Herr Bürgermeister, verehrtes Kleines Gremium, verehrtes Collegium,
wir beginnen zu begreifen, dass es geopolitisch für Europa in den nächsten dreißig Jahren um nichts weniger gehen wird, als um die Selbstbehauptung in einer zunehmend nicht-westlichen Welt, mit neuen großen Mächten und riesigen globalen Herausforderungen.
Ein kluger Satz. Er stammt nicht von mir. Aber er wurde hier an diesem Pult gesagt, vor einem Jahr, von Timothy Garton Ash, in anderem Zusammenhang. Europas Selbstbehauptung ist in der Tat unsere größte politische Aufgabe der kommenden Jahrzehnte, und sie ist enger mit Afrika verbunden, als wir bisher gedacht haben. Ich möchte Ihnen heute nahebringen, dass wir auf einem Doppelkontinent leben wie die Amerikaner; und dass wir das als eine große Chance sehen sollten, die wir ergreifen müssen – furchtlos und konstruktiv.
Dafür müssen wir geopolitisch denken – etwas ungewohnt für uns Deutsche. Nicht defensiv und nur fixiert auf die unordentliche Migration, auch wenn sie uns gerade auf den Nägeln brennt. Nein, offensiv, und mit neuen Fragen: Wo liegt das Potenzial für Synergie, für Kongruenz, für Komplementarität? Kann Europa, nach dem Ende von vierhundert Jahren planetarischer Dominanz, sich neu definieren gegenüber seinem Nachbarkontinent, dessen Stimme lauter wird und dessen Gewicht steigt? Wie können beide Erdteile gewinnen durch Interaktion, statt zu verlieren durch Konfrontation? Und was müssen wir tun, damit wir es sind, die Afrika näherkommen, und damit nicht andere es vereinnahmen?
Große Fragen nach einem köstlichen Bremer Abendbrot im schönsten Rathaus Norddeutschlands. Meine Antworten will ich Ihnen frei von Rücksichten geben, so ehrlich wie ich kann. Vier Kategorien will ich abklopfen auf ihre Bedeutung für die langfristige Koexistenz der beiden ungleichen Kontinente.
Erstens die Geographie;
zweitens die Demographie;
drittens die Ökonomie;
und viertens die Kultur, und mit ihr die Menschenwürde.
Erstens, zur Geographie: Das Tabak-Collegium hat Ihnen drei Landkarten geschickt. Als gute Gäste haben Sie die schon zuhause studiert, denn Sie wussten ja, dass es hier stockdunkel ist. Sie haben festgestellt, dass gemäß der flächentreuen Projektion des vor zwanzig Jahren verstorbenen Bremer Geographen Arno Peters Afrika so groß ist wie Europa, China, Indien und die USA zusammen. Der Kongo allein übertrifft Europa mit seiner Landmasse. Das ist die eine Landkarte, ungewohnt für unser Auge. Die andere, die Mercator-Projektion, kennen wir seit dem 16. Jahrhundert. Skandinavien und Russland sind riesig dargestellt, Afrika dagegen klein. Welche Karte ist die richtige?
Darüber mögen die Geographen streiten, und jedenfalls sollten Sie nicht zu sehr erschrecken. Denn Wüste und Savanne bedecken halb Afrika, und die andere Hälfte ist landwirtschaftlich nur unzureichend genutzt. Straßen und Schienen sind rar jenseits der Küsten. Das wird aber nicht so bleiben. Wenn Afrika nur sein Bewässerungsproblem löst, wird sich sein wirtschaftliches Potenzial verdreifachen. Wer könnte dabei besser helfen als Europa, und Deutschland insbesondere? Wenn Afrika sich weiter elektrifiziert mithilfe der Sonne, die überall scheint, wird Armut sinken, wird Bildung wachsen. Wir haben dafür die technischen Lösungen. Am Horizont steht also Synergie ohne Ende. Nutzen wir sie geschickt und beherzt, dann werden junge Afrikaner auch zuhause neue Chancen für sich sehen. Sie werden bleiben, statt zu wandern. Dafür muss Afrikas Geographie von einer Last zu einem Vorteil werden. Eine immense Aufgabe für die nächsten fünfzig Jahre, und ein zentrales Interesse für Europäer und Afrikaner. Haben Sie also bitte Respekt vor der Geographie, aber keine Angst.
Zur Geographie gehören auch unsere Sicherheitsinteressen. Wir haben heute hohe Repräsentanten der Bundeswehr unter uns. Ihre Präsenz, meine Herren, zeigt, dass Afrika in Ihr Blickfeld gerückt ist. Weniger weil die Afrikaner uns gefährlich werden könnten oder wollten, aber umso mehr wegen der wachsenden Präsenz von Mächten auf dem Kontinent, die uns nicht a priori wohlgesonnen sind. Chinesische Marinestützpunkte erfordern unsere Wachsamkeit ebenso wie russische Söldner in einem halben Dutzend besonders armer afrikanischer Staaten. Waffen und Gerät aus Russland und China dominieren die afrikanischen Märkte – muss das so bleiben?
Gehen wir von der Geographie nun – zweitens – zur Demographie: Sie beunruhigt uns, in Lampedusa, auf den Straßen von Paris, Berlin, und auch von Bremen. Die unkontrollierte Migration hat unseren Demokratien einen heftigen Schüttelfrost verpasst. Eine wirksame Therapie suchen wir bisher vergeblich.
Der unvergessene Kofi Annan hat Afrika einmal beschrieben als einen sehr reichen Kontinent mit zu vielen armen Menschen. Nirgendwo auf der Welt wächst die Bevölkerung schneller. Heute 1,4 Milliarden Menschen, 2050 eine Milliarde mehr. Zum Vergleich: Europa heute – 450 Millionen, Tendenz Schrumpfung und Alterung.
Afrika wächst also schneller als der Rest der Welt, auch wenn die Kinderzahlen langsam sinken. Über vier Kinder pro Frau sind kontinentaler Durchschnitt – das war das Niveau Asiens und Lateinamerikas vor fünfzig Jahren. Und im Tropengürtel liegt die Reproduktionsrate noch weit höher. Ich gebe Ihnen ein krasses Beispiel: Bangladesch und Nigeria hatten 2015, vor nur acht Jahren, gleich viele Einwohner, jeweils 140 Millionen. Heute liegt Nigeria bei 225, Bangladesch aber nur bei 173 Millionen. In acht Jahren also 52 Millionen Differenz. Die asiatische Kurve verflacht, die afrikanische wird steiler, noch auf längere Sicht.
Genug der Zahlen. Versetzen wir uns stattdessen in die Perspektive der Afrikaner, die das Drama der Demographie ja in erster Linie betrifft:
– Die junge städtische Mittelklasse, die das teure Schulgeld aufbringen muss für eine gute Erziehung der Kinder;
– Die Frauen auf dem Land, die mit drei Kindern besser leben könnten als mit sechs oder sieben;
– Und die Männer in den Dörfern, denen das Umdenken so schwerfällt. Sie hören zu wenig auf ihre Frauen; sie schicken oft nur die Söhne zur Schule; sie begreifen nicht, dass auch die Töchter Schulbildung brauchen, zur Vermeidung früher Schwangerschaften und für ein besseres Leben.
Meine Frau und ich haben uns oft gefragt, warum die First Ladies Frauen und Mädchen nicht zur Geburtenkontrolle ermutigen, und ihnen sagen: bitte nur so viele Kinder wie ihr ordentlich erziehen könnt, also zwei oder drei.
Die First Ladies, mit denen wir darüber sprechen konnten, haben sämtlich genickt, geseufzt und geschwiegen. Wir haben daraus gelernt, dass der Sprung aus dem langen Schatten der Tradition seine Zeit braucht. Er wird sicher kommen, aber Jahrzehnte zu spät. Erst neue, jüngere Eliten werden ihn treiben, ermutigt von den sozialen Medien, die auch in Afrika enorme Wirkungskraft haben. Die Stadt muss sich dabei gegen das Dorf durchsetzen. Denn dort predigt niemand Geburtenkontrolle – weder der rückständige Imam noch der evangelikale Prophet. Nigeria, um auf mein Beispiel zurückzukommen, hat beides im Übermaß: Koranschulen im Norden und Erweckungskirchen im Süden.
Mit einem Wort, meine Damen und Herren: Keine Entwarnung für Lampedusa im nächsten Sommer. Er wird wahrscheinlich schlimmer als der vorige. Bis auf weiteres müssen wir mit dem Drama der Demographie leben. Es wird auch meinen dritten Punkt, die wirtschaftliche Entwicklung, wesentlich mitbestimmen.
Drittens also nun zur Ökonomie:
Afrikas Wirtschaftswachstum ist letzthin zu schwach gewesen, um die Armut zurückzudrängen. Bei den heutigen Wachstumsraten zwischen zweieinhalb und vier Prozent kann das Pro-Kopf-Einkommen nicht steigen, denn die Zahl der Köpfe wächst ja im gleichen Rhythmus. Man spricht für die Zeit seit 2015, als die Rohstoffpreise einbrachen, daher von einem verlorenen Jahrzehnt. In diesem Jahr wächst die Wirtschaft in Südafrika um 0,5, in Nigeria um 2,9 und in Angola um 1,3 Prozent – völlig unzureichend. Stagnation aber ist gefährlich, für Afrika wie für Europa. Kann sich das in naher Zukunft wieder bessern? Hier drei Antworten auf die drei wichtigsten geoökonomischen Fragen:
– Was sind Afrikas Prioritäten?
– Was will China?
– Und was wollen und tun wir Europäer?
Erstens also – Was wollen die Länder Afrikas selbst?
Nicht leicht zu beantworten, denn die 55 Staaten des Kontinents haben nicht den gleichen Entwicklungsstand. Aber es gibt ein paar Linien, die sich durch ganz Afrika ziehen lassen. Sieben Prioritäten will ich Ihnen nennen:
1. Eine effiziente Landwirtschaft mit moderner Bewässerungs- und Düngetechnik, an den Küsten auch mit Meerwasserentsalzung. Werden die riesigen Brachen kultiviert, dann sinkt die Abhängigkeit von Importen;
2. Eine Industrialisierung in personalintensiven Sektoren. Asiatische Erfolgsgeschichten wie Bangladesch oder Sri Lanka lassen sich bei guter Planung in Afrika fortschreiben;
3. Eine Verbesserung der Wertschöpfung an Ort und Stelle. Immer noch exportiert Afrika seinen unermesslichen Reichtum an Rohstoffen fast ohne Veredelung. Entwicklungspolitisch ist das ein Skandal, und als solchen sehen ihn auch die Afrikaner. Nicht nur China wird dafür kritisiert, sondern auch wir. Ein Beispiel, vielleicht etwas schmerzhaft für Bremer und Hamburger: In Uganda wächst der beste Kaffee der Welt. Ich war dort Botschafter und versuche seitdem, Deutschlands große Kaffeeröster zum Abschied von ihrem veralteten Geschäftsmodell zu bewegen. Der Kaffee aus den Bergen Ostafrikas sollte nicht einfach weiter bei uns geröstet werden, ohne Schaffung von Mehrwert an seinem Ursprungsort. Man kann heute gut in Kenia, Äthiopien, Uganda und Ruanda rösten und weltweite Vertriebsnetze von dort aus steuern, mit fähigen afrikanischen Partnern;
4. Priorität Nr. 4: Ein afrikanischer Binnenmarkt. Seit 2018 gibt es das panafrikanische Freihandelsabkommen, die meisten Staaten Afrikas haben es bereits ratifiziert. Das ist ein großer Schritt voran, der nun der Umsetzung harrt. Hier heißt es geduldig sein. In Europa haben wir für unseren Binnenmarkt ein halbes Jahrhundert gebraucht, seit dem Beschluss der vier Grundfreiheiten 1957. In Afrika wird es schneller gehen.
5. Eine moderne Infrastruktur, ohne die der entstehende Binnenmarkt sich nicht wird entfalten können. Das hat niemand so klar erkannt wie die Chinesen. Aber das muss nicht heißen, dass Europa da chancenlos ist, ich komme noch darauf zurück.
6. Eine Regelung der erneut stark gestiegenen Staatsschulden. Sie sind heute schwerer zu handhaben als vor zwanzig Jahren, als die meisten Fäden noch beim Pariser Club zusammenliefen. Damals hatte der Westen Afrikas Schulden weitgehend abgeschrieben. Heute aber ist China der Hauptgläubiger, und es will keinen Renminbi erlassen. Viele Regierungen haben auch Eurobonds gegeben. Die müssen bei Fälligkeit jetzt durch höher verzinste Kredite abgelöst werden. Die Schuldenbombe tickt.
7. Und letztens: Afrika braucht bessere Regierungssysteme und weniger Korruption. Das sage nicht ich, das sagen fast alle Afrikaner, und es ist ihre Aufgabe, das hinzukriegen, nicht unsere. Wir können allenfalls kleine Bausteine beitragen, etwa mit Beratung durch unsere politischen Stiftungen. Aber bitte mit allergrößter Zurückhaltung und nur, wenn wir gefragt werden. Das muss man übrigens als deutscher Botschafter zuweilen auch durchreisenden Abgeordneten vermitteln, vor allem aus Parteien, die genau wissen, wie Afrika funktionieren sollte. Gute Regierungsführung lässt sich aber nicht verordnen. Wer Demokratie haben will, der muss sie sich erkämpfen. Wer sie nicht hat oder nicht haben will, mit dem müssen wir trotzdem respektvoll umgehen. Tun wir das nicht, dann überlassen wir unseren Platz anderen – zu unserem geopolitischen Nachteil.
So viel zu Afrikas Prioritäten. Sie sind getrieben von der Notwendigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen. Denn das Drama der Demographie ist zugleich das Drama der Wirtschaft. 40 Prozent der Afrikaner sind unter fünfzehn. Damit diese jungen Leute in Lohn und Brot kommen, braucht Afrika 18 Millionen neue Jobs pro Jahr – sechsmal mehr als heute entstehen. Das geht nicht allein mit klassischer Entwicklungspolitik, sondern nur mit großen Investitionen. Die größte Herausforderung für den Doppelkontinent heißt also: Wie kommt Arbeit nach Afrika, und was kann Europa dafür tun?
Denn China, der zweite Gegenstand meiner Betrachtung der Ökonomie, hat andere Prioritäten – es sind drei: Zugang zu kritischen Rohstoffen, verlässliche Transport- und Lieferketten und geopolitischer Einfluss.
Seit der Jahrhundertwende sind die Chinesen in Afrika überall präsent. Vor zehn Jahren begann das Projekt der Neuen Seidenstraße, mit pharaonischen Dimensionen. Chinesische Staatsfirmen bauten Straßen, Eisenbahntrassen, Flughäfen, Stadien und Regierungsgebäude. Telekommunikationsnetze wurden etabliert, Pipelines verlegt und Häfen akquiriert. Die Bilanz ist eindrucksvoll und überall sichtbar. Nur Arbeitsplätze hat China kaum geschaffen. Zum Ärger der Afrikaner bringt es sein Personal mit, bis hinunter zum Kranfahrer.
Die Neue Seidenstraße ist breit und langfristig angelegt. China hat sich Klienten herangezogen, mit Geschenken, Krediten, Sonderwirtschaftszonen und vielen schnellen und praktischen Antworten auf afrikanische Wünsche. Es erkauft sich mit der Seidenstraße die politische Unterstützung der Schuldnerländer, vor allem in den Vereinten Nationen. Das ist Geopolitik reinsten Wassers.
Chinas Afrikapolitik ist ein Teil seiner Weltpolitik, und die lautet mit Blick auf die USA: einholen und überholen, frei nach Chruschtschow, der damit vor sechzig Jahren gescheitert ist. Neuerdings registrieren wir, dass auch China sein weltpolitisches Ziel verfehlen könnte. Der Bau der Seidenstraße hat sich seit der Pandemie verlangsamt, die Kreditausfälle sind in die Höhe geschossen. Das erhöht unsere Chancen auf einen Pendelschlag zurück zur Achse Europa-Afrika. Auch wenn wir nie zur alten Exklusivbeziehung zurückkehren werden, denn das wird Afrikas wachsende politische Emanzipation nicht mehr erlauben.
So viel also zu Chinas Interessen und Perspektiven, und nun zur
dritten Frage: Was wollen und was tun wir Europäer in und mit Afrika?
Bis zum Fall der Mauer war Westeuropa Afrikas wichtigster Partner, allenfalls politisch herausgefordert von Sowjetunion und DDR, aber kaum wirtschaftlich.
In der multipolaren Welt der Gegenwart hat sich das grundlegend geändert. Der afrikanische Blick richtet sich nicht mehr automatisch nordwärts. Es gibt heute Alternativen: billigen Dünger aus Russland, Konsumgüter aus China, Motorräder aus Indien. Die Golfstaaten finanzieren den Hafenbau, türkische Baufirmen sind stark in Ostafrika. Auch das innerafrikanische Investment nimmt zu – Nigeria dominiert beim Zement und überzieht den Kontinent mit seinen Banken, wie übrigens auch Marokko.
Das Bild ist also ziemlich bunt geworden. Wäre ich Afrikaner, würde ich hinzufügen: Das ist auch gut so, denn warum sollen wir immer wählen müssen zwischen Europa und China, wie einst im Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion? Viel zu lange waren wir nur Objekt fremder Interessen. Wir lassen uns nicht mehr vereinnahmen. Wir stimmen in New York nach unseren Interessen ab. Wir wollen vielleicht in Europa Geld verdienen, denn dort lebt man gut. Aber bestimmt nicht nach China auswandern, da wird man kujoniert und überwacht. Wir nehmen von allen unseren Partnern, was sie uns geben können und bleiben neutral, wenn sie sich streiten, in der Ukraine, in Gaza oder anderswo. Wir gehen unseren Weg mit allen, die uns begleiten wollen.
Dies, verehrtes Collegium, ist das Afrika, das uns heute gegenübersteht. Wir haben Konkurrenz und müssen deshalb besser sein. Das ist nicht aussichtslos, denn mit unserer Lebensweise und unseren offenen Gesellschaften bleiben wir attraktiv. Unsere „soft power“ ist der Chinas und Russlands weit überlegen. Leider machen wir aber auch dumme Fehler wie vor drei Jahren, als Afrika sich bei der Versorgung mit Corona-Impfstoff hinten anstellen musste. Das wurde als Deklassierung wahrgenommen, in kolonialistischer Tradition unseligen Angedenkens. Der Westen darf sich so etwas nicht noch einmal erlauben.
Wir könnten vieles besser machen. Schlupflöcher schließen, durch die illegale Finanzströme aus Afrika fließen; die Verschiebung von Gewinnen innerhalb multinationaler Unternehmen reduzieren – sie kostet Afrika jedes Jahr mehr als es an Entwicklungshilfe erhält; und vor allem Afrikas Finanzierungsbedarf ernster nehmen. Seine Volkswirtschaften werden von den Ratingagenturen oft als Subinvestment-Grade eingestuft. So können sie Kredite nur zu ruinösen Zinsen aufnehmen. Die Schuldenquote Ghanas ist mit 83 Prozent weit niedriger als die Griechenlands mit 200 oder Portugals mit 130 Prozent. Die Agentur Moody’s platzierte Ghana 2021 gleichwohl mehrere Stufen unter den beiden europäischen Ländern. Resultat: Verschuldung zu einem viermal höheren Zinssatz, Schuldenstress, Warnung des Währungsfonds, und am Ende eine weitere Herabstufung durch Fitch auf Tripel-C – eine negative „self-fulfilling prophecy.“
Dabei verlangt der reiche Kontinent mit den vielen armen Leuten ja keineswegs Besserbehandlung, sondern nur gleiches Recht. Vom Oligopol der drei amerikanischen Ratingagenturen bekommt er das aber nicht. Beim Berliner Afrika-Gipfel vor drei Wochen haben mehrere afrikanische Präsidenten hier Fairness eingefordert, zu Recht. Der Westen muss das aufnehmen.
Wir Europäer haben Zeit verloren und Chancen verstreichen lassen. Aber es gibt Hoffnung. Während Peking schwächelt, hat die Europäische Union jetzt das „Global Gateway“ ausgerufen, als Antwort auf Chinas Dominanz.
In den nächsten vier Jahren will unsere Union im sogenannten Globalen Süden 300 Milliarden Euro investieren, in Transportnetze, Infrastruktur-, Energie- und Logistikprojekte. Es gibt Gelder für grüne Energieerzeugung in Marokko und eine Partnerschaft mit Namibia für grünen Wasserstoff und kritische Rohstoffe; Häfen an der Atlantikküste werden modernisiert. Zugleich kommen aus Afrika selbst mutige Vorschläge: So planen Marokko und Nigeria eine Gaspipeline entlang der Westküste, und alle Anrainerstaaten sind dabei. Kein kurzfristiges Projekt, gewiss, und 24 Milliarden Euro teuer. Aber ich denke, es wird kommen, und wir haben Interesse, finanziell und technologisch dabei zu sein.
Das europäische Global Gateway, verbunden mit dem gewachsenen Selbstbewusstsein einiger mutiger Staaten Afrikas, könnte also der Beginn einer Wende werden. Der Gasschock nach dem russischen Angriff auf die Ukraine erweist sich als heilsam, denn er hat Afrika neu in unser Blickfeld gerückt – die Reisen des Bundeskanzlers zeigen es.
Schon die vorige Bundesregierung hatte sich bewegt. Sie verbesserte die Konditionen für Investitionsgarantien – also Hermesbürgschaften – in den Ländern des sogenannten „Compact with Africa“, deren Staatschefs gerade in Berlin waren. Dieser Geleitschutz des Bundes erleichtert unseren Unternehmen den Schritt nach Afrika.
Hoffnung macht das enorme Potenzial beim Grünen Wasserstoff. Alle sprechen davon, auch wenn man nach dem profitablen Geschäftsmodell noch sucht. Wind und Sonne an der langen Westküste von Tanger bis Lüderitz gehören dennoch zu den wichtigsten Elementen einer Partnerschaft der Kontinente auf lange Sicht.
Hoffnung machen auch zwei Sektoren, in denen Afrika begonnen hat, Entwicklungsschritte zu überspringen und direkt zum nördlichen Niveau aufzuschließen: die IT-Branche und der Gesundheitssektor. Hier gibt es schon viele Initiativen und Verbindungen zwischen den Kontinenten, vor allem in der jüngeren Generation. Sie ermöglichen Modernisierungsschübe in kurzer Zeit. Unser Mittelstand und unsere Start-up-affinen Kinder verfolgen hier viele interessante Spuren. Wenn Sie in den letzten zehn Jahren nicht in Afrika gewesen sind, meine Damen und Herren, dann haben Sie nicht mitbekommen, was da schon alles entstanden ist in den großen Städten. Die Modernisierungslust ist grenzenlos bei den oft gut ausgebildeten jungen Afrikanern.
So viel zur Ökonomie – es war ziemlich viel, und ich bitte um Ihre Nachsicht. Nun viertens und letztens – zur Kultur, und mit ihr zur Menschenwürde.
Geopolitisch, ich habe es eingangs gesagt, geht es um Europas Selbstbehauptung. Spiegelbildlich dazu um Afrikas Rollenfindung. Und die wird sehr stark von der Geschichte bestimmt, der Geschichte des Doppelkontinents.
Europas Geschichte mit Afrika ist so wie sie ist: von den Phöniziern über die Portugiesen und alle anderen Kolonisatoren bis zu uns selbst. Dass es für Deutschland nur dreißig Jahre waren, verdanken wir übrigens Clémenceau. Er setzte in Versailles das schnelle Ende unseres Kolonialreichs durch. Im Rückblick müssen wir ihm dafür dankbar sein.
Europa in Afrika, das ist eine Geschichte von Entdeckung, Kolonisierung, Erwerb von Reichtümern, von Sklaverei im Dreieck mit Amerika und von Kanonenfutter in den Weltkriegen, aber auch von Bildung, Zugang zu den Weltsprachen und Modernisierung. Nach 1960 folgte all dem die Entlassung Afrikas in die Unabhängigkeit – holprig, teils katastrophal und schlecht vorbereitet. Die Hypothek unserer noch unverarbeiteten gemeinsamen Geschichte ist noch nicht abbezahlt – ich nenne nur die jüngste Vertreibung Frankreichs aus dem Sahel oder die Lasten, die auf unseren Museen und unserem Gewissen liegen: die Bronzen aus Benin und – noch weit schlimmer – die Schädel aus Tansania und Namibia.
Wir haben Jahrhunderte des Ungleichgewichts hinter uns. Es waren immer die Europäer, die die Segel setzten, die entdecken wollten und die das mit überlegener Technik auch konnten. Aus Afrika ist dagegen nie jemand nordwärts gesegelt. Das hat sich erst jetzt dramatisch geändert. Die ungeordnete Migration von Süd nach Nord beherrscht heute die europäisch-afrikanische Realität. Die Folge ist eine schwere Krise in Europa. Sie hat unsere Innenpolitik vermint. Wir müssen sie schleunigst unter Kontrolle bringen, denn sie retardiert unsere Partnerschaft auf lange Sicht mit Afrika.
Betrachtet man Geschichte und Gegenwart, dann muss man leider feststellen: die Beziehung der Kontinente ist verkorkst, neurotisch, ja pathologisch. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass in Europa kaum jemand einem Afrikaner natürlich und mit freiem Blick gegenübertritt? Fragen Sie einmal junge Deutsche afrikanischer Herkunft, wie sie sich bei uns fühlen. Zumeist gut und in geordneten Verhältnissen, gewiss. Aber fast alle haben auch Erfahrungen mit Benachteiligung gemacht, etwa bei der Suche nach Arbeit oder Wohnung. Oder – das andere Extrem – sie erleben bei ihren Gesprächspartnern übertriebene Höflichkeit als Ausdruck eines schlechten Gewissens, das sie gar nicht eingefordert hatten. Beide Haltungen, Diskriminierung ebenso wie Bußfertigkeit, sind so unangemessen wie töricht. Oft beruht Unsicherheit der Europäer gegenüber Afrikanern auf mangelnder Kenntnis der Geschichte. Ob wir daran etwas ändern können? Eine Aufgabe für eine unaufgeregte Bildungspolitik, ohne ideologische Verblendung. Afrika erwartet von Europa Respekt, aber bestimmt keine Dekonstruktion der gemeinsamen Geschichte.
Gehen wir von der sozialen auf die politische Ebene: Die westliche Afrikapolitik ist bis heute von Neurosen geprägt. Ich nenne nur zwei Ausprägungen, die protestantische und die französische. Die Haltung des politischen Protestantismus kritisiere ich, weil ich ihm selbst entstamme. In bester philanthropischer Absicht und oft mit erhobenem Zeigefinger fallen Angelsachsen und Nordeuropäer Afrikanern gern auf die Nerven mit ihren Belehrungen über Demokratie und gute Regierungsführung. Die meisten deutschen Entwicklungsminister seit Erhard Eppler haben sich von dieser Haltung leiten lassen und Generationen von Entwicklungshelfern damit geprägt. Zum Glück ist der Ton bei den Jüngeren inzwischen anders geworden, geschäftsmäßiger und weniger paternalistisch.
Zweites Beispiel: Frankreich. Hier erlaube ich mir Kritik, weil ich die Franzosen bewundere für ihre beispiellose Kenntnis Afrikas. Aber wie oft habe ich im frankophonen Afrika erlebt, dass auch sie alles besser wissen, freilich auf andere Art. Anders als den Angelsachsen geht es ihnen weniger darum, Gutes zu tun. Vielmehr leitet sie immer noch – oft unbewusst – die im 18. Jahrhundert entwickelte Idee von der „mission civilisatrice de la France“. Die frankophonen Afrikaner können das nicht mehr hören. So ist das jüngste Scheitern der französischen Afrikapolitik vor allem eine Folge des Pariser Hochmuts. Das ist tragisch, denn Europa braucht die profunde Afrika-Kenntnis unserer Nachbarn. Ich bin aber zuversichtlich, dass Frankreich seine Haltung korrigieren und bald einen neuen Weg nach Süden finden wird. Für unsere interkontinentale Partnerschaft ist das unerlässlich.
Genug der europäischen Selbstkritik – lassen wir die Neurosen hinter uns und versuchen wir lieber, die Beziehung zu heilen. Erstaunlicherweise können uns dabei die Afrikaner helfen, wenn wir denn bereit sind, ihnen zuzuhören.
Lassen Sie mich hier ein Geheimnis mit Ihnen teilen. Es entstammt allein meiner menschlichen Erfahrung aus sechzehn Jahren in Afrika, denn ich bin weder Soziologe noch Afrikanist. Aber ich habe gelernt, dass es südlich der Sahara eine großzügige Bereitschaft gibt, zu verzeihen und vergangenes Unrecht zu den Akten zu legen. Afrikanische Höflichkeit kennt fast keine Grenzen. Die Gesprächskultur des geduldigen Zuhörens ist ohne Parallele in Europa. Direkte Vorwürfe im Blick auf die Vergangenheit kommen selten oder nie, mit gewissen regionalen Nuancen. Südafrika etwa, erst vor einer Generation der Apartheid entronnen, ist als Gesellschaft stärker verwundet als Kenia oder die Elfenbeinküste. Gespräche mit Südafrikanern sind deshalb nicht immer so spannungsfrei wie im übrigen Afrika.
Es gibt einen Begriff aus der Sprache der Zulu, der sich weit über den Kontinent verbreitet hat und alle Facetten guten Benehmens umfasst: Ubuntu. Er bezeichnet Würde, Respekt, Nachsicht, Mitgefühl, Großzügigkeit – alles Elemente einer Ethik, die Afrikanern den Umgang mit ihrem schweren Erbe erleichtern. Europäer sind stets neu beeindruckt von Haltung und Diskurs ihrer Gesprächspartner, die den Ubuntu-Prinzipien folgen. Aber man muss eine Antenne dafür entwickeln, denn Ubuntu setzt Gegenseitigkeit voraus. Afrikaner öffnen sich Europäern erst, wenn sie überzeugt sind, dass ihr Gegenüber die Geschichte kennt und sich des vergangenen Unrechts bewusst ist. Andernfalls bleiben sie zwar höflich, aber eben auch verschlossen. Ich habe oft erlebt, wie Europäer in Sekundenschnelle taxiert werden: Wer auch nur eine Spur von Hochmut oder Herablassung zeigt, der wird zwar weiter korrekt behandelt. Am Ende kriegt er aber kein Bein auf die Erde. Unzählige Geschäfte sind an dieser unsichtbaren Barriere gescheitert.
Chinesen werden übrigens mit weniger strengem Maßstab gemessen, jedenfalls bislang noch. Sie waren nie Kolonialherren in Afrika, und trotz ihres eigenen, oft recht kruden Rassismus hält man ihnen zugute, dass sie selbst erst vor kurzem der Armut entronnen sind und daher wissen, wie man das anstellt. Ein westafrikanischer Finanzminister sagte mir einmal: Ihr Europäer seid schon seit über hundert Jahren reich. Ihr habt vergessen, was Armut ist. Da sind uns die Chinesen näher, die verstehen etwas davon.
Kultureller Respekt, der freie Blick aufeinander, die Kenntnis der Geschichte, Ubuntu und die Menschenwürde – das sind die tiefer liegenden Elemente unserer Beziehung, ohne deren Beachtung wir nicht zueinander finden werden. Sie sind das Geheimnis. Es genügt nicht, sich darin zu üben, man muss sie sich zu eigen machen. Manche Afrikaner sind da schon weiter als wir.
Nun ein Schlusswort, mit einer Frage und einem Appell:
Warum spricht ein früherer Botschafter über Geographie, Demographie, Wirtschaft und Menschenwürde, aber nicht über Politik? Die Antwort steht im Titel meines Vortrags: Elemente einer Partnerschaft auf lange Sicht. Politik wirkt oft nur im Augenblick. Denken wir aber auf lange Sicht, dann ist es nicht interessant, warum Frankreich und Marokko gerade nicht zueinander finden, warum im Sahel junge Offiziere putschen oder weshalb die Südafrikaner es nicht schaffen, sich vom korrupten ANC zu befreien. Die vielen Beispiele dysfunktionaler Systeme in Afrika sind interne Probleme, die intern gelöst werden müssen, sobald die jeweiligen Gesellschaften dazu in der Lage sind. Es sind jedenfalls nicht Elemente einer langfristigen Partnerschaft und einer geopolitischen Nord-Süd-Achse, die ich mir von Oslo bis Kapstadt wünsche. Eine Partnerschaft ohne Einmischung, das machen die Chinesen schon richtig. Ratschläge ja, aber nur, wenn wir gefragt werden. Vorgemacht hat uns das Horst Köhler, bis heute der deutsche Staatsmann, der am meisten von Afrika versteht.
Vor vierzig Jahren, meine Damen und Herren, fürchteten deutsche Unternehmer sich vor Asien. Heute sind sie alle dort. Fürchten wir uns vor Afrika? Nur ein Prozent der deutschen Auslandsinvestitionen geht nach Süden. Damit liegen wir weit hinter China, das sich nicht um Fitch und Moody’s schert, aber auch hinter Frankreich und Großbritannien. Wäre ich Professor für Geopolitik, dann lautete mein Urteil: der Kandidat Deutschland ist durchgefallen. Er muss nachsitzen, bis er die Lektion Afrika gelernt hat.
Pflegen Sie also bitte nicht die sprichwörtliche deutsche Angst, verehrtes Collegium. Beginnen Sie stattdessen schon morgen damit, dicke Bretter zu bohren, mit Afrika und in Afrika. Und überzeugen Sie Ihre Kinder davon, dass sie nach unserer Zeit noch kräftiger werden bohren müssen, wenn Europa den ihm angemessenen Platz auf dem Planeten behaupten will. Ohne Afrika, unseren größer und stärker werdenden Nachbarkontinent, wird das nicht gehen.