Vortrag
Bundesverfassungsgerichtspräsident Prof. Dr. Dres. h.c. Andreas Voßkuhle
„70 Jahre Grundgesetz: Geht die Erfolgsgeschichte weiter?“
Sehr verehrter, lieber Herr Mellinghoff,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
wenn wir dieses Jahr 70 Jahre Grundgesetz feiern, haben wir allen Grund, mit Freude und Stolz auf diese einzigartige Erfolgsgeschichte zu schauen. Gleichwohl ist der Blick zurück nicht ungetrübt. Es reicht aus deutscher Perspektive, sich mit 100 Jahren Weimarer Verfassung eines weiteren, ungleich ambivalenteren Jubiläums zu vergegenwärtigen und daran zu erinnern, dass es Weimar nicht an einer guten Verfassung fehlte, sondern an guten Demokraten. Wenn wir daher den 70. Geburtstag des Grundgesetzes begehen, sollten wir das im Bewusstsein tun, dass weder die normative Integrität des freiheitlichen Verfassungsstaates noch die Funktionsfähigkeit seiner Organe selbstverständlich sind. Das belegen nicht zuletzt die Entwicklungen in einigen EU-Mitgliedstaaten wie Polen, Ungarn und Rumänien, aber auch die Situation in der Türkei oder in einzelnen lateinamerikanischen Staaten.
Die Effektivität und Bedeutung einer Verfassung hängen unmittelbar ab von den Akteuren, die sie auslegen und durchsetzen. Das sind in erster Linie Verfassungsgerichte. Vor diesem Hintergrund möchte ich zunächst eine verfassungsgerichtliche Standortbestimmung vornehmen, bevor ich sodann in einem zweiten Schritt fünf Herausforderungen umreiße, mit denen das Grundgesetz und die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und in Europa konfrontiert sind.
I. Eine verfassungsrechtliche Standortbestimmung
1. Sind Verfassungsgerichte selbstverständlich?
Am Anfang meiner Überlegungen steht eine alte Frage, die angesichts der Entwicklungen in Polen, Ungarn, Rumänien oder der Türkei, aber auch neuerer kritischer Stimmen insbesondere aus der US-amerikanischen Rechtswissenschaft wieder drängender geworden ist: Wozu brauchen wir eigentlich Verfassungsgerichte?
Bis vor kurzem las sich die Geschichte der weltumfassenden Etablierung des materialen Verfassungsstaates zugleich als ein globaler Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden neben dem Bundesverfassungsgericht nicht nur in zahlreichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Verfas¬sungsgerichte errichtet, so unter anderem in Italien (1956), Frankreich (1958), Spanien (1980), Portugal (1982) und Belgien (1984), sondern z.B. auch in Japan (1947), Taiwan (1948), Südafrika (1994, endgültig 1996) und Lateinamerika (z.B. Chile, Ecuador, Peru, Guatemala). Ein weiterer Entwicklungsschub folgte aus der Demokratisierung der osteuropäischen Länder, in denen sich, angefangen mit Polen (1985), die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit mehr und mehr durchgesetzt hat. Selbst in traditionell parlamentszentrierten Staaten wie Großbritannien konnte man sich dem „Zuge der Zeit“ nicht ganz entziehen und etablierte 2009 den UK Supreme Court, der diese Woche eine weitreichende Entscheidung zur Beurlaubung des britischen Parlaments getroffen hat – ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem echten Verfassungsgericht. Ähnliche Entwicklungen können wir in der exekutiv geprägten Präsidialdemokratie Frankreichs beobachten. Der dortige Conseil Constitutionnel hat vor wenigen Jahren sogar eine konkrete Normenkontrolle eingeführt. Besteht nach alledem über die Idee des Schutzes der Verfassung durch ein Gericht heute vielfacher Konsens, so existieren jedoch erhebliche Unterschiede hinsichtlich Organisation und Kompetenzen der jeweiligen Verfassungsgerichte. Das paradigmatische Verfassungsgericht gibt es nicht.
Die vergleichsweise weitgehenden Kontrollkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts erklären sich zunächst als eine Reaktion auf die Schreckensherrschaft der unter anderem mit Mitteln der demokratischen Wahl an die Macht gekommenen Nationalsozialisten: In Deutschland ist das Wissen darum, dass die ungezügelte Macht der Mehrheit allzu leicht der Versuchung unterliegen kann, die Minderheit zu unterdrücken, besonders präsent. Allerdings hätte 1951 niemand geahnt, welche Autorität und Akzeptanz die Richter aus dem Karlsruher Schlossbezirk einmal auszeichnen würde. Ruft man sich den Streit um die Wiederbewaffnung und die Auseinandersetzungen um den institutionellen Status des Gerichts in Erinnerung, dann war die Etablierung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit nicht selbstverständlich, und schon gar nicht Ausdruck geschichtlicher Notwendigkeit. Vielmehr sind es ganz unterschiedliche Gründe, die das Bundesverfassungsgericht zu dem gemacht haben, was es heute ist. Es hätte auch anders kommen können. Verfassungsgerichte sind fragile Gebilde!
Deshalb muss uns auch die mittlerweile gut dokumentierte Entmachtung und Desavouierung der Verfassungsgerichte in Polen, Ungarn, Rumänien und der Türkei mehr als beunruhigen. Hier könnte ein neuer Gegentrend im Entstehen sein, der ein schlichtes, eher populistisch geprägtes Demokratieverständnis gegen die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers ins Feld führt. Das zentrale und auf den ersten Blick vielleicht sogar intuitiv einleuchtende Argument lautet: Eine Handvoll Richterinnen und Richter darf nicht die Entscheidung der parlamentarischen Mehrheit konterkarieren.
Indes: Spätestens seit den tiefgründigen Analysen von Hans Kelsen Anfang des letzten Jahrhunderts wissen wir in Europa, dass Demokratie sehr viel mehr bedeutet als die Herrschaft der aktuellen Mehrheit im Parlament. Die moderne Demokratie des Verfassungsstaates will vielmehr langfristig die Möglichkeit garantieren, dass die Minderheit zur Mehrheit werden kann. Verfassungsgerichte haben daher die Aufgabe, den Schutz von gesellschaftlichen Minderheiten, von parlamentarischer wie außerparlamentarischer Opposition und die kommunikativen Freiheiten – der Freiheit der Meinungsäußerung, der Presse, der Versammlung und der Vereinigung – zu gewährleisten. Damit eröffnen und bewahren sie Räume, in denen ein kritischer und fruchtbarer gesellschaftlicher Diskurs stattfinden kann und eine Atmosphäre des freien Meinungskampfs um die besten politischen Konzepte herrscht.
Dass Verfassungsgerichte dabei ihre eigenen Grenzen im Auge halten müssen und sich selbst nicht an die Stelle des Gesetzgebers stellen dürfen, ist unbestreitbar. Die Schwierigkeit, das Spannungsverhältnis zwischen demokratischer Mehrheitsentscheidung und verfassungsrechtlicher Bindung immer wieder angemessen aufzulösen, spricht aber nicht gegen die Notwendigkeit ihrer Existenz.
2. Warum ist die Verfassung nicht statisch?
Ein zweiter Aspekt meiner Standortbestimmung ist die Frage, warum Verfassungen nicht statisch sind. Die Eigentümlichkeit der Verfassung als Maßstab der Rechtsanwendung macht die Arbeit von Verfassungsgerichten nicht leichter. Verfassungen sind nicht in Stein gemeißelt und doch der Wechselhaftigkeit tagesaktueller Gesetzgebung enthoben. Auch die Statik des Grundgesetzes ist komplex. Die konstitutionelle Wirklichkeit bewegt sich dabei zwischen drei Polen, die nur scheinbar in einem Verhältnis der Gegensätzlichkeit zueinander stehen: Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfaltssicherung. Wie passt das zusammen?
Eine stabile Verfassung muss nicht statisch sein. Stabilität bedeutet Verlässlichkeit, Sicherheit, nicht aber Unbeweglichkeit oder Starrheit. Oder um es mit dem Liedermacher Wolf Biermann zu sagen: „Die allzu hart sind, brechen!“ Es ist vor allem die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG mit ihrem Ausschluss von Änderungen der identitätsstiftenden inhaltlichen Kernaussagen der Verfassung auch im Verfahren der Verfassungsänderung, die die Ideen, die der Verfassungsgeber zu Recht für unaufgebbar gehalten hat, in die Zeit hinein sichert. Dazu gehören die Verfasstheit der Bundesrepublik als demokratischer sozialer und föderaler Rechtsstaat und die Gewährleistung der Menschenwürde. Aber Art. 79 Abs. 3 GG friert das Grundgesetz nicht etwa insgesamt auf den status quo von 1949 ein. Vielmehr sind viele Regelungen des Grundgesetzes und insbesondere die Grundrechte von großer Offenheit geprägt. Ihr normativer Gehalt muss von den Interpreten der Verfassung immer wieder neu heraus präpariert werden. Auf diese Weise bleibt das Grundgesetz auch gewappnet für neue Herausforderungen einer unbekannten Zukunft und kann gewissermaßen „Schritt halten“ mit der Realität. Dem Gesetzgeber und dem Bundesverfassungsgericht ist die Verfassung nicht allein „gegeben“, sie ist ihnen „aufgegeben auch zur Fortentwicklung“.
Ein aktuelles Beispiel mag das verdeutlichen: Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner jüngsten Entscheidung zur sogenannten „dritten Option“ weitere geschlechtliche Identitäten in den Diskriminierungsschutz des Art. 3 GG einbezogen. Dem Verfassungsgeber mögen 1949 Menschen mit anderen sexuellen Identitäten nicht vor Augen gestanden haben. Der von ihm formulierte Schutzauftrag: „Niemand darf wegen seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden“ liefe aber leer, wenn er nicht im Hinblick auf die heutige Realität konkretisiert würde.
Die Trias von Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfaltssicherung wird vollständig, wenn man nicht nur im Gleichklang der beiden ersten Akzente die Offenheit für neue Entwicklungen anerkennt. Vielmehr spiegelt der dritte Parameter des grundgesetzlichen „Quellcodes“ die Aufgabe, dauerhaft das produktive Zusammenspiel verschiedenster staatlicher und gesellschaftlicher Akteure zu gewährleisten. Pluralität ist kein moralingesäuerter Selbstzweck, sondern Ausdruck des Grundverständnisses aufgeklärter Staatlichkeit: L’État c’est nous! Ich füge hinzu:
Wir alle! Denn Vielfalt will das Grundgesetz auch dort, wo man selbst anderer Auffassung ist. Die reduktionistischen Tendenzen im öffentlichen Meinungsbildungsprozess untergraben die fragile Balance einer pluralen Gesellschaft. Wer den Diskurs holzschnittartig in Kategorien von „wir gegen die“ zwängt und überempfindliche Empörungsreflexe zelebriert, verengt den Freiheitsraum, den die Verfassung uns des gesellschaftlichen Miteinanders wegen zumutet.
II. Herausforderungen für Verfassungsgerichtsbarkeit
Sie sehen, bereits eine bloß nachzeichnende Standortbestimmung von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit ist anspruchsvoll. Der Erfolg des Bundesverfassungsverfassungsgerichts und die weltweite Rezeption seiner Rechtsprechung basieren vor allem darauf, dass sich das Gericht neuen Herausforderungen engagiert gestellt hat. Und die Herausforderungen sind nicht weniger geworden. Fünf Problemfelder möchte ich hier ansprechen.
1. Die Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa
Richten wir den Blick zunächst auf die bereits angesprochene Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa. Wenn der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte im Frühjahr 2018 warnte: „Erode the rule of law and you erode the single market. Erode the single market and you erode the Union”, dann ist das eine ernstzunehmende und nicht grundlos erhobene Stimme. Zugleich wird deutlich, dass es uns nicht egal sein kann, was in Polen, Ungarn oder Rumänien geschieht. Die Erschütterungen, die Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz über ihre Vorbild- und Außenwirkung für die Idee der Rechtsgemeinschaft auslösen, sind grundlegend. Die Europäische Union wird heute zu Recht nicht nur als Rechtsgemeinschaft, sondern auch als Wertegemeinschaft begriffen. Ein in Art. 2 Satz 1 EUV angelegter harter Kern von Werten bildet das zentrale Nervensystem für Europa als Gemeinschaft insgesamt: Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Menschenrechte und das demokratische Prinzip sind das Fundament, das in keinem Mitgliedstaat angetastet werden kann, ohne dass dies in allen anderen Gemeinwesen über die täglich gelebte Wirklichkeit des europäischen Verfassungsgerichtsverbunds zu spüren wäre. Zugriffe auf die unabhängige Verfassungsjustiz sind Angriffe auf die normativen Lebensadern aller der europäischen Idee verbundenen Länder.
Was kann man tun? Maßgeschneiderte Reaktionsmöglichkeiten drängen sich nicht auf. Die Union war bislang stark konsens- wie kompromissorientiert und erscheint bisweilen unvorbereitet auf diese Konflikte, die den europäischen Friedensfortschritt in Frage zu stellen drohen: Sowohl gegen Polen und Ungarn laufen Vertragsverletzungsverfahren. Ungarn steht wegen seiner Eingriffe in zivilgesellschaftliche Institutionen im Fokus, während Polen eine Verletzung der Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und der Unabsetzbarkeit von Richtern vorgeworfen wird. Bezogen auf das Oberste Gericht wurde Polen nun Ende Juni durch den EuGH wegen einer Vertragsverletzung verurteilt. Weitere Vertragsverletzungs- und Vorabentscheidungsverfahren sind in Luxemburg anhängig. Daneben hat die Europäische Kommission gegen Polen bereits im Dezember 2017 ein Verfahren nach Art. 7 EUV wegen der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit angestoßen, an dessen Ende der Stimmentzug im Europäischen Rat stehen könnte. Im September 2018 forderte das EU-Parlament den Rat zur Aufnahme eines solchen Verfahrens gegen Ungarn auf.
Dass die Einschätzung einer Erschütterung des europäischen Raums der Freiheit und des Rechts bis in die Mitgliedstaaten hinein geteilt wird, zeigt das Vorabentscheidungsersuchen des irischen High Court an den EuGH. Dem EuGH wurde die Frage vorgelegt, ob eine Auslieferung eines Straftäters nach Polen in Vollzug eines europäischen Haftbefehls aufgrund der dortigen rechtsstaatlichen Defizite zulässig sein kann. Der Gerichtshof hat mit seiner Entscheidung vom 25. Juli 2018 den Ball in das Feld der Mitgliedstaaten zurückgespielt und den irischen Justizbehörden aufgegeben, im konkreten Fall selbst zu prüfen, ob die Unabhängigkeit der jeweiligen Richter gewahrt ist. In einem ähnlichen Kontrollzugriff hat der EuGH übrigens zuletzt den deutschen Staatsanwaltschaften bei der Ausstellung europäischer Haftbefehle enge Grenzen gezogen. Man sieht, dem Rechtsstaatsdiskurs müssen auch wir uns stellen.
Ob die gerichtlichen Reaktionen auf gemeineuropäische Werteverletzungen seitens einiger Mitgliedstaaten die Gesamtsituation verändern werden, ist ungewiss. Unklar ist auch, wie die für die „nukleare Option“ eines Stimmentzugs erforderliche Einstimmigkeit, die das Art. 7-Verfahren verlangt, erreicht werden kann, solange die ungarische und die polnische Regierung sich hier gegenseitig die Stange halten. Zweierlei erscheint mir jedoch sicher: Erstens brauchen wir einen intensiven öffentlichen Diskurs über die unverbrüchlichen Minimalia rechtstaatlicher Anforderungen in der Europäischen Union. Und zweitens dürfen nachhaltige Verstöße gegen diesen Grundwert nicht unsanktioniert bleiben. Ansonsten bliebe von der Union nur eine leere Hülle ohne inneren Kompass.
2. Rechtsskepsis
Als weitere Herausforderung möchte ich auf die aktuell zu beobachtende generelle Skepsis gegenüber dem Recht eingehen. Denn die Diskreditierung des Rechts und der zu seiner Durchsetzung berufenen staatlichen Institutionen ist sozusagen der Nährboden, auf dem die Angriffe auf rechtsstaatliche Einrichtungen in Europa erst wachsen können. Skepsis und Diskreditierung des Rechts finden dort breites Echo, wo die politische Debatte sich radikalisiert, wo das Ringen um Ausgleich und Kompromiss der schlichten Diffamierung des politischen Gegners weicht und die politischen wie sozialen Ordnungsfaktoren der Gesellschaft grundsätzlich in Frage gestellt werden. Auch die Bundesrepublik Deutschland ist vor solchen in ganz Europa und darüber hinaus zu beobachtenden Tendenzen nicht gefeit. Akzeptanzverluste für das Recht drohen hier insbesondere von zwei Seiten, die in einem Wechselverhältnis zueinander stehen.
Zum einen scheint das Vertrauen vieler Bürgerinnen und Bürgern in die handlungsleitende Bindekraft rechtlicher Regeln bei tagespolitisch orientierter Krisenbewältigung zu schwinden. Während einige dem Recht schon an sich die Fähigkeit absprechen, bestimmte Probleme in den Griff zu bekommen, sehen andere seinen Vollzug in der „Krise“ als nicht gesichert an. Die erste Variante der Rechtsskepsis lässt sich gut am Beispiel der europäischen Staatsschuldenkrise illustrieren. Der insbesondere von Ökonomen formulierte Vorwurf lautet: Das Recht dringe aufgrund zu lebensferner Abstraktheit nicht zum Kern der Krise durch. Die betroffenen Sachbereiche seien zu komplex für starre, binär nach dem Schema Recht/Unrecht kodierte Problemlösungen. Dementsprechend fehle der Raum für pragmatische Kompromisse. Zudem fehle es an Fach- und Spezialwissen bei den demokratisch und diskursiv agierenden Parlamenten und Gerichten, um angemessen auf die Komplexität und Dynamik der Probleme zu reagieren. Diese Einschätzung verkennt indes, dass die angeblichen Nachteile des Rechts, nämlich Distanz und Abstraktion, tatsächlich Vorteile sind. Abstrakte Maßstäbe, Leitlinien oder – grundlegender formuliert – das allgemeine Gesetz geben Halt und schaffen eine gemeinsame Verständigungs- und Entscheidungsbasis auch dort, wo ansonsten heterogene Kultur- und Interessensphären der gemeinsamen Erarbeitung und Akzeptanz von Problemlösungen im Wege stehen. Gerade die rechtliche Einhegung der Kriseninterventionen im Rahmen der europäischen Staatsschuldenkrise durch verschiedene europäische und intergouvernementale Rechtsakte einerseits sowie Judikate des EuGH und der nationalen Verfassungsgerichte andererseits belegen somit eher die Leistungsfähigkeit des Rechts.
Zum anderen begegnet das staatliche Management von Krisensituationen Kritik. Der Vorwurf staatlichen Versagens ist zuletzt besonders drastisch im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise und der „Grenzöffnung im Herbst 2015“ erhoben worden. Von dieser Kritik ist es nicht mehr weit bis zur Diskreditierung der Verfassungsjustiz und von Recht überhaupt. An dieser Stelle fehlt der Raum, konkrete Fallkonstellationen jeweils rechtlich einzuordnen und zu bewerten. Wir sollten uns aber klar machen, dass einzelne staatliche Rechtsverstöße die Idee des Rechts selbst nicht zu diskreditieren vermögen: In einem Rechtsstaat werden Rechtsverstöße ermittelt, benannt und sanktioniert. Unrecht herrscht erst dann, wenn Recht systematisch missachtet oder sein Geltungsanspruch generell in Abrede gestellt wird. Gerichtliche Entscheidungen müssen daher auch dann befolgt werden, wenn man sie für unzweckmäßig oder falsch hält. Unabhängig davon entpuppen sich die Vorwürfe eines Rechtsverstoßes bei genauerem Hinsehen nicht selten lediglich als Konflikte über die richtige Interpretation offener und konkretisierungsbedürftiger Normen oder das Zusammenwirken mehrerer Normschichten. Solche Konflikte sprechen nicht gegen das Recht, sondern sind konstituierender Teil einer lebendigen Rechtsgemeinschaft.
3. Grundrechtsschutz im Mehrebenensystem
Eine dritte Herausforderung für nationale und internationale Verfassungsgerichte besteht darin, den Grundrechtsschutz im Mehrebensystem aus Europa- und Völkerrecht lebendig und effektiv zu erhalten. Das Bundesverfassungsgericht versteht sich seit seinen Anfangsjahren als Bürgergericht. Aus dieser über viele Jahrzehnte erarbeiteten Traditionslinie schöpft die gesamte deutsche Justiz einen Großteil des Vertrauens, das sie bei den Bürgerinnen und Bürgern zu Recht genießt. Es ist aber nicht einfach, diesen Grundrechtsschutz im mehrstimmigen Konzert mit der Grundrechtecharta der EU und der Menschenrechtskonvention des Europarats frei von größeren Dissonanzen zu halten. Diese Herausforderung ist beileibe nicht neu, sondern prägt etwa das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und EuGH seit den 70er Jahren. Angefangen mit der Solange I-Entscheidung und dem damals formulierten Vorbehalt der Kontrolle von Gemeinschaftsrecht, über die Rücknahme des Überprüfungsanspruchs in Solange II bis hin zur mittlerweile konsolidierten Reservekompetenz des Bundesverfassungsgerichts, wie sie etwa im Lissabon-Urteil konturiert wurde. Vor allem die stetige Ausweitung des Anwendungsbereichs der Grundrechte-Charta durch den EuGH gibt Anlass zur Sorge.
Ich persönlich halte einen eigenen geschützten Interpretationsspielraum der nationalen Verfassungsgerichte für unerlässlich. Die auf der nationalen Ebene generierten – auch kritischen – Impulse unterstützen letztlich die bessere „Verortung“ und Einbindung europäischer Entscheidungen im nationalen Rechtsrahmen. Dass es hierbei zu Spannungen mit dem EuGH oder dem EGMR kommen kann, liegt in der Natur der Sache, sollte aber nicht den Blick darauf verstellen, dass der bereits angesprochene europäische Verfassungsgerichtsverbund Widerspruch und Kritik aushält und hierdurch sogar innerlich erstarkt. Im Verhältnis zum EuGH bewähren sich etwa Art. 267 AEUV und das Vorabentscheidungsverfahren zur prozeduralen Sicherung des Vorrangs des Europarechts einerseits und zur Verantwortungsteilung in einem komplexen rechtlichen Verbund andererseits. Sachnähe, Zielgenauigkeit, Kontextabhängigkeit, all diese Parameter stehen jedoch einer „formalistischen Gleichmacherei“ und Zentralisierung des Grundrechtsschutzes entgegen. Grundrechtsschutz im Mehrebenensystem gibt es nur föderalistisch und kontextsensibel. Im Verhältnis zum EGMR gilt nichts anderes. Die Orientierungs- und Leitfunktion seiner Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont, zuletzt nochmal im Juni 2018 in seinem Urteil zum Beamtenstreikverbot. Die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung enden freilich dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint. Im Übrigen ist auch im Rahmen der konventionsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes die Rechtsprechung des EGMR möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen.
Dass diese kontextsensible Verschränkung des Grundrechtsschutzes im Mehrebenensystem nicht eben einfach ist, zeigt etwa ein Blick auf das Grundrecht der Religionsfreiheit. Alle drei für Deutschland maßgeblichen Rechtskreise – Grundgesetz (Art. 4), EU-Grundrechtecharta (Art. 10), EMRK (Art. 9) – garantieren die Religionsfreiheit, und zwar dem Wortlaut nach sehr ähnlich. Und doch ist das Verhältnis nationalen Verfassungsrechts zu den Ebenen des Konventions- und Völkerrechts einerseits und des Europarechts andererseits deutlich komplexer, wie die mitunter sehr unterschiedliche Auslegung des Gewährleistungsgehalts der Religionsfreiheit in den zur Letztentscheidung über die jeweiligen Grundrechtskataloge berufenen Gerichten zeigt. Ich möchte hier nur das Stichwort des kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland und die europaweite Debatte um ein Kopftuchverbot nennen, um die Wichtigkeit von Sachnähe, Zielgenauigkeit und Kontextabhängigkeit zu verdeutlichen. So sind etwa die Erwägungen, die z.B. für den traditionell streng laizistischen Rechtskreis Frankreichs gelten, auf das Grundgesetz, das von einer wohlwollenden Neutralität des Staates in weltanschaulich-religiösen Fragen ausgeht, nur schwer übertragbar.
4. Grundrechtsschutz gegen Private
Als vierte Herausforderung für Verfassungsgerichte sehe ich Gefährdungslagen für individuelle Freiheitssphären, die ihren Ursprung nicht in staatlicher Zwangsgewalt, sondern in der global agierenden Daten- und Digitalwirtschaft haben. Google, Amazon, Facebook, um nur einige bekannte US-amerikanische Akteure zu nennen, lassen sich über die klassische Abwehrfunktion der Grundrechte verfassungsrechtlich nicht domestizieren. Das bedeutet aber nicht, dass Verfassungsgerichten hier die Hände gebunden wären. Schon vor 60 Jahren rückte das Lüth-Urteil die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte in Privatrechtsverhältnissen in den Fokus und fand auf „neuartige“ Gefährdungslagen adäquate Antworten in der Verfassung. Seitdem ist die Konstitutionalisierung der einfachen Rechtsordnung weiter vorangeschritten. In den 70er Jahren stellte das Bundesverfassungsgericht den dogmatischen Figuren der „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte und ihrer „mittelbaren Drittwirkung“ die Idee der grundrechtlichen Schutzpflichten zur Seite, die es dem Einzelnen erlaubt, den Gesetzgeber zum Schutz vor Gefährdungen seiner Grundrechte durch Private zu verpflichten.
Dass das Grundgesetz weiterhin in der Lage ist, für Gefährdungen grundrechtlicher Freiheit auch in komplexen, privatrechtlich geprägten Konstellationen angemessene Lösungen zu bieten, zeigen auch einige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus jüngerer Zeit. So bejahte der Erste Senat in seinem Beschluss zum Stadionverbot die mittelbare Drittwirkung des Gleichheitsgebots, wenn einzelne Personen mittels des privatrechtlichen Hausrechts von Veranstaltungen ausgeschlossen werden, die von Privaten einem größeren Publikum ohne Ansehen der Person geöffnet werden. Bedeutsam sind auch die Auswirkungen, die die weitgehende Privatisierung öffentlicher Unternehmen auf deren Grundrechtsbindung hat, worüber etwa im Fraport-Urteil zu entscheiden war. Die Versammlungsfreiheit gilt danach auch im Frankfurter Flughafen. Ähnlich anspruchsvoll sind etwa die Folgen von Privatisierungen für parlamentarische Auskunfts- und Beteiligungsrechte und damit für das demokratische Leben selbst; der Zweite Senat stellte in seinem Urteil vom 7. November 2017 fest, dass die Bundesregierung im Bundestag Fragen zur operativen Vorgängen in der Deutschen Bahn AG beantworten muss. Sicherlich reichen diese Entscheidungen nicht aus, um den Gefährdungen durch globale Tech-Giganten und ihre quasi-öffentliche Dimension effektiv zu begegnen, zumal die Herrschaft der Algorithmen unseren Lebensalltag in der Zukunft noch viel stärker prägen wird als bisher. Sie stimmen aber vorsichtig optimistisch, dass auch im digitalen Zeitalter das Grundgesetz schützende Kraft entfalten kann.
5. Grundgesetz und europäische Integration
Zu guter Letzt möchte ich auf die Herausforderung der verfassungsrechtlichen Einhegung der europäischen Integration eingehen. Das Bundesverfassungsgericht ist häufig dafür gescholten worden, Rechtsakte, die im weitesten Sinne die europäische Integration betreffen, einer verfassungsrechtlichen Überprüfung zu unterziehen. Das betrifft etwa Zustimmungsgesetze zu Vertragsveränderungen oder das Handeln einzelner europäischer Institutionen, wie beispielsweise der EZB. Sicher gibt es auch berechtigte Einwände. Schaut man aber zurück auf die letzten Jahrzehnte, so wird man sich auch von kritischer Seite der Erkenntnis nicht verschließen können, dass es dem Gericht gelungen ist, ein dichtes Netz an dogmatischen Figuren und Prinzipien zu knüpfen, das den Prozess der Integration einerseits produktiv anleitet und andererseits seine verfassungsrechtliche und demokratische Rückanbindung sicherstellt. Wichtige Knotenpunkte dieses Netzes sind: die überwölbenden Grundsätze der Europarechtsfreundlichkeit und der Integrationsverantwortung, die Instrumente der Ultra-vires- und Identitätskontrolle sowie das in Art. 38 Abs. 1 GG verankerte „Recht auf Demokratie“. Die im Nachgang zur Maastricht- und Lissabon-Entscheidung gelegentlich geäußerte Sorge, diese Rechtsprechung behindere die weitere Entwicklung der Europäischen Union, hat sich als unberechtigt erwiesen. Das Gegenteil ist aus meiner Sicht der Fall: Insbesondere die in vielen Entscheidungen vorgenommene genaue Analyse einzelner Integrationsschritte und ihrer Folgen, die von diesen Entscheidungen ausgehende Vorwirkung im Sinne eines allgemeinen Verrechtlichungsimpulses und die Stärkung des parlamentarischen Einflusses auf europapolitische Entscheidungsprozesse haben jedenfalls in Deutschland das Vertrauen in das europäische Projekt eher gestärkt. Und es dürfte kein Zufall sein, dass viele Verfassungsgerichte anderer Mitgliedsstaaten der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mittlerweile in zentralen Aspekten gefolgt sind. „Integration durch Recht“ ist eben kein deutscher Sonderweg!
Lassen Sie mich diesen Punkt aufgrund seiner Aktualität noch etwas vertiefen. Integration durch Recht ist ohne einen lebendigen europäischen Verfassungsgerichtsverbund nicht denkbar. Wie dieser Verbund in der Praxis funktioniert, zeigen etwa die beiden Verfahren zu den Grenzen der Handlungsmöglichkeiten der Europäischen Zentralbank: Da das Bundesverfassungsgericht Zweifel an der Vereinbarkeit des sogenannten OMT-Beschlusses der EZB mit den Vorgaben des Unionsrechts hatte, setzte es im Januar 2014 zunächst das Verfahren aus und legte dem EuGH gemäß Art. 267 AEUV – erstmals – mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor. Der EuGH folgte dem Zweiten Senat nicht im Ergebnis, nahm aber zentrale Aussagen des Vorlagebeschlusses auf und trug jedenfalls den Karlsruher Bedenken dahingehend Rechnung, dass das Handeln der EZB der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Damit konnte das Bundesverfassungsgericht gut leben und führte – versehen mit verschiedenen Sicherungsmaßgaben – die verfassungs- und unionsrechtlichen Rechtskreise in seinem OMT-Urteil zusammen.
Mit einem zweiten Vorlagebeschluss vom Juli 2017 zu Anleihekaufprogrammen der EZB nahm das Bundesverfassungsgericht die Argumentationslinie des EuGH aus diesem Vorabentscheidungsdialog auf. Mit seinem Urteil vom Dezember letzten Jahres kam der Gerichtshof erneut zum Ergebnis, dass sich die EZB europarechtskonform verhalten hat. Damit ist das Bundesverfassungsgericht wieder am Zug. Die mündliche Verhandlung Ende Juli dieses Jahres hat dabei deutlich gezeigt, dass nicht ganz klar ist, inwieweit der EuGH an seiner ursprünglichen Rechtsauffassung in der ersten Vorlageentscheidung festhält. Vor diesem Hintergrund muss Karlsruhe nun eine endgültige Entscheidung treffen.
Unabhängig vom konkreten Ergebnis gilt aber: Die fortschreitende Internationalisierung bringt für nationale Verfassungsgerichte nicht nur Einflussverluste, sondern zugleich die Chance, im europäischen Mehrebenensystem an der Errichtung einer verbindlichen gemeineuropäischen Verfassungs- und Rechtsordnung mitzuwirken.
III. Resümee
Damit bin ich am Ende meines Überblicks über einige der Herausforderungen, denen sich das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht stellen müssen. Ein Resümee fällt schwer, genauso wie eine klare Antwort auf die Frage, ob die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes weitergeht. Das Bundesverfassungsgericht selbst scheint mir für zukünftige Herausforderungen gut gewappnet, die Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa wird an ihm aber nicht spurlos vorübergehen. Unser Ziel muss es daher sein, der Idee des demokratischen Verfassungsstaates europa- und weltweit wieder neuen Glanz zu verleihen. Das wird nur mit der Bereitschaft zur Selbstkritik, mit Mut und Engagement und im Zusammenwirken mit anderen Verfassungsorganen und Verfassungsgerichten auf der Welt gelingen. Es gibt kaum einen besseren Ort als Herrenchiemsee, daran zu erinnern.