Dr. h.c. Lord Stephen K. Green of Hurstpierpoint
„Der Brexit und die britische Identität“
Vielen Dank für die sehr große Ehre dieser Einladung! Hier zu stehen, unter diesem mittelalterlichen Dach erinnert mich an des Dach der Westminster Hall in London, so dass ich mich gleich ein wenig zu Hause fühle hier in Bremen. Ich möchte über den Brexit und die britische Identität und über die Auswirkungen auf die Deutsche Rolle in Europa sprechen.
Der 24. Juni 2016 ist ein Tag, den ich den Rest meines Lebens nicht vergessen werde. Ich wachte an jenem Freitagmorgen nach dem Brexit Referendum sehr früh auf. Die Nachrichten waren ein tiefer Schock, und an Schlaf war sofort nicht mehr zu denken. Und viele meiner Bekannten waren ebenso erschrocken wie ich. Sie und ich hatten für Remain gestimmt – wollten in der EU bleiben (obwohl uns völlig bewusst war, dass der Zustand der real existierenden EU keineswegs zufriedenstellend war und ist).
Während der darauffolgenden Tage war die Stimmung – meine eigene und um mich herum – eine wirbelnde Mischung aus Unglauben, Bestürzung und Wut. Sogar die ‘Leavers’ unter meinen Freunden und Bekannten waren überrascht. Und es wurde sehr schnell klar, dass kaum jemand, weder in der Wirtschaft noch innerhalb der Britischen Regierung eine Ahnung hatte, was Brexit eigentlich genau bedeuten würde. Eine Weile lang steckten einige Remainer, die in der Niederlage so leidenschaftlich waren wie kaum zuvor während der Kampagne, ihre Hoffnungen in eine Online Petition für ein neues Referendum, das vier Millionen Unterschriften in nur zwei Tagen generierte. Einige hoffen immer noch darauf, dass es am Ende doch nicht zu einem wirklichen Brexit kommen wird – dass man sich auf ein neues Abkommen einigt, welches das Konzept und die Struktur der EU im Interesse aller Europäer ändern würde, und somit eine fortgesetzte britische Mitgliedschaft auf einer für die Briten akzeptableren Basis ermöglicht.
Wieder andere – sowohl Leaver, die sich Sorgen machten, ob sie wirklich das Richtige für ihre Kinder getan hatten (wie ein Vater eines neunjährigen Kindes mir gestanden hatte), als auch Remainer, die erleichtert darüber waren, dass der Himmel zumindest bisher noch nicht über ihnen hereingebrochen ist – zeigen eine neue Entschlossenheit. Sie haben sich wieder etwas entspannt, fühlen sich wohler angesichts der neuen Realität, und sind optimistischer geworden, dass Großbritannien einen vernünftigen modus vivendi mit seinen europäischen Nachbarn finden und sich mit Stärke und Zuversicht auf der Weltbühne behaupten wird.
Wir werden sehen. Vieles was im Laufe der Kampagne vor dem Votum gesagt wurde, war ein Missklang aus Übertreibungen und Lügen, manches davon wirkt noch schmerzhaft nach. Wenig davon wurde der Komplexität der Entscheidung für oder gegen eine Mitgliedschaft in der EU gerecht – eine Entscheidung, die zwangsläufig vielschichtig war, und Themen wie Souveränität, Migration und Grenzkontrolle, wirtschaftliche Beziehungen und Weltpolitik beinhaltete. In variierenden Abstufungen von Klarheit und Betonung waren Fragen zu all diesen Themen Teil der nationalen Diskussion vor der Abstimmung. Keine dieser Fragen ist verschwunden, geschweige denn durch das Referendum ein für alle Mal gelöst. Das einzige Ergebnis ist, dass der Status Quo Ante beendet wurde. Jetzt befinden wir uns in einer Art Fegefeuer, das gut und gerne ein paar Jahr andauern könnte. ‚We are where we are: we just don‘t know where that is!‘ – um die Worte eines ehemaligen Politikers zu zitieren.
Ich will heute nicht die verschiedenen Optionen für die neuen, zukünftigen Beziehungen der Briten mit der EU besprechen. Wie auch immer das Ergebnis der Verhandlungen letztendlich aussehen wird, möchte ich uns lieber zwei kritischen Frage stellen: Was sagt das Referendum über die britische Gesellschaft aus? Und welche sind die Auswirkungen für die Rolle Deutschlands im zukünftigen Europa?
Zuerst: zu dem Zustand der britischen Gesellschaft und der Britische Identität. Warum eigentlich war es ein Schock für die meisten? Für einen Remainer wie mich war es sicherlich eine Enttäuschung. Und ich muss zugeben, dass es auch eine Überraschung war, weil ich am Abend zuvor mit dem Gedanken ins Bett gegangen bin, dass über Nacht schon alles gut gehen würde. Aber warum dieser tiefgehende Schock? Denn die Umfragen hatten klar gezeigt, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben würde. Das Ergebnis war vollkommen innerhalb der Erwartungen – innerhalb der Fehlerspanne jeder Umfrage während der vorhergehenden zwei oder drei Wochen zumindest.
Es war ein Schock, weil wir nicht verstanden hatten, wie gespalten das Land war. Alt gegen jung, provinziell gegen städtisch, Schottland, London und einige anderen Großstädte gegen den Rest von England und Wales. Das Gesamtergebnis war knapp; aber wenige der Ergebnisse per Wahlkreis lagen nah zusammen – die überwiegenden Mehrheiten gingen stark in die eine oder die andere Richtung. Mehr als alles andere hat dieses Referendum das Ausmaß der Unterschiede offenbart, zwischen dem britischen Etablissement auf der einen Seite – hierzu zähle ich Westminster und Whitehall, die City, Unternehmer, Akademiker und die professionelle Mittelklasse – und einen großen Teil des restlichen Englands und Wales auf der anderen Seite. Und angesichts dieser Erkenntnis haben die Alarmglocken geläutet, und das sollten sie auch.
Es war auch ein Schock – es war sogar zutiefst beschämend – die Zunahme an rassistischen Übergriffen und Gewalttaten zu beobachten, die auf das Ergebnis folgten. Für mich war das nicht nur ein Fall von Statistiken und Medienberichterstattung: Ich kenne Menschen persönlich, die völlig unbegründet beschimpft wurden oder sich unbehaglich und nicht mehr willkommen fühlten – und das sind Menschen, die seitJahren in Großbritannien leben. (Aller Wahrscheinlichkeit nach war dies nur eine vorübergehende Reaktion: das macht es jedoch nicht weniger beschämend.)
Man lernt, indem man über die Vergangenheit nachdenkt, und indem man individuelle und kollektive Fehler eingesteht. Es gibt viel Spielraum für Debatten darüber, welche Fehler es wirklich waren. Sie beinhalten sicherlich alle Versäumnisse einer Gesellschaft, die große Ungleichheiten hinsichtlich der Lebenschancen aufweist, und in der sehr viele Menschen sich ungemein weit entfernt fühlen von der vergoldeten, globalisierten Weltmetropole und von den Kulissen der Macht. Die Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten Jahre hat sicherlich hierbei eine Rolle gespielt – und Banker, von denen ich einer war, haben in dieser Geschichte viel wieder gutzumachen.
Aber tiefgreifender noch sind die Versäumnisse – hinsichtlich der Investitionen in die gesellschaftliche Zukunft – vor allem hinsichtlich von Bildung und Ausbildung zur Verbesserung von Entwicklungsmöglichkeiten. Schändlicher Weise belegt Großbritannien, das einige der besten Universitäten der Welt aufweisen kann – einschließlich vier der besten zehn weltweit – auch einen der hintersten Plätze im OECD Vergleich im Lesen, Schreiben und Rechnen. Wirtschaftlich haben wir von einem Wachstumspfad profitiert, der dem Staat erlaubt hat, über seine Verhältnisse zu leben, indem er ein riesiges Handelsdefizit angehäuft hat, und – in Abwesenheit fast jeglichen Produktivitätswachstums im letzten Jahrzehnt – fanden wir es einfach, Fachkräftemangel mit Hilfe von Immigration auszugleichen. Die Wachstumsraten sind zufriedenstellend gewesen, die Arbeitslosigkeit bleibt sehr niedrig – aber so gut wie alle neuen Jobs, die in den letzten paar Jahren geschaffen wurden, sind von Ausländern besetzt worden.
Zweitens sollten wir auch die Kurzsichtigkeit und strategische Versäumnisse der britischen politischen Klasse (aller Farben), seit den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg beachten. Als sich die Väter des europäischen Projekts nach der zurückliegenden Katastrophe daran gemacht haben, eine neue europäische Ordnung zu schaffen, waren die damaligen britischen Staatsmänner – Churchill, aber auch Attlee – im Bann eines fortdauernden Glaubens an die Dauerhaftigkeit des Britischen Einflusses auf der Weltbühne – eine Sonderrolle (man könnte es vielleicht sogar als Sonderweg beschreiben?) als Nachlass des Britischen Empires. 1946, inmitten der Kriegsruinen, schlug Churchill die Vereinigten Staaten von Europa vor – aber er hatte nie erwartet, dass Großbritannien selbst beitreten würde.
Wie anders hätten die Strukturen ausgesehen, aus denen die – von so vielen Briten gehasste – EU erwuchs? Wie viel besser hätten sie aussehen können, wenn Großbritannien sich von Anfang an mit ganzem Herzen eingesetzt hätte – wenn Großbritannien an Gestaltungsgesprächen teilgenommen hätte, zu einer Zeit als Großbritanniens Einfluss noch relativ stark war. Wie viel besser für Europa; wie viel besser die Optionen auch für die Briten selbst gewesen wären.
Aber zu jener Zeit waren die Briten noch auf das Empire fixiert. Churchill fasste es bereits 1943 zusammen, als er den berühmten Satz im Parlament sagte, er sei ‘nicht der Prime Minister seiner Majestät geworden, um über die Auflösung des Britischen Empire zu präsidieren’. Das Empire hat sich in der Tat innerhalb der darauffolgenden zwei Jahrzehnte aufgelöst – und, in den meisten Fällen auf eine relativ ordentliche und gut geführte Art und Weise. Aber das Gefühl, eine Großmacht mit globaler Reichweite und Einfluss zu sein, blieb – und ist bis heute lebendig.
Was mich zu einer noch grundlegenderen Frage führt, die wir uns stellen müssen. Denn wenn wir uns nur auf die Grundsätze und Praktiken des britischen Etablissements in den vergangenen Jahrzehnten konzentrieren – so wichtig wie sie ohne Zweifel sind – dann unterschlagen wir einige der unbequemsten Wahrheiten über uns. Denn was in all dem Lärm und Gewüte der Brexit Debatte untergegangen ist, war die Frage nach der Identität. Sehen sich die Briten als Europäer, und wenn ja, sehen sie ihr Schicksal eingebunden in das der Europäischen Union? Oder ist Großbritannien dieses einzigartige Land, das im tiefsten Sinn anders ist, und das absolut dazu in der Lage ist, seinen eigenen Weg in der Welt zu finden? Wer sind wir, die wir uns Briten nennen?
Und um eine solide Antwort auf diese wichtigste aller Fragen zu finden, müssen wir uns mit etwas entschieden Unbequemem konfrontieren. Ich glaube, wir Briten sind nicht vollkommen ehrlich mit unserer Vergangenheit umgegangen. Ob britische Individuen sich als Teil des Etablissements begreifen, oder ob sie sich von ihm entfremdet fühlen und ihm gegenüber Misstrauen empfinden – so oder so haben zu viele Briten zu lange mit dem vagen Gefühl gelebt, dass wir stolz auf unsere Geschichte sein können, und auf die Rolle, die Großbritannien in der europäischen und in der Weltgeschichte gespielt hat.
Und in der Tat, es gibt vieles, auf das die Briten stolz sein können: Ja, wir widerstanden 1940 als einzige dem Grauen des Dritten Reiches. Ja, wir brachten Napoleons übertriebenen Ehrgeiz in Waterloo zum Erliegen (wenn auch mit der wichtigen Hilfe der Preussen). Ja, es waren die Briten, die den Kampf gegen den Sklavenhandel anführten. Und ja, wir hatten seit dem Unterschreiben der Magna Carta eine sich kontinuierlich entwickelnde Konstitution, die uns die ‚Mutter aller Parlamente‘ gegeben hat. Ja, unser Rechtssystem, über Jahrhunderte hinweg weiterentwickelt und aufrecht erhalten von einer unabhängigen Jurisdiktion, ist – in den Worten des berühmten (halbdeutschen) Operetten-Autoren W.S. Gilbert, die viele Briten auswendig kennen – ‚The Law is the true embodiment of everything that‘s excellent‘. Ja, wir sind die Erben von Shakespeare, und unsere Sprache wurde zur Weltsprache.
Aber Fakt ist, dass andere Dinge ebenfalls in Betracht gezogen werden müssen. Denn Großbritannien war auch das Land, dessen Außenpoli-tik ab dem 19. Jahrhundert mit einem Selbstverständnis betrieben wurde, das – aus heutiger Sichtweise – nur als atemberaubende Arroganz und Egoismus beschrieben werden kann. Wie beurteilen wir das bekannte Zitat Lord Palmerstons, nämlich dass Großbritannien keine permanenten Allianzen eingehe, sondern nur permanenten Interessen nachgehe? Das war nicht nur in sich selbst falsch (er definierte die britische Präsenz in Indien als permanentes Interesse), doch auch genereller: es reduziert alle internationalen Beziehungen zu reinen Verträgen. Um wie viel weiser (und in der Tat, ironischerweise passender in diesem Kontext), waren die berühmten Worte des Englischen Klerikers und Dichters John Donne mehr als zweihundert Jahre früher: ‚No man is an island entire of itself, but everyman is a piece of the continent…‘ (Kein Mensch ist eine Insel für sich allein, jeder Mensch ist Teil des Kontinents). Er meinte dies im Kontext individueller menschlicher Beziehungen; er wollte sagen, dass wir nicht nur autonome Individuen, sondern tief miteinander verbunden sind, dass wir, mit seinen Worten – ‘in die Menschheit involviert sind’ (‘involved in mankind’). Doch als Individuen sind wir auch Mitglieder von Gemeinschaften, von Gesellschaften und Bürger von Nationen. Was er sagt, trifft nicht nur auf Individuen zu, sondern auch auf die Gemeinschaften, die Gesellschaften, die Nationen, zu denen wir gehören.
Um den Dingen noch mehr auf den Grund zu gehen: woher kommt die Idee von Großbritannien selbst eigentlich? Antwort: es war die absichtliche und künstliche Schaffung eines Etablissements im 18. Jahrhundert – von Engländern und Schotten gemeinsam durchgeführt. Niemand hatte sich zuvor als britisch betrachtet. Das Wort findet man nicht in Shakespeare. Vor der Zeit der Hannoverschen Könige waren die Monarchien die separaten Königreiche von Schottland und England. Danach erst nannten die Monarchen sich Könige von Großbritannien. Dieses neues Konzept war eine Tendenz – man kann es sogar eine Strategie nennen – die zu einer Überzentralisierung nationalen Lebens in London führte – und das die schottischen und irischen Parlamente außer Kraft setzte.
Das war sicherlich der Anfang einer sehr lebhaften Zeit – eine Zeit des industriellen Erfindertums, wissenschaftlichen Fortschritts, aufgeklärter Philosophie, missionarischen Eifers und Handels. Britische Energie brachte Erfolg, und Erfolg brachte Stolz in eine Marine mit globaler Reichweite, die britische Interessen durchsetzte und schützte.
Und Britannia wurde zum Symbol für den Imperialismus des 19. Jahrhunderts, dessen Erfolgsgeschichte um einiges gemischter ist, als viele von uns gerne zugeben würden. Jeder Inder oder Chinese zum Beispiel kann die Vergesslichen unter uns an einige der düstereren Episoden jener Zeit erinnern. Die Opiumkriege sind einige der berühmtesten und beschämendsten Beispiele – die Briten erinnern sich nicht gerne an diese Zeit: die Chinesen vergessen sie niemals. Gleichermaßen ist die Geschichte des britischen Eingreifens in die Angelegenheiten des Nahen Ostens seit Beginn des 20. Jahrhunderts voll von Zynismus und Falschheit – und nicht zu vergessen auch Momenten schlichter Torheit.
Und als ob das nicht genug wäre, müssen wir uns daran erinnern – jetzt wo wir uns um die Zerbrechlichkeit des Vereinten Königreichs sorgen und vor einem möglichen Wegbruch Schottlands fürchten müssen – dass das Vereinte Königreich schon einmal auseinandergebrochen ist. Irland war letztendlich Großbritanniens längste und negativste Kolonialerfahrung. Keiner kann die Gier, Arroganz und oft offene Brutalität im Verhalten von englischen und schottischen Interessen in Irland in den 400 Jahren bis zum Ersten Weltkrieg betrachten, ohne Scham und Traurigkeit zu verspüren. Es ist schockierend, wie wenig Beachtung den Auswirkungen des Referendums auf Irland während der Debatten geschenkt wurde. Vieles hat sich natürlich in den letzten 400 Jahren geändert. Besonders da die EU Irland einen neuen Platz in der Welt und neues Selbstbewusstsein gegeben hat.
Und das Friedensabkommen in Nordirland pflanzte einen neuen, verwundbaren Baum der Hoffnung, der ständig beschützt und gepflegt werden musste. Und doch behandeln die Briten die Irische Insel immer noch nur als Nebengedanken.
All das scheint uns sehr weit weg von der Brexit Frage zu führen. Tut es in Wirklichkeit aber nicht. Wir leben immer noch mit den Konsequenzen – im Glauben, dass wir aufgrund unserer Geschichte eine besondere Rolle in der Welt spielen, und für die uns weltweite Bewunderung zusteht. Genauso wie wir mit dem leben, was das Abstimmungsergebnis uns über unsere Gesellschaft verraten hat, leben wir mit dem, was es uns außerdem vor Augen gehalten hat – wie wir eigentlich mit unserer Vergangenheit umgehen.
Das scheint vielleicht ein harscher Schuldspruch gegenüber den Briten zu sein. Aber wenn es um unsere individuellen Lebensansichten geht, wissen wir, wie weit spirituelle Reife mit ehrlicher Selbstanalyse, Erkenntnis und Erneuerung einhergeht. Ich denke, das trifft auch auf Nationen zu. Andere europäische Nationen haben natürlich Gründe genug dem zuzustimmen. Aber die Briten ebenfalls. Brexit ist einer dieser geschichtsträchtigen Scheidewege, die uns die Möglichkeit zur Reflexion geben, was hoffentlich Selbsterkenntnis und eine erneute Verpflichtung für das Allgemeinwohl zur Folge hat. Dies ist also nun die Herausforderung für die Briten: ehrlich gegenüber unserer Geschichte zu sein, in unser Volk zu investieren, gute Nachbarn innerhalb Europas und offen gegenüber der Welt zu sein.
Und was bedeutet all das für Deutschland – um zu meiner zweiten Frage zu kommen? Ich möchte – wenn Sie es mir erlauben – diese Frage stellen, nicht aber um die Rolle und Stellung Deutschlands in den zukünftigen Verhandlungen mit Großbritannien zu diskutieren. Viel mehr möchte ich die Konsequenzen für das gesamte Europäische Projekt und dadurch für die Rolle Deutschlands in Europa allgemein in der nächsten Generation analysieren. Aus dieser Perspektive stellt die britische Entscheidung eine bedeutend große Herausforderung dar; der Ernst der Lage wird erst nach und nach während der kommenden Jahrzehnte ersichtlich werden. Für Deutschland bedeutet dies eine besondere Herausforderung.
Denn jetzt wird Deutschland sich an die Rolle des selbstverständlichen Anführers gewöhnen müssen – die des „zögernden Meisters“ – im neuen Europa. Aber dieses Europa ist keineswegs mit sich zufrieden. Europa befindet sich derzeit in einem langfristigen, relativen Rückgang. Es ist nicht mehr der energische, ehrgeizige und aggressive Kontinent der es einmal war, als die Portugiesen, Spanier, Holländer, Franzosen und Briten die Ozeane durchquerten, um zu plündern, Handel zu treiben und zu kolonisieren. Und es ist nicht länger die vorderste Front zwischen zwei globalen Atommächten im Kalten Krieg. Es hat sich aus dem selbstdefinierten Zentrum der Welt zurückgezogen, um zu dem zurückzukehren, was es bis zum fünfzehnten Jahrhundert gewesen war – eine Ecke der eurasischen Landmasse. Europa bleibt fruchtbar, bevölkerungsreich und wohlhabend, ist jedoch zutiefst verunsichert über seine Identität und seine Zukunft.
Denn seit dem epochalen Jahr 1989 wurde durch den Aufstieg Asiens eine neue, historische Verschiebung des Zentrums der geopolitischen Schwerkraft vorangetrieben. Das Wiederaufleben Chinas als Großmacht, und die Modernisierung vieler Asiatischer Staaten, bildet einen scharfen Kontrast zur nachhaltigen Stagnation in den alten Volkswirtschaften Westeuropas. Europas Antwort auf die neuen Realitäten war bisher nicht sonderlich beeindruckend. Die Situation wurde zunächst erschwert durch die Komplexität einer Union, deren schwerfällige Strukturen nach Reform rufen; doch die EU war zu lange durch die Euro Krise abgelenkt. Und in den vergangenen Jahren hat die Flüchtlingskrise, hervorgerufen durch Aufruhr und Tragödie in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, die Europäische Gemeinschaft stark belastet, zum einen physisch und – umso wichtiger – kulturell. Und letztendlich fordert der Brexit den Glauben an den kontinuierlichen Fortschritt des Europäischen Projektes heraus, indem es an seinen Fundamenten rüttelt.
Was ist, letzten Endes, das ultimative Ziel des Europäischen Projektes? Diese Frage enthüllt die Divergenzen und die fragmentäre Identität Europas. Am einen Ende des Spektrums befinden sich die Briten, die nie mehr als den gemeinsamen Markt gewollt hatten, und die sich jetzt aus der Union zurückziehen. Am anderen Ende sind einige wahre Gläubige, welche die politische und ökonomische Integration auf der Basis eines zunehmend harmonisierten sozio-okönomischen Modells als sowohl unumkehrbar als auch für erstrebenswert erachten. Aber die meisten Menschen in Europa befinden sich auf einem konfusen Mittelweg: niemand möchte zur alten Welt der europäischen Machtpolitik und Rivalitäten zurückkehren. Aber niemand mag Brüssel. Und wenn sie es sich eingestehen, ist vielen Menschen beim Gedanken mulmig zumute, was gerade mit ihren kulturellen Identitäten passiert. Dieses Unbehagen wirkte sich auf die Brexit Entscheidung aus; es treibt die Leidenschaft der polnischen und ungarischen Regierungen an; und es liegt der französischen Sorge über die Integration des Islams in ihrem Land zugrunde. Und es ist natürlich auch die Wurzel des Ressentiments, das den Aufstieg der AfD begünstigt hat.
Der Brexit ist das größte politische Erdbeben, das Europa seit der Wiedervereinigung 1989 erschüttert hat. Manche fürchten, dass es zum Zusammenbruch des Vereinigten Königreichs führen wird; andere vermuten, dass die Nachbeben sogar zur Spaltung der EU führen könnten – zur Auflösung des gesamten europäischen Nachkriegsprojektes. Nichts von dem ist unmöglich – wenn auch letzten Endes nicht wahrscheinlich. Aber es bedeutet sicher, dass die gesamte Machtbalance in Europa sich fundamental verschoben hat; und während Europa dabei ist, sich an die neue Realität anzupassen, wird Deutschlands führende Rolle immer offensichtlicher, und immer herausfordernder. Die Briten müssen den Scheideweg Brexit benutzen als Gelegenheit für Reflexion über ihre Geschichte und ihre Identität, um ihre Zukunft auf solidere Basis zu bauen. Ich bin auch der festen Meinung, dass auch die EU diesen Scheideweg benutzen sollte, die Herausforderung radikaler Reform ins Auge zu fassen. Sonst wird das Risiko einer existentiellen Katastrophe nach und nach wachsen. Eins ist sicher: wenn Reform überhaupt möglich ist, wird der „zögerliche Meister“ – der größte Mitgliedstaat, Zentrum Europas – es nicht vermeiden können, die führende Rolle in einem solchen Reformprojekt zu übernehmen. Es heißt auch, dass die Briten herausfinden müssen, wie sie das Unvermeidliche am besten angehen können – eine neue Basis für die Beziehung mit Europa zu finden, was aufgrund der geographischen, historischen und kulturellen Realitäten, die uns verbinden, essentiell ist.
Wer weiß, was am kommenden Sonntag passieren wird? Werden die Italiener die nächste europäische Krise auslösen?
Es ist sicherlich wahr, dass das neue Deutschland sich innerhalb einer immer enger zusammenwachsenden Europäischen Union wohler fühlt als die meisten der übrigen Mitgliedsstaaten. Für die Franzosen sowie für die Briten stellte die Frage nach einer europäischen Identität schon immer eine größere Herausforderung dar. Die Franzosen haben sich traditionell immer als das Zentrum des Europäischen Projekts gesehen, und hätten es am liebsten, wenn jedwede europäische Identität einen französischen Stempel trüge. Die Briten waren schon immer lauwarm gegenüber ihren Verwicklungen in die Sachen des Kontinents. Nur die Deutschen haben sich im ‘Europäischen Haus’ zu Hause gefühlt – teils aufgrund ihrer tiefgehenden Reaktion auf den Nationalismus ihrer Nazi Vergangenheit. Aber teilweise auch, weil sie sich für mehr als tausend Jahre an sich gegenseitig überlagernde Identitäten, übernommen aus den Tagen des Heiligen Römischen Reiches, gewöhnt haben – verwurzelt in dem wichtigen Heimat-Begriff, verwurzelt auch in einem starken regionalen Bewusstsein, und gleichzeitig bewusst Teil einer weiter reichenden deutschen Kultur.
Doch nun sieht sich dieses neue europäische Deutschland seiner bisher größten und existentiellsten Herausforderung gegenüber. Der Abgang Großbritanniens als einer der drei führenden Mitgliedstaaten der EU hat, was ein stabiles (und meistens konstruktives) Dreieck war, durch eine Achse ersetzt – von der ein Ende deutlich schwächer ist als das andere. Alle Straßen führen jetzt also nach Berlin. Die Chinesen verstehen voll und ganz, dass Deutschland strategisch ihr wichtigster Partner in Europa ist. So auch die Russen. So auch – obwohl sie vorsichtig sind, die Empfindlichkeiten in London und Paris nicht zu verletzen – die Amerikaner.
Also was liegt vor diesem europäischen Deutschland? Die Wahlen im kommenden Jahr werden die bisher stabile politische Landschaft der Bundesrepublik sicherlich fragmentierter hinterlassen als je zuvor. Ich wage keine Prognosen über das Ergebnis, natürlich. Aber der Anstieg der Alternative für Deutschland erinnert uns daran, dass eine beträchtliche Minderheit der Deutschen sich bedroht von all dem fühlt, und Unbehagen gegenüber Deutschlands neuer europäischer Identität verspürt. Und viel verbreiteter noch ist das Denken, dass Deutsche ungern der Zahlmeister der Eurozone sein wollen.
Viele Gewitterwolken sind am Horizont zu sehen. Und Tatsache ist, dass Deutschland sich einsamer auf der Kommandobrücke wiederfinden wird. Doch es ist sich mit jeder Faser seines modernen Daseins bewusst, dass es kein Zurück auf dem europäischen Weg mehr gibt. Wie wird die Struktur des neuen Europas also aussehen? Das Projekt hat sich über die vergangenen sechs Jahrzehnte nicht nach einem klaren Konzept entwickelt, sondern in eine generelle Richtung, über die nicht immer Konsens herrschte, und mit einem erheblichen Anteil an Improvisation. Die Zukunft wird ähnlich aussehen. Irgendwie erinnert die Union an eine dieser großen Kathedralen des europäischen Mittelalters: Diejenigen, die das Fundament legten, wussten, dass sie die Fertigstellung des Bauwerkes nicht mehr erleben würden, und sie wussten auch, dass sich die Gestaltung über mehrere Generationen hinweg weiterentwickeln würde. Einige dieser Kathedralen stürzten zusammen, weil sie zu ambitioniert waren. Andere blieben Hunderte von Jahren unvollendet (allen voran der Kölner Dom). Wieder andere wurden überhaupt nicht fertiggestellt. Viele haben die Gemeinden, die den Bau in Auftrag gaben, beinahe finanziell ruiniert. Doch einige wurden zu Bauwerken, die die Vorstellungskraft jener übertrafen, die mit dem Bau begonnen haben.
Dies erinnert uns an das europäische Projekt. Die Europäer arbeiten nun schon an die 60 Jahre daran: es hat sich über Jahre entwickelt; und offensichtlich ist der Weg zum Ziel noch weit. Wir werden in unserer Lebenszeit das fertige Produkt nicht erleben.
Wird es funktionieren? Wird Europa es schaffen, ein flexibles, geschlossenes, wirtschaftlich starkes und kulturelles Gegenstück zu den neuen asiatischen Riesen zu werden? Die Antwort ist offen. Wird die Kathedrale zusammenbrechen? Wird Sie ihre Baumeister in den Bankrott treiben?
Die allgemeine deutsche Antwort tendiert ganz klar dahin, dass die Kathedrale all die Risiken und Mühen wert ist. Die Frage ist jetzt: wie viel länger wird diese Meinung noch von der weiten deutschen Öffentlichkeit unterstützt? Aber eins ist klar: Europa braucht Deutschland in seiner unumgänglichen Rolle als Baumeister – und brauch es mehr denn je. Und in der Tat, auch die Welt braucht dieses Europa, in dem Deutschland eine Schlüsselrolle spielen wird und muss. Denn letzten Endes ist Europa mehr als nur eine Regierungsstruktur. Und es ist sicherlich mehr als die aktuelle Sorge über die Eurozone, der Verlust von geopolitischem Einfluss oder die Ambivalenz der Briten. Denn Europa ist auch seine Geschichte – eine Geschichte, die sowohl erhaben als auch tragisch ist, und unendlich bewegend. Es ist auch ein Kontinent, dereine Schatzkammer der Schönheit ist – trotz all der Zerstörung, die er erlebt hat. Angefangen von seiner Eiszeitkunst, seiner neolithischen Keramik, über das klassische Griechenland und Rom, der Renaissance und den Romantikern bis zum heutigen Tag: Die Früchte des europäischen geistigen, philosophischen und ästhetischen Strebens sind, als Ganzes genommen, die reichsten, vielfältigsten, lebendigsten und grundlegendsten auf dem ganzen Planeten.
Das Ergebnis sind die europäischen Kernwerte, die im Laufe der Geschichte hart erarbeitet wurden. Diese gemeinsamen Werte sind das Erbe einer Tradition, die durch solche herausragende Persönlichkeiten wie Galileo, Erasmus, Descartes, Locke, Hume, Kant, Hegel und Darwin geprägt wurden – um nur einige zu nennen. Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven, und aus den vielen schmerzhaften Sünden heraus, die wir Europäer im Laufe der Generationen begangen haben, ist etwas zutiefst Wichtiges für die ganze Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts entstanden: die Verpflichtung zu Rationalismus, Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftlicher Effizienz und Fairness, soziales Mitgefühl, Fürsorge für unseren Planeten; und sogar das Gefühl, dass europäische Loyalität nicht der letzte Schritt oder die höchste Stufe der Identität sein kann – dass in einem aufstrebenden Sinne wir auch Weltbürger sind. Auch dies ist in den europäischen Werten inbegriffen: Auch das ist daher Teil des europäischen Angebotes an die Welt. All dies ist unsere Loyalität wert: All das ist die Basis für einen europäischen Patriotismus. Und – trotz all der Angst um die Zukunft – kein Mitgliedstaat räsoniert mit dieser Vision stärker als Deutschland. Und kein anderer europäischer Staat muss so tiefgreifend an die Bedeutung Europas und an seine unvermeidliche Verwicklung in Europa – in der Vergangenheit und in der Zukunft – erinnert werden wie Großbritannien.
Ruft eine ehrliche Reaktion auf den Brexit nach einer schmerzhaften Selbstreflexion der Briten? Ja, auf jeden Fall. Bringt Deutschlands führende Rolle in Europa eine besondere Verantwortung und Risiken mit sich? Ja, ebenfalls. Wird die Entwicklung Europas Deutschland verändern? Ja, selbstverständlich. Aber ich denke, die Antwort auf die Frage, ob Deutschland die Herausforderung annehmen wird, lautet eindeutig: Ja. Und ohnehin hat Deutschland auch keine andere Wahl. Man könnte es so zusammenfassen: es gibt keine Alternative für Deutschland.