Außer dem ZK der KPdSU, dem Kollegien von Mullahs und dem römischen Konklave, Gremien, zu denen mir ein Zugang notorisch verwehrt ist, ist das Bremer Tabak-Collegium die einzige größere Versammlung, skurriler Art – lauter schwarze Vögel – bei der die Anrede „Meine Herren“ angemessen und hinreichend ist. Ich werde Sie nun eine Dreiviertelstunde mit einem Vortrag peinigen oder Ihnen ein Schlafintermezzo nach und vor dem reichlich fließenden Alkohol verschaffen. Was ich Ihnen biete, ist akademisches Schwarzbrot. Aber Sie haben es ja nicht anders gewollt.
Über die Europäizität der Reformation möchte ich in doppelter Weise nachdenken. In einem ersten Schritt soll es darum gehen, inwiefern die Reformation in Europa wurzelte, in einem zweiten darum, inwiefern sie Europa veränderte. Am Schluss stehen einige bilanzierende Überlegungen.
Die europäische Resonanz auf Luther und die reformatorische Bewegung hing mit strukturellen Gegebenheiten des lateineuropäischen Geschichtsraumes zusammen. Darunter verstehe ich jenen Teil unseres heutigen Kontinents, der von der römischen Tradition bestimmt war, also West-, Nord-, Mittel- und Mittelosteuropa; seine Grenzen bildeten die von der Orthodoxie geprägten Länder und Landschaften – Griechenland, Serbien, Montenegro, Bulgarien, Rumänien, die Ukraine und Russland. Die Reformation war primär ein lateineuropäisches Ereignis; sie betraf die vom lateinischen Christentum geprägten Länder direkt oder indirekt und wirkte sich mittel- oder unmittelbar auch auf die außereuropäischen Gebiete aus, die unter deren Einfluss gerieten. Mit dem 16. Jahrhundert trat das lateinische Christentum in die Phase seiner bis heute anhaltenden globalen Ausbreitung ein.
Lateineuropa war von einigen prägenden kulturellen und religiösen Elementen bestimmt; dies war etwa der altrömische Grundsatz, dass eine einheitliche, das Gemeinwesen integrierende Religion unverzichtbar sei – die Religion als vinculum societatis, als Band der Gesellschaft; die lateinische Sprache in der gottesdienstlichen Liturgie und in der gelehrten Kommunikation, das kanonische Kirchenrecht, die großen Orden und Verbände des abendländischen Mönchtums, die transnationale, gesamteuropäische Organisationsstrukturen besaßen und – das Papsttum, dessen in Anspruch genommener Jurisdiktionsbereich alle zu Lateineuropa gehörenden Länder umfasste. Auch die seit dem 12. Jahrhundert als Institutionen gelehrter Bildung entstandenen Universitäten und der durch sie geprägte methodische Argumentationsstil, die sogenannte Scholastik und die ihr eigene Rationalität, markierten eine prägende Besonderheit der lateineuropäischen Welt. Bestimmte Praktiken des religiösen Lebens wie die bewaffneten Wallfahrten ins Heilige Land – also die Kreuzzüge –, das Bußsystem, das die Vergebung bestimmter Vergehen mit exakt tarifierten Kompensationsleitsungen verband oder die strengen sexualethischen Keuschheitsstandards für Priester aller Weihestufen – also der allgemeine Pflichtzölibat – waren Besonderheiten des lateinischen Christentums. Für den Ablass, die außerordentliche Vergebung zeitlicher Sündenstrafen, die eigentlich im Fegefeuer – dem postmortalen Reinigungsort – abzubüßen waren, galt dies ebenfalls. Durch die Ablässe konnte man einen teilweisen ‚Nachlass’ dieser im Bußsakrament auferlegten Sündenstrafen oder – ein exklusives Recht der Päpste mittels der sogenannten Plenarablässe – ihre vollständige Tilgung erreichen.
Auch in politischer Hinsicht war Lateineuropa durch Gemeinsamkeiten geprägt. Im 15. Jahrhundert fühlte man sich hier in wachsendem Maße durch das Osmanische Großreich bedroht. Als 1453 Konstantinopel, das ehrwürdige Zentrum des oströmischen Reiches, den türkischen Anstürmen erlag, wurde dies im Westen sensibel registriert. In den kommenden Jahrzehnten rückten türkische Heere immer weiter nach Europa vor; seit 1460 stand die Peleponnes unter osmanischer Verwaltung; 1461 fiel mit Trapezunt am Schwarzen Meer ein letzter christlicher Vorposten in türkische Hände; 1475 nahmen die Osmanen die genuesische Handelsniederlassung auf der Krim in Besitz; 1517 schließlich gelang die Eroberung Ägyptens und Syriens, 1521 erfolgte der Vorstoß nach Belgrad; im Herbst 1529 belagerten die Türken Wien. Die türkische Expansion bildete ein wichtiges politisches Hintergundsmotiv der Reformationsgeschichte. Die gewaltsame Beendigung einer ca. siebenhundertjährigen christlich-muslimischen Kopräsenz in Andalusien durch die Rückeroberung Granadas, die sogenannte Reconquista im Jahre 1492, war eine der ‚Antworten’ des lateinischen Westens auf die Vorstöße der Türken. Denn die Herrscher der Iberischen Halbinsel, die ‚katholischen Könige’ Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon, erstrebten die vollständige Rechristianisierung ihres Herrschaftsgebietes. Die Dominanz der Osmanen im Mittelmeerraum behinderte den Orienthandel; wegen entsprechender Abgabenpflichten verteuerten sich die begehrten Waren.
Die fieberhafte Suche nach einem Seeweg nach Indien war eine der welthistorischen Folgen des türkischen Imperialismus. Dass Bartolomeo Diaz 1487 erstmals das Kap der Guten Hoffnung, die Südspitze Afrikas, umsegelte, Christoph Kolumbus 1492 Amerika entdeckte und Vasco da Gama 1498 von Lissabon aus definitiv den Seeweg nach Indien fand, waren indirekte Konsequenzen der osmanischen Vormacht im Mittelmeer. Ob die Globalisierung Lateineuropas, die seit dem späten 15. Jahrhundert begann, ohne die Türken eingetreten wäre, ist fraglich. Ohne die Türken hätte es gewiss auch die Reformation nicht gegeben, denn ihretwegen wurde der Ablassbetrieb angekurbelt, ihretwegen expandierte das Druckwesen, ihretwegen herrschte eine propagandistisch nutzbare apokalyptische Erregung, ihretwegen bestand eine militärische Bedrohung des habsburgischen Kaiserhauses; die Karl V. zu Kompromissen nötigten und den sich der Reformation anschließenden Fürsten die Möglichkeit eröffnete, sich ihre Waffenhilfe gegen religionspolitische Zugeständnisse ‚abkaufen’ zu lassen.
Hinsichtlich seiner politischen Binnenstruktur war das lateinische Europa um 1500 vielfältig. Im Westen – Spanien, Portugal, Frankreich, England – hatten sich dynastisch geprägte monarchische Herrschaftsformen herausgebildet, die Merkmale staatlicher Verdichtung aufwiesen: einheitliche Verwaltungs- und Besteuerungssysteme, eine Machtkonzentration in der Hand der Könige, eine herrschaftsstrategische Einbindung des Adels, weitgehende Besetzungsrechte der Krone in Bezug auf höhere kirchliche Ämter und die Ausformung durch Sonderverträge mit der Kurie erleichterter nationaler Kirchentümer und Katholizismen. In Mittel- und Mittelosteuropa – im Heiligen römischen Reich deutscher Nation, Polen-Litauen, Böhmen und Ungarn – war die höchste Herrscherwürde, das Königs- bzw. Kaisertum, an Wahlakte gebunden, die bestimmte Adelsgruppen durchführten. In Nordeuropa löste sich die seit dem späten 14. Jahrhundert unter dänischer Führung bestehende Kalmarer Union auf; das seine Unabhängigkeit erstrebende Schweden (mit Finnland) einerseits, Dänemark (mit Norwegen und Island) andererseits entwickelten sich zu erblichen Monarchien. Im Laufe des späten 15. und des frühen 16. Jahrhunderts entstand durch die Heiratspolitik der seit 1452 die Kaiser stellenden Dynastie der Habsburger ein Länderkomplex, der neben den österreichischen und südwestdeutschen Erblanden Burgund und die Niederlande, das spanische Erbe unter Einschluss des außereuropäischen Kolonialbesitzes, Teile Nord- und Süditaliens (Mailand, Neapel, Sizilien), Böhmen und Ungarn umfasste.
Eine kulturelle Besonderheit, die Lateineuropa seit dem 15. Jahrhundert von der ostkirchlichen Orthodoxie einerseits, der islamischen Welt andererseits grundlegend zu unterscheiden begann, klang bereits an; sie war kommunikationstechnologischer Natur: Der Buchdruck mit beweglichen Metalllettern. Um 1450 war es dem gelehrten Mainzer Handwerker Johannes Gutenberg und seinen Mitarbeitern Fust und Schöffer gelungen, ein Verfahren der mechanischen Reproduktion von Texten zu entwickeln. Mittels des genialen Gedankens, Texte in ihre kleinsten Einheiten, die 26 Buchstaben des lateinischen Alphabets, zu zerlegen und durch ein Gussverfahren einzelne Typen aus beständigem metallischen Material herzustellen, war es möglich geworden, Schriftstücke in beliebig großen Mengen herzustellen. Als Bedruckmaterial kam neben dem teuren Pergament zusehend das günstigere Papier zur Anwendung; seit dem späten 14. Jahrhundert gab es Papiermühlen in Deutschland. Von diesen und aus dem Weinbau waren Pressen bekannt; beim Druckvorgang waren sie wegen der gleichmäßigen Kraftübertragung unerlässlich. Texte, die bisher von professionellen Schreibern in langen Zeiträumen abgeschrieben werden mussten, konnten nun ungleich schneller und kostengünstiger verbreitet werden. Die mittelbaren gesellschaftlichen und kulturellen Folgen des Buchdrucks begannen sich erst allmählich abzuzeichnen; für die Reformation waren sie zentral. Nach den ersten typographischen Anfängen Gutenbergs hatte sich die neue Technologie rasant verbreitet. Um 1500 existierten in Lateineuropa in ca. 150 Städten Druckereien. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits ca. 30.000 unterschiedliche Titel produziert worden; die Gesamtzahl der gedruckten Bücher ging in die Millionen. Für die Bildungseinrichtungen der Zeit, vor allem die Lateinschulen und Universitäten, bedeutete die neue Technologie einen wichtigen Innovationsfaktor; nun konnten die Lernenden bestimmte Lehrbücher erwerben und stetig mit ihnen arbeiten. Auch die Gelehrten erlebten neue und ungeahnte Möglichkeiten, ihre eigenen Ideen und Texte weit über den Wahrnehmungshorizont des Hörsaales und der Handschrift hinaus zu verbreiten und den Austausch innerhalb der europäischen Gelehrtenrepublik zu fördern. Die seit dem 13. Jahrhundert zunächst in den urbanen Zentren der Apenninhalbinsel entstandene kulturelle Bewegung des Humanismus, die sich derjenigen Künste und Wissenschaften bediente, in denen es um das ‚Humanum’, das Menschsein des Menschen, ging, machte sich die Möglichkeiten der Druckpresse zügig zu Nutze. Über weite geographische Distanzen, quer durch Europa, ließen sie einander an ihren textlichen Entdeckungen und eigenen literarischen Elaboraten teilhaben. Häufig waren die Humanisten, die über dichte Korrespondentennetzwerke verfügten, früher über neue Entwicklungen auf politischem oder kulturellem Gebiet informiert als ihre Zeitgenossen. Sie sollten auch die ersten sein, die Informationen über Martin Luther weitergaben und seine Texte nachdruckten.
Angesichts vielfältiger Ängste und Bedrohungen durch Natur- und Hungerkatastrophen, Pestepidemien oder den türkischen ‚Erbfeind’ aus dem Osten, die eine Hochkonjunktur apokalyptischer Motive auch in der zeitgenössischen Kunst mit sich brachten, war die Kirche die weithin unangefochtene Instanz der Heilssicherung – überall in Europa. Viele Menschen wandten sich mit ihren Sorgen, Nöten und Bedürfnissen an das Gnadeninstitut; sie bedienten sich der Instrumente und Praktiken, die sie anzubieten hatte: der Sakramente und Wallfahrten, der Messstiftungen, die das unblutige Opfer Christi zugunsten bestimmter Stifter wiederholten, der Heiltumsschauen, also besonderer religiöser Events, bei denen ablassträchtige Reliquien gezeigt wurden, der Bruderschaften – Korporationen aus Geistlichen und Laien, die zugunsten ihrer verstorbenen Mitglieder beteten und das Totengedenken ermöglichten, auch der vielfältigen religiösen Lebensformen im Kloster oder in der Welt. All die genannten Institutionen und Praktiken boomten; niemals zuvor waren so viele Kirchengebäude errichtet worden wie zu Beginn des 16. Jahrhunderts, und zwar im gesamten lateineuropäischen Raum. Dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem individuellen religiösen Engagement – etwa durch die Menge der Gebete, die Höhe der Spenden, die Strapazen einer Wallfahrt etc. – und dem Ausmaß der Heilseffekte, eine Korrepondenz also von religiöser Leistung und geistlichem Lohn also, bestand, war im Ganzen selbstverständlich und integrierte die lateineuropäische religiöse Mentalität. Dass die Infragestellung dieses Systems religiöser Leistungsfrömmigkeit, wie sie dann Luther vortrug, gleichfalls überall in Lateineuropa nachvollziehbar war, versteht sich von selbst.
In Bezug auf die Entstehung reformatorischer Bewegungen in Lateineuropa lassen sich einige strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen. Für die Verbreitung reformatorischen Gedankenguts war allenthalben der Buchdruck zentral. In den Niederlanden, Paris und Dänemark wurden reformatorische Druckschriften rasch nachgedruckt; auch die Übertragung deutscher Texte in andere Volkssprachen ging rasch vonstatten; Antwerpen entwickelte sich zu einem internationalen Druckzentrum, in dem französische, spanische, dänische und englische Literatur erzeugt wurde. In zahlreichen europäischen Ländern – den Niederlanden, England, den baltischen und den nordeuropäischen Ländern, in Böhmen, Mähren und Nordfrankreich – gab es durchaus stattliche Ansiedlungen deutschsprachiger Kaufleute und Handwerker; vielfach waren diese ‚Auslandsdeutschen’ die ersten, die reformatorisches Gedankengut und Schrifttum aufnahmen und verbreiteten. Neben den Kaufleuten sind deutsche Studenten – vor allem in Richtung Italien und Frank· reich – als mobile Tradenten reformatorischer Überzeugungen zu identifizieren. Die transnationalen Organisationsstrukturen der Kirche und der Orden trugen das Ihre dazu bei, dass die Kunde von dem ketzerischen Bettelmönch aus Wittenberg weit herumkam. Auch Luthers eigener Orden, die Augustinereremiten, war ungemein zügig – und vielfach mit überwältigender Zustimmung – in die Ausbreitungsprozesse der reformatorischen Bewegung involviert. Die überkommenen Strukturen, die Lateineuropa im späten Mittelalter ausgebildet hatte, bildeten also entscheidende Voraussetzungen für die europäische Resonanz der Reformation. Ohne das als spezifischer kultureller, politischer und mentaler Raum formierte lateinische Europa wäre die Reformation undenkbar gewesen.
Doch nun zur zweiten Blickrichtung, der Rückwirkung der Reformation auf Europa. Im Zeitalter der Reformation erhielt Lateineuropa ein neues Gesicht. Nicht mehr die Einheit der Christianitas mit dem Papst als sichtbarem Haupt, der in der alten Kapitale des Imperiums, in Rom, residiert, sondern eine Vielzahl einzelner Länder prägten fortan den Geschichts- und Kulturraum. Dieses Europa der Nationen ist nicht durch die Reformation entstanden, aber doch befördert worden. Der explizite Bruch mit dem Papst, den die sich der Reformation anschließenden Länder, Städte, Territorien und Nationen vollzogen, zerstörte die rechtliche und spirituelle Einheit der lateinischen Christenheit. Während das alte Europa als Heimat der römischen Kirche in Frage gestellt wurde, eroberte sie neue Kontinente. Auch in seiner konfessionellen Diversität ist das lateineuropäische Christentum seit dem 16. Jahrhunderts eine global expandierende Religion. Bis heute.
Die durch die Reformation definitiv zerstörte kirchliche Einheit Lateineuropas war freilich auch vorher kein monolithisch geschlossener Untertanenverband des römischen Pontifex gewesen, sondern hatte aus einer Vielzahl eigener Einheiten bestanden, die je unterschiedlich lockere Bindungen an und dichte Beziehungen zur Kurie unterhalten hatten. Die Nationalstaaten traten nicht erst infolge der Reformation als politische Einheiten hervor, sondern hatten bereits im 14. und 15. Jahrhundert, etwa in Spanien, Frankreich und England, deutliche Konturen gewonnen; auch im Verhältnis zum Papst folgten sie einer jeweils eigenen Agenda. Dennoch hatten bis zur Reformation kulturelle Selbstverständlichkeiten bestanden, die nun nach und nach in Frage gestellt wurden oder sich aufgelösten: Die Präponderanz der lateinischen Sprache in allen die Religion und die Wissenschaft betreffenden Fragen wich einer sprachkulturellen Diversifizierung. In den sich der Reformation anschließenden Ländern wurden die Gottesdienste nun in aller Regel in den Volkssprachen abgehalten; da die Predigt ins Zentrum des Gottesdienstes rückte, die Sakramente Taufe und Abendmahl auf die persönliche Aneignung der Glaubenden hin ausgelegt wurden und der Gemeindegesang als wesentliches Element der religiösen Partizipation der Gemeindeglieder galt, kam die Verwendung einer anderen als der Sprache, die „die mutter ihm hause, die kinder auff der gassen, de[r] gemeine man auff dem marckt“ verwendeten – ihnen schaute der Wittenberger Reformator „auff das maul“ –, nicht in Betracht. Die religiöse Aufwertung der Volkssprache im Zuge der Reformation, die eine Vielzahl an nationalsprachlichen Bibelübersetzungen zunächst in Europa, à la longue weltweit, angeregt und schließlich auch die römische Kirche im Ganzen dazu veranlasst hat, ihre Fixierung auf das Lateinische und Römische, auf latinitas und romanitas, zu relativieren, schließlich gar die religiöse Diffamierung und Inkriminierung der volkssprachlichen Bibel aufzugeben und die etwa in Spanien bereits vor der Reformation breit einsetzende vernakulare Literaturproduktion sukzessive zu intensivieren, hat unabsehbare kulturelle Wirkungen gezeitigt, die Entstehung nationaler Literaturen begründet oder befördert und Bildungs- und Partizipationsmöglichkeiten eröffnet, die dem mittelalterlichen Christentum so nicht bekannt waren. Die religiös legitimierte Aufwertung der Volkssprachen im Zuge der Reformation trug mittelbar, in einem jahrhundertelangen Transformationsprozess, dazu bei, dass diese wie ein Sauerteig alle Bereiche der Gesellschaft durchsetzten und auch die Wissenschaft eroberten. Die Ausformung nationaler Christentumsvarianten infolge der Reformation hat schließlich die politischen Nationalisierungsprozesse beeinflusst, ja forciert. Die für die mittelalterliche Christenheit prägenden transnationalen Momente einer lateinischen ‚Einheitskultur’ verloren auch in den dominant katholisch bleibenden Ländern Europas nach und nach ihre universelle Geltung. Das Europa der konfessionellen Diversität und der nationalen Vielfalt und Konkurrenz, dessen Wurzeln ins Mittelalter zurückreichen, ist durch die Reformation dynamisiert worden.
Für die Generation der Reformatoren und ihrer Nachfolger war das Lateinische die allgemeine Verkehrssprache, die lingua franca der wissenschaftlichen und der ‚internationalen’ Kommunikation gewesen. Doch im Zuge des Humanismus, freilich intensiviert durch die kulturellen Herausforderungen infolge der Reformation, wurde die ständige Übersetzung von der Volkssprache ins Lateinische und umgekehrt zur selbstverständlichen Praxis. Anders als für einen mittelalterlichen Gelehrten, der sich in Bezug auf die seinen ‚Beruf’ betreffenden Sachverhalte ganz in einer lateinischen Sprachwelt bewegte, wurde die Bilingualität zu einer grundlegenden kulturellen Wirklichkeit all derer, die professionell zu schreiben und zu lehren hatten. Unter den europäischen Reformatoren gab es kaum einen, der nicht sowohl in Latein als auch in mindestens einer Volkssprache publiziert hätte. Die langfristigen kulturellen Wirkungen der Vernakularisierung einerseits, der Bilingualisierung der Gelehrten andererseits, sind unübersehbar. Die Reformation hat diese Prozesse entscheidend forciert und wesentlich verursacht.
In der mittelalterlichen Christenheit waren transnationale Rechts- und Organisationsstrukturen wirksam gewesen, die die Reformation bekämpfte und die in den Teilen Europas, in denen sie siegte, obsolet wurden. Das Europa der Wallfahrer erlitt Einbußen, selbst wenn man weiterhin bemerkenswert viele Reisende aus protestantischen Ländern in Rom oder im Heiligen Land antreffen kann. Das Europa der Orden, das angesichts der Präsenz insbesondere der Bettelmömche an den Universitäten auch das gelehrte Europa tiefgreifend geprägt hatte, existierte fortan nurmehr für die katholische Hemisphäre. Dies betraf in analoger Weise auch das kanonische Recht, das bisher überall gegolten hatte – oder jedenfalls hatte gelten sollen –, wo der Papst als Haupt der Kirche anerkannt war. Durch die Reformation aber wurde dieser europäische Rechtsraum der Vormoderne irreparabel beschädigt. Denn selbst dort, wo man bestimmte Kirchenverfassungselemente der römischen Tradition, etwa die Metropoliten bzw. Erzbischöfe in der schwedischen und der englischen Kirche, beibehielt oder Teile der lateinischen Liturgie weiterhin pflegte, auch Formen klösterlichen Lebens anerkannte und Traditionen des kanonischen Eherechts revitalisierte, wie in einigen lutherischen Kirchen im Reich, geschah dies aufgrund eigenmächtiger Entscheidungen der weltlichen Obrigkeiten oder auf den Rat ihrer theologischen oder juristischen Experten hin; dieser selektive Umgang mit bestimmten Rechtstraditionen des kanonischen Rechts aber setzte voraus, dass man sich souverän über die päpstliche Jurisdiktionskompetenz als solche hinwegsetzte. Für all die elementaren Belange im Leben jedes Christenmenschen, die – jedenfalls prinzipiell – durch das kanonische Recht geregelt waren – etwa die religiösen Pflichten der jährlichen Beichte und Kommunion, die sakramentale Versorgung von der ‚Wiege’ bis zur ‚Bahre’, die Regulierung von Ehekonflikten, das Verhältnis zur Pfarrgemeinde, die Geltung von Gelübden – waren neue Bestimmungen zu definieren bzw. Ersatzlösungen in der Zuständigkeit der jeweiligen weltlichen Obrigkeiten zu finden. Der evangelische Christ Europas wurde infolge der Verstaatlichungsdynamik, in die die Religion geriet, in einem umfassenderen Sinne ‚Untertan’ als es seine katholischen Vorfahren je gewesen waren.
Doch die Strukturen des alten Christenheitseuropas wurden durch die Reformation nicht nur forciert aufgelöst – auch Konturen eines evangelischen Europas zeichneten sich stetig ab. Recht bald nach dem Ausbruch des Ablassstreites, verstärkt dann aber im Nachgang der Leipziger Disputation von 1519, erhöhte sich die Zahl der Wittenberger Studenten sprunghaft. Auch der Anteil der Ausländer wuchs rasch; Wittenberg, das akademische Dorf am Rande der Zivilisation, wurde seit den 1520er Jahren für etwa ein halbes Jahrhundert zur frequentiertesten und hinsichtlich der Zusammensetzung seiner Besucherschaft ‚internationalsten’ Universität Deutschlands, ja Europas. Zwischen 1516 und 1520 war die Zahl der jährlichen Immatrikulationen in Wittenberg explosionsartig angestiegen, um über 400, auf 579; andere Universitäten wie Heidelberg, Köln, Erfurt, Rostock, Greifswald, Ingolstadt, Freiburg und Tübingen hatten massive Einbrüche zu verzeichnen und waren zeitweilig von Schließungen bedroht. Studenten aus Frankreich, England, Italien, Böhmen, Ungarn, besonders aber Skandinavien und dem Baltikum suchten in Wittenberg die ‚wahre’ reformatorische Lehre aus erster Hand kennenzulernen. Insbesondere Melanchthon, der eine ausstrahlende Lehrtätigkeit in der Philosophischen ebenso wie in der Theologischen Fakultät entfaltete, erwies sich als überaus attraktiver Lehrer. Bei ihm konnte man das theologisch-philologische Handwerkszeug eines evangelischen Schriftauslegers in nachvollziehbarerer Form lernen als bei dem genialisch-assoziativen, charismatischen Exegeten Luther, dessentwegen die meisten kamen, ihn aber, wie es scheint, in der konkreten Begegnung weniger als Professor denn als Prediger schätzten.
Ähnliche Strahlungswirkungen, wie Wittenberg sie auf das Europa der evangelischen, später primär der konfessionell-lutherischen Christenheit ausüben sollte, gingen seit 1559 von der Akademie Johannes Calvins und Theodor Bezas in Genf aus. Sie wurde für den europäischen Calvinismus genauso wichtig wie es Wittenberg für das europäische Luthertum war. Seit dem späteren 16. Jahrhundert entfalteten dann die niederländischen Universitäten, allen voran Leiden, eine internationale Sogwirkung, selbst über Konfessionsgrenzen hinweg. Doch das Europa der Studenten gab es vor und nach der Reformation nur für eine besonders ambitionierte Minderheit; das Gros der jungen Akademiker verbrachte seine Studienzeit ganz überwiegend an seiner Landesuniversität; die Territorialisierung und ‚Verstaatlichung’ der Universitäten, ihre Abhängigkeit von der jeweiligen Landesherrschaft, erhielt durch die Reformation einen kräftigen Schub.
Hinsichtlich der interterritorialen und zwischenstaatlichen Beziehungen innerhalb Europas blieb die Reformation gleichfalls nicht folgenlos. Immer wieder entstanden politische Allianzen und Kooperationen aufgrund konfessioneller Zugehörigkeiten oder gemeinsamer konfessioneller Gegnerschaften. Dies galt etwa für Kontakte, die Heinrich VIII. nach seiner Trennung von Rom (1534) zum Schmalkaldischen Bund suchte, für den Zusammenschluss der reformierten Kurpfalz mit den calvinistisch geprägten Provinzen der Niederlande, für antihabsburgische Koalitionspläne Franz I. von Frankreich und des reformierten König von Navarra vor seiner Konversion zum katholischen König Heinrich IV. von Frankreich und für dynastische Verbindungen zwischen dem dänischen und dem schwedischen Adel zu protestantischen Geschlechtern im Reich. Auch militärische Interventionen konnten nach und infolge der Reformation konfessionell motiviert werden. Die politischen Interaktionen und diplomatischen Verbindungen innerhalb und – aufgrund kolonialgeschichtlicher Zusammenhänge – auch außerhalb Europas haben sich infolge der Reformation grundlegend geändert.
Ein Europa der Händler und Kaufleute gab es vor wie nach der Reformation. Allerdings war der Besuch der an vielen Orten Europas stattfindenden Messen von den religionskulturellen Umweltbedingungen des jeweiligen Standorts mit bestimmt, z.B. der Geltung der Heiligenfeste oder ihrer Abschaffung, auch der Einhaltung bestimmter religiöser Regeln im öffentlichen Raum. Unter den europäischen Handelsregionen war die levantinische weitgehend von nicht-evangelischen Händlern dominiert; der die Nord- und Ostseeländer umspannende Wirtschaftsraum wurde vor allem von hansischen Kaufleuten bestimmt, denen im Laufe des 16. Jahrhunderts Niederländer und Engländer den Rang abliefen. Im Atlantikhandel, der vor allem von Lissabon, Sevilla, Antwerpen und Amsterdam aus betrieben wurde, überschnitten sich nationale und konfessionelle Grenzen und Konkurrenzen mannigfach.
Die konfessionellen Differenzen, zu denen es infolge der Reformation gekommen war, beeinflussten das Leben der Menschen, auch der Kaufleute, und sie wirkten ggf. auch auf das Konsumverhalten zurück – man denke nur an die Wirkungen, die die Abschaffung der Fastenvorschriften in den evangelischen Ländern zeitigten. Doch wenn es Geld zu verdienen galt, folgten schon die Europäer der Vormoderne ihrem Erwerbstrieb und nicht zwangsläufig konfessionellen Notwendigkeiten. Insofern sind die Wirkungen der Reformation in ökonomischer Hinsicht eher indirekter Art gewesen; in Form von Produktionssteigerungen und Prosperitätsgewinnen aufgrund der Abschaffung zahlreicher Feiertage traten sie allerdings direkt zu Tage. Ca. 80 Feiertage sind in den protestantischen Territorien abgeschafft worden. Das war ein unmittelbarer Produktivitätssteigerungseffekt. Die gegenüber wucherischen Zinspraktiken, dem Fernhandel, Devisenabfluss ins Ausland, Luxusimporten, auch der hemmungslosen Profitmaximierung, also Grundzügen des frühkapitalistischen Wirtschaftssystems, ausgesprochen kritischen Urteile der meisten Reformatoren, allen voran Luthers, wird man in ihren Wirkungen nicht überschätzen dürfen. Das Europa der Händler folgte vor wie nach der Reformation primär eigenen Handlungslogiken.
Nun einige abschließende Bemerkungen zur makrohistorischen Einordnung der Reformation. Die Reformation hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die lateineuropäische Geschichte und deren globale Folgen. Mit der Ausbreitung der lateineuropäischen Zivilisation im Zuge der geographischen Entdeckungen, des Welthandels und der kolonialen Expansion kamen die konfessionellen Varianten des lateinischen Christentums auch in Asien, Afrika, Amerika und Australien zur Geltung. Auf den außereuropäischen Aktionsfeldern setzte sich die kontinentaleuropäische Konfessionskonkurrenz in direkter oder indirekter Form fort, konnte aber auch Momente der Interaktion und Kooperation aufweisen, die in der ‚Heimat’ undenkbar waren. Die globale Ausbreitung der lateineuropäischen Christentumsvarianten ist bis heute ungebrochen, der Protestantismus eine global rasant wachsende Religion.
Alle nicht-katholischen Gestalten des lateinischen Christentums sind in der einen oder anderen Weise Erben der Reformation geworden. Die Organisationsformen der nicht-katholischen Chirstentumsvarianten sind denkbar vielfältig; sie reichen von aktualistisch-geistgetriebenen Vergemeinschaftungen pfingstlerischer oder quäkerischer Provenienz bis hin zu den episkopalistischen, staatskirchlichen oder staatsanalogen kirchlichen Institutionen in Skandinavien, Großbritannien und Deutschland. Die heute üblicherweise unter den Begriff des „Protestanismus“ (protestanisme; protestantismo; protestantism) subsummierten nicht-katholischen Gestalten des lateinischen Christentums schließen die bis ins 20. Jahrhundert hinein als kirchentrennend empfundenen konfessionellen Differenzen etwa zwischen Lutheranern und Reformierten ein. Seit dem späteren 18. Jahrhundert kam die Tendenz auf, den Protestantismus als einen inneren Zusammenhang zwischen Luthertum und Reformiertentum wahrzunehmen und für grundsätzlich ‚moderner’ zu halten als den Katholizismus. Das dieser Perspektive zugrundeliegende Fortschrittsdenken war dem Protestantismus des konfessionellen Zeitalters fremd. Im Zuge des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts führte es dazu, gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklungen, denen man ‚modernisierende’ Wirkungen zuschrieb – demokratisch-partizipative Entscheidungsprozesse etwa, kapitalistische Wirtschaftsgesinnung, Individualisierung, Emanzipation durch Bildung, Toleranz, Menschenrechte – eine besondere Nähe zum Protestantismus zuzuerkennen und den Katholizismus als notorisch rückständig einzustufen. Eine definitive Antwort auf die Troeltschsche Frage nach der Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt dürfte problematisch sein; auch eine kausale Ableitung der modernen westlichen Zivilisation allein aus der Reformation kommt für uns Historiker heute nicht mehr in Betracht. Gleichwohl ist es unabweisbar, dass ein innerer Zusammenhang zwischen der religionsgeschichtlichen und kulturellen Entwicklung Lateineuropas seit dem späten Mittelalter und Einstellungen und Wertungen der westlichen Moderne besteht.
Die Reformation setzte in einer Vielzahl ihrer Erscheinungen, insbesondere in bildungs-, kommunikations-, rechts- und politikgeschichtlicher Hinsicht, das lateinische Europa des späten Mittelalters voraus, ja die Reformation ist als spezifische Frucht der historisch-kulturellen Formation „Lateineuropa“ anzusprechen. Die Reformation ruhte auf Traditionsbeständen des lateinischen Mittelalters auf und führte diese fort. Die innovativen Momente der Reformation kommen in, unter, mit der und gegen die mittelalterliche Gestalt des lateineuropäischen Christentums zur Geltung. Die Frage einer makrohistorischen Einordnung der Reformation im Verhältnis zu Mittelalter oder Neuzeit ist wissenschaftsgeschichtlich zu archivieren. Sie ist falsch gestellt.
Die historisch primären gesellschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Folgen der mit der Reformation eingetretenen Pluralisierung des lateinischen Christentums bestanden nicht in der Relativierung, sondern in einer Intensivierung religiöser Bindungen.
Den konfessionellen Christentumsvarianten des Luthertums, des Reformiertentums und des römischen Katholizismus war gemeinsam, dass sie größte Anstrengungen unternahmen, um ihre Glieder religiös zu unterweisen, also zu katechisieren, ihnen einen disziplinierten Lebensstil nahezubringen und sie gegenüber den Versuchungen und Herausforderungen der konfessionellen Konkurrenz zu immunisieren. Die Pluralisierung des lateinischen Christentums infolge der Reformation hat primär Intoleranz, eine Kultur der rechtlich fixierten oder mentalen Abgrenzung, schließlich eine Gewaltbereitschaft freigesetzt, die in den Religionskriegen des konfessionellen Zeitalters explodierte. Die wachsende Konfliktdynamik infolge der konfessionellen Pluralisierung hat mittelbar allerdings dazu beigetragen, Strategien der Einhegung und der Pazifizierung, der Tolerierung des Unvereinbaren, der Relativierung religiöser Wahrheitsansprüche und des interkonfessionellen Austausches plausibel zu machen und in rechtlichen Formen zu fixieren. Die kommunikations- und wissenschaftsgeschichtlichen Folgen des Buchdrucks für den westlichen Zivilisationstypus sind kaum zu überschätzen. Indem die Reformation in allen ihren Erscheinungen den Buchdruck förderte und auch an der Verbreitung von ihr abgewiesener und bekämpfter kultureller Überlieferungen teilnahm, trug sie entscheidend dazu bei, dass vielfältiges, disparates und heterodoxes Gedankengut im lateineuropäischen Kulturraum in einer neuartigen Intensität im Schwange blieb und als kulturelle Ressource fungieren konnte. Auf dem Boden des lateinischen Christentums gedieh auch die Religionskritik wie nirgends sonst.
Die intensivierte Aneignung der konfessionellen Christentumsvarianten durch Katechismen und Predigten, Erbauungs- und Gebetsbücher zeitigte mittelbar fundamentale bildungsgeschichtliche Wirkungen. Diese werden in den protestantischen Territorien und Ländern in ihrer gesellschaftlichen Breite aufs Ganze gesehen früher wirksam als in den katholischen – eine Folge der konsequenten religiösen Aufwertung der Volkssprache und der Eröffnung von Partizipationsmöglichkeiten im Gottesdienst. In einigen Sprachen gehen die ersten erhaltenen oder gedruckten schriftlichen Dokumente unmittelbar auf die Reformation zurück – im Finnischen etwa, im Kroatischen, im Gälischen, im Slowenischen, im Prussischen; zumeist handelte es sich dabei um Katechismen, Übersetzungen des Neuen Testaments oder der ganzen Bibel.
Die sprachkultur- und bildungsgeschichtlichen Folgen der Reformation sind immens. Religiös relevante Texte in der eigenen Muttersprache lesen oder aneignen zu können – auch der evangelische Gemeindegesang war ein Attraktionsmoment allererster Güte – implizierte zugleich, verstehend teilzunehmen. Mit der Reformation ging ein Ausbau des Schulwesens und eine verstärkte Bemühung um die Alphabetisierung der Bevölkerung einher. Da den Vätern und Müttern in der evangelischen Hausgemeinde eine zentrale religiöse Vermittlungsaufgabe zuerkannt wurde, galt es als wünschenswert, ja notwendig, dass sie lesen und schreiben konnten. Die in der Volkssprache gehaltenen evangelischen Predigten eröffneten andere Möglichkeiten des Dabei- und des Involviertseins als die Teilnahme an einer lateinischen Messe. Intensivierte Bemühungen um die volkssprachliche Predigt, die Katechese, die religiöse Literaturproduktion auch im katholischen Bereich dokumentieren, dass die konfessionelle Konkurrenz das ‚Geschäft’ belebte und mittelbar die lateineuropäische Zivilisation im Ganzen veränderte.
Dort, wo der Protestantismus die dominierende Konfession wurde, bildete er eine besondere Nähe zur staatlichen Macht aus. Dies ergab sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit daraus, dass die weltlichen Obrigkeiten als ‚Notbischöfe’ oder ‚supreme heads’ an die Spitzen der Kirchentümer getreten waren. Diese notorische Staatsnähe des Protestantismus hat vielfach dazu geführt, dass sich die Religion gegenüber den Erwartungen, die von Seiten der Politik oder der Gesellschaft an sie gestellt wurden, als besonders ‚elastisch’, ja opportunistisch erwies. Die Bereitschaft, sich im 19. Jahrhundert unterschiedlichen Nationalismen zu akkomodieren, war ein Moment der ‚volkstümlichen’ Inkulturation, die allen konfessionellen Varianten des lateinischen Christentums eigen war. In Kontexten, in denen sich Protestanten in einer minoritären Situation befanden, konnten sie durchaus Potentiale alternativen Denkens gegenwärtig halten; für die protestantischen Sekten, die früher und nachdrücklicher als andere die Grundsätze der allgemeinen Religionsfreiheit, der Toleranz und des Gewaltverzichts propagierten, war dies in starkem Maße der Fall.
Der Weg zu einem befriedeten Neben- und einem toleranten Miteinander der Konfessionen war im nachreformatorischen Lateineuropa lang. Er wurde einerseits dadurch geprägt, dass staatliches Recht den Konfessionen Grenzen setzte und Regeln des Miteinanders definierte, andererseits dadurch, dass die Konfessionen selbst eigene Wahrheitsansprüche zu relativieren und das hohe Gut einer allgemeinen Religionsfreiheit zu affirmieren begannen. Seit dem 17. Jahrhundert fingen einzelne Territorialstaaten in Deutschland damit an, Migranten fremder Konfessionen aufzunehmen; auch Täufern, die als fleißige Handwerker galten, gewährte man immer häufiger Schutz. Die Erfahrungen zeigten, dass ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Konfessionen, also multikonfessionelle Gesellschaften, im Rahmen klarer rechtlicher Regeln funktionierte. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die bürgerliche Gleichstellung der Juden gesellschaftlich durchgesetzt und rechtlich fixiert. Im Laufe des späten 19. und des 20. Jahrhunderts wurde die durch staatliches Recht verbürgte allgemeine Religionsfreiheit ein Grundelement des freiheitlichen Rechtsstaates und der überstaatlichen Grund- und Menschenrechte.
Die Toleranz als Anerkennung der Existenzberechtigung einer anderen Religion war das Ergebnis eines Lernprozesses; in der lateineuropäischen Christentumsgeschichte war dieser Lernprozess durch die Erfahrungen von mannigfachem Leid und im Namen der christlichen Religion begangener Gewalt geprägt. Die Reformation hat diese Entwicklungen provoziert und dynamisiert und dadurch das ihre dazu beigetragen, dass ein westlicher Zivilisationstypus entstand, der nicht mehr auf der Vorstellung basierte, dass eine Gesellschaft nur auf der Grundlage einer einheitlichen oder dominierenden Religion existieren könne. Dieses tolerante, multireligiöse Gesellschaftsmodell steht heute aber vor neuen Herausforderungen. Die Geschichte der Reformation ist ein Musterbuch der Spannungen, Widersprüche, Evolutionen und Fortschritte der lateineuropäischen Zivilisation auf dem Weg zu toleranten, liberalen Gemeinwesen. Um unsere westliche Kultur im Horizont der Globalisierung weiterzuentwickeln, ist die Kenntnis ihrer Anfänge im Zeitalter der Reformation hilfreich, ja vielleicht unverzichtbar.
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