bald anfangen vorzulesen. Dabei kann hier die Wurzel des Wohlstandes, aber auch der Armut liegen.
Eine Untersuchung konnte in armen Haushalten durchschnittlich drei Bücher finden, in den wohlhabenderen Haushalten dagegen durchschnittlich zweihundert. Durch das Vorlesen wird das Kind immer wieder neuen Worten begegnen, Worte, die in seinem Alltag nicht vorkommen. Wunderbare Worte wie ‚Langholzlaster‘ oder ‚Eiderdaus‘. Das Kind wird vorhersagbar und kontinuierlich von Dingen hören, die nie ein Mensch erlebt haben kann.
Kinder haben ein ungeheures Vergnügen am Vorlesen, aber wir können dieses Vergnügen natürlich auch in staubtrockene akademische Begriffe zergliedern. Durch das immer Gleiche der Worte lernt das Kind das Buch als Repräsentanz für Worte kennen, als Repräsentanz für ungewöhnliche und neue Worte. Das Kind lernt auch, dass in einem Buch immer dieselbe Geschichte zu finden ist. Viele Eltern haben Erinnerungen daran, wie ihre Kinder protestierten, wenn man eine bestimmte Geschichte einmal abkürzen, nur einzelne Sätze oder Worte weglassen wollte. Nein, das dürfen die Eltern nicht tun. Und wenn man seinen Eltern im Alltag nur selten etwas verbieten kann, so kann man ihnen doch gebieten, sich an die Buchstaben des Buches zu halten. Die glücklichen Kinder haben somit die Autorität des Buches kennenlernen dürfen.
In der dritten Stufe des Lesens erlernt das Kind den Zusammenhang zwischen den gedruckten Symbolen und den Worten. Es versteht den Zusammenhang zwischen den abstrakten grafischen Zeichen und den Lauten, aus denen die Worte gebildet werden und beginnt, selbst aus den Zeichen Laute zu bilden.
Interessanterweise kann es am Anfang dieses Prozesses die gelesenen Worte nicht gleich verstehen, weil alle mentale Energie für das Lesen selbst benötigt wird. Dann erst kommt die vierte Stufe des Lesens, in der das Kind die gebildeten Worte gleich beim Lesen versteht und begreift. Zunehmend liest das Kind flüssig.
Tragischerweise sind zu viele Eltern, Lehrer, Politiker, Menschen allgemein der Meinung, dass diese vierte Stufe der Lesekompetenz das ist, was man braucht, was Lesen ist. Wenn das so wäre, gäbe es in Deutschland kaum noch Analphabeten und in diesem Sinne braucht es niemandem bange zu sein um die Lesekompetenz in Deutschland. Man halte nur einem beliebigen Kind, das älter als 8 oder 9 Jahre ist, ein beliebiges Wort vor die Nase und es wird „Hund“, „Kartoffel“ und wahrscheinlich sogar „Orchester“ ohne weiteres vorlesen können.
Doch es ist die fünfte Stufe der Lesekompetenz, auf die es ankommt. Die Stufe, wo der junge Mensch nicht mehr das Lesen lernt, sondern anfängt, lesend zu lernen. Wenn sich das Lesen so sehr zu einem neurologischen Automatismus entwickelt hat, das Decodieren der Symbole in Sprache so stark zur Gewohnheit geworden ist, dass im Gehirn beim Lesen wieder Kapazität für anderes frei wird. Das Gehirn kann dann beim Lesen nachdenken. Und so tritt das Gehirn in den Dialog mit dem Text, kann eigenes, bereits vorhandenes Wissen mit den Thesen des Autoren vergleichen und so eigene Assoziationsketten weiterentwickeln. Es kann Worte in ihrem Kontext neu erschließen und neue Worte durch ihren Kontext verstehen.
Den meisten von Ihnen wird das Wort „Zyklothymia“ nicht vertraut sein, aber wenn Sie den Satz lesen: „Als Zyklothymia bezeichnet man eine anhaltende affektive Störung, die durch eine dauerhafte Instabilität von Antrieb und Stimmung gekennzeichnet ist“, dann werden Sie nicht nur eine gute Vorstellung davon haben, dass der Begriff aus der Psychiatrie kommt und was der Psychiater ungefähr mit einer Zyklothymia meint, sondern auch Ihre Kenntnis des Begriffs „affektive Störung“ gefestigt haben, sowie die besondere Bedeutung der Worte „Antrieb“ und „Instabilität“ im Zusammenhang mit dem psychischen Erleben im Gegensatz zu ihrer Verwendung in den Ingenieurswissenschaften oder der Verhaltensbiologie. Denn beim verstehenden Lesen und dem Umgang mit Sprache ist es ein ganz einfacher Fakt, dass die Reichen immer schneller und immer leichter reicher werden, ohne dass jemand darunter leiden würde.
Es ist diese fünfte Stufe der Lesekompetenz, die zum unglaublichen Fortschritt der menschlichen Entwicklung in den vergangenen Jahrhunderten geführt hat. Denn mit dieser originär menschlichen Erfindung, an deren Hervorbringung und Feinabstimmung die klügsten Köpfe der Menschheit fast 6000 Jahre lang gearbeitet haben, können wir nicht nur Buchstaben und Fakten von einem Faktengedächtnis auf das eigene übertragen.
Nein, das Lesen kann viel mehr bieten.
Pessoa sagt: „Die Literatur ist die angenehmste Art und Weise, das Leben zu ignorieren“, aber ich finde, dass sie die angenehmste und völlig nebenwirkungsfreie Art ist, das Bewusstsein zu erweitern. Wenn strenge Naturwissenschaftler davon sprechen, dass Zeitreisen derzeit leider noch unmöglich seien, verstehe ich sowohl, was sie meinen, wie ich es gleichzeitig für falsch halte.
Allein schon die Klage darüber bedeutet eine Reise in die Zukunft. Denn der Mensch ist das einzige Tier, dass sich Dinge vorstellen kann, die es noch nicht gibt, wie fliegende Jungen oder Zeitreisen.
Es gibt kaum etwas Einfacheres als das Reisen in der Zeit, jede Bibliothek lädt jederzeit dazu ein. Und das meine ich vollkommen ernst, denn was könnte uns eine Zeitreise auf individueller Ebene geben außer dem Gefühl, mit unserem Bewusstsein in eine andere Zeit einzutauchen, unsere Empfindungen und Erfahrungen mit den Eindrücken und Erlebnissen aus einer anderen Periode der Menschheit in Beziehung zu setzen? Das ist neurologisch gesehen eine ebenso gute Beschreibung einer Zeitreise wie einer des Lesens. Beim Lesen schauen wir nicht zu, sondern tauchen ein.
„Als er in die Allee und in das steinerne Tor einfuhr, da hatte er die Empfindung, als komme er in ein verwunschenes, in einen Zauberschlaf versunkenes Schloss. Dieselbe Ehrbarkeit, dieselbe Sauberkeit, dieselbe Stille herrschte in diesem Haus wie ehemals: da waren noch dieselben Möbel, dieselben Wände, derselbe Geruch und dieselben furchtsamen Gesichter, nur dass diese noch etwas älter geworden waren.“ So beschrieb Lew Tolstoi vor 150 Jahren eine Begebenheit, die fünfzig Jahre zuvor ein junger Adliger in einem Schloss an der Smolensker Landstraße erlebt haben soll. Das Ganze ist hochgradig fiktional mit Bezügen auf noch ältere Märchen! Erfunden, wenn man so will, und doch können wir den Geruch in der Nase spüren und haben eine gute Vorstellung von den furchtsamen Gesichtern. Beim denkenden Lesen können wir eigene Assoziationsschemen aus unserem Langzeitgedächtnis aktivieren, mit unseren Leseeindrücken verbinden und so ein ganz und gar aktuelles Erleben haben. Wir haben auch nicht das Gefühl, mit Fakten aus der Vergangenheit überschüttet zu werden, sondern versinken glücklich in unserer Lektüre.
Und tatsächlich gelingen damit nicht nur Reisen in die Vergangenheit, sondern auch jene in die Zukunft.
Praktisch jeder Wissenschaftler, der an den Anfängen der Raumfahrt beteiligt war, hat sich auf literarische Vorbilder als Inspirationsquelle seines späteren wissenschaftlichen Schaffens bezogen.
Automatisch öffnende Türen, U-Boote, die Mondlandung und die parlamentarische Demokratie – sie alle existierten zuerst als Gedanken auf dem Papier, bevor die Menschheit sie in Realität umsetzte.
Denn das ist das direkte Ergebnis der Entwicklung der Sprache auf der Grundlage unseres außergewöhnlich großen Gehirns: Wir können Dinge in unserem Geist formen, bevor wir sie auf die Welt bringen.
Weil wir sie aber geformt haben, neigen wir dazu zu vergessen, dass diese Werkzeuge danach uns zu formen beginnen. Wir glauben, dass das, was wir geschaffen haben, uns Untertan bleiben muss, was nicht logisch ist.
Denn die Vorstellung, die ein sehr bekanntes Technologieblog formuliert, ist für viele von uns nicht sehr angenehm: Menschen seien bloß die Sexualorgane der Technologie.
Der Urzustand unseres Gehirns ist eine leichte Unkonzentriertheit. Führen wir diese Unkonzentriertheit, oder Neugier auf den Pfad des Lesens, wird unser Geist ganz von selbst Assoziationen herstellen, Zusammenhänge suchen, Bilder im Zusammenhang mit dem Gelesenen anbieten. Weil sich aber unser Gehirn in den letzten 40 – 50.000 Jahren nicht wesentlich geändert hat, das Gehirn also nicht für das Lesen oder Schreiben gemacht wurde, nutzen wir dafür Bahnen, die eigentlich für anderes angelegt sind. Die Neurone, die wir beim Lesen nutzen, dienen bei anderen Arten der Verbindung von Sinneswahrnehmungen mit Konzepten, zum Beispiel der Verbindung bestimmter Fußabdrücke mit Gefahr, dem Anblick der einen Früchte mit Sättigung und dem anderer Früchte mit Übelkeit. So können wir das Lesen auch wunderbar mit dem Langzeitgedächtnis in Verbindung bringen.
Der Stand der Hirnforschung ist schnell zusammengefasst: Unser Gehirn ist plastisch formbar, aber nicht elastisch dehnbar. Das heißt, in sechstausend Jahren Forschung und Entwicklung haben wir Mittel entwickelt, unserem Gehirn das Lesen beizubringen. Und wir können bestimmte Bahnen dazu heranziehen, Bahnen die optische mit akustischen Hirnarealen verbinden, für motorische Aufgaben vorgesehene Gebiete mit solchen des Langzeitgedächtnisses. Und weil Gehirne gern Bahnen benutzen, die gut trainiert sind, entwickeln sich diese Fähigkeiten besser und besser.
Wie gesagt, dafür dass unser Gehirn nicht für das Lesen gemacht ist, haben wir es zu erstaunlicher Meisterschaft darin bringen können. Durch das Lesen können wir uns mit den klugen und weniger klugen Menschen der vergangenen Jahrtausende über Kontinente hinweg in eine ungeheuer direkte Verbindung bringen. Wir können Gedanken längst verstorbener Mathematiker aufgreifen, um Lösungen für Geräte zu konzipieren, von deren Existenz die Lösungsgeber nicht den Hauch einer Ahnung haben konnte. Und während die sumerischen Gelehrten noch Jahre brauchten, um ihre Keilschrift zu erlernen, können wir heute schon Kindern im Grundschulalter die Kunst des denkenden Lesens vermitteln.
Aber all das folgt keinen genetischen oder anders vorgesehenen Bahnen. Unser Gehirn kann lernen, ebenso wie es verlernen kann. In einer berühmten Studie wurde in den neunziger Jahren gezeigt, dass bei Taxifahrern ein bestimmtes Gehirnareal für das räumliche Vorstellungsvermögen überdurchschnittlich groß entwickelt war. Die Bahnen waren häufig genutzt und dadurch gut entwickelt. Zwanzig Jahre später konnte dieser Befund nicht wiederholt werden, schließlich hatten die Taxifahrer jetzt Navigationsgeräte.
Sollte das Navi aber eines Tages ausfallen, ist es nicht so, dass der posteriore Hippocampus dieser Taxifahrer sich plötzlich aufblasen würde. Das würde einerseits in unserem engen Schädel zu unglaublichen Kopfschmerzen führen und andererseits funktioniert unser Gehirn nicht so. Nichts ist gegeben, einfach da, für immer, jede Plastizität ist schwer erarbeitet und bleibt nur durch fortwährendes Training erhalten.
Deswegen reicht es nicht, dass Kinder einmal denkend gelesen haben, sie würden davon profitieren, diese Stärke dauerhaft aufrecht zu erhalten. Diese Erkenntnis kann man natürlich nur vermitteln, wenn man selbst die Kunst des denkenden Lesens praktiziert und nicht, in dem man die Kinder mit scharfen Worten auffordert, das zu tun, wofür Mami und Papi leider keine Zeit haben.
Unser Gehirn ist leider nicht wie ein Haus, das – einmal gebaut – ein Leben lang halten wird. Es funktioniert viel mehr so wie Camus den glücklichen Menschen Sisyphus beschreibt: „ [… ] überzeugt vom ganz und gar menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ein Blinder, der sehen möchte und weiß, dass die Nacht kein Ende hat, ist er immer unterwegs. Noch rollt der Stein.“
Früher wurde das menschliche Gehirn meist mit einer Maschine verglichen, heute wird es wie selbstverständlich mit einem Computer verglichen.
Nun gut, man kann Äpfel und Birnen hervorragend miteinander vergleichen, man darf sie nur nicht miteinander gleichsetzen. Denn eine Metapher ist nur eine Veranschaulichung einer deutlich komplexeren Realität, wir dürfen sie nicht mit der Realität verwechseln. Und so selbstverständlich, wie man eine Baumkrone nicht einschmelzen kann und bei einem Wüstenschiff keine Ruder suchen wird, so unsinnig wäre es zu glauben, dass unser Gehirn nichts als ein Computer ist.
Das Gehirn hat die Begrenzung seines Arbeitsgedächtnisses, dessen was wir als unser waches Bewusstsein wahrnehmen. Tatsächlich können wir uns nur etwa acht Dinge gleichzeitig in dieses Arbeitsgedächtnis rufen und erleben diese Beschränkung häufig als Hindernis. Doch dafür ist unser Langzeitgedächtnis nach Auffassung von Hirnforschern geradezu unbegrenzt groß und wir können hier riesige Mengen von Dingen speichern und zwar gerade nicht nur Fakten, Worte und Zahlen, sondern Gefühle, Sinneseindrücke und Erlebnisse, auf die wir bei gutem Training wieder zurückgreifen können.
Je mehr wir in diesem Langzeitgedächtnis speichern, desto besser ist das für uns. Wenn wir weniger dort speichern, führt das nicht dazu, dass stattdessen Platz für anderes in unserem Gehirn wäre, ganz im Gegenteil, wir können schlicht weniger. Wenn wir „Die Glocke“ auswendig gelernt haben, fällt es uns leichter, auch noch den „Osterspaziergang“ zu erlernen und dann sogar noch leichter, den „Handschuh“ und den „Taucher“ dazu zu nehmen.
Unser Gehirn ist keine Immobilie mit begrenzter Lagerfläche, sondern ein dynamisches Körperteil. Niemand würde einem Kugelstoßer raten, die Beine weniger zu nutzen, damit seine Arme stärker werden.
Dabei kommt es übrigens keinesfalls darauf an, das Gehirn möglichst vielen Fakten oder Eindrücken auszuliefern, sondern diese in einem komplexen Prozess von Information und Kontemplation zu verinnerlichen. In Experimenten konnte bewiesen werden, dass weder die reine Kontemplation noch die reine Information zu einem Wissenszuwachs führen.
Sie ahnen bereits, was die perfekt auf unser Gehirn abgestimmte Methode für den Wissenszuwachs der Menschheit ist, die im Lauf der letzten 6000 Jahre von ihren klügsten Köpfen entwickelt wurde. Ich glaube, ich habe sie in den letzten Minuten das eine oder andere Mal erwähnt.
Von den in den Vogesen freigelassenen Luchsen wurden drei Tiere nach ungefähr einem halben Jahr in der Wildnis wenige Kilometer vom Ort ihrer Freilassung aufgefunden, von Wilderern erschossen. Drei weitere Tiere waren nicht mehr auffindbar, die Forscher hielten es für mehr als wahrscheinlich, dass auch sie Wilderern zum Opfer gefallen waren. Zwei der Luchse begaben sich sieben, beziehungsweise acht Tage nach ihrer Freilassung wieder zurück in das, was menschliche Gefangenschaft genannt wird. Sie waren nicht in der Lage, sich in den mit Beute übervollen Wäldern der Vogesen selbst Nahrung zu erjagen und wurden an Zoos verkauft. Bei einem Weibchen konnte nach 31 Tagen nur noch der Tod durch Unterernährung festgestellt werden.
Durch ihr Leben in Gefangenschaft hatten die Luchse ihre Fähigkeiten zum Überleben in der Wildnis eingebüßt. Sie vertrugen sich viel besser mit ihrem Hauptfeind, dem Menschen, als dies wilde Luchse tun, dafür waren sie nicht mehr in der Lage, sich in einem natürlichen Revier Nahrung zu besorgen oder vor ihren Feinden zu schützen. Die Hälfte der Luchse konnte das Leben in ihrer Freiheit, die Wildnis heißt, nicht mehr überleben.
Ich danke Ihnen herzlich und freue mich auf unsere Diskussion bei dem schönen Wein, denn wir befinden uns hier auf St. Bartholomä und der Heilige Bartholomäus ist schließlich auch der Schutzpatron der Winzer!