„WER HAT , DEM WIRD GEGEBEN –
Die neue Verteilungsdebatte: Anspruch und Wirklichkeit“
Meine Herren,
wer hat, dem wird gegeben ist die Verkürzung des Satzes aus dem Matthäusevangelium (Mt 25,29):
„Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat“. (Gleichnis der anvertrauten Talente)
Diese Lebensweisheit gibt es auch in volkstümlichen Varianten:
− „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“ (Autor unbekannt)
− „The winner takes it all“ (Abba)
Heute gilt diese Metapher, um eine zunehmende Ungleichheit der Einkommensoder Vermögensverteilung zu charakterisieren.
Anfang des Jahres hat der französische Ökonom Thomas Piketty ein Buch heraus gebracht: „Das Kapital im 21. Jahrhundert“.
Der 43-jährige Piketty, der bereits mit 22 Jahren Assistenzprofessor am MIT wurde und heute an der Paris School of Economics arbeitet, gilt in Fachkreisen seit Längerem als einer der führenden Verteilungsforscher.
Die Nähe des Titels dieses Werks zum knapp 150 Jahre früher erschienenen „Das Kapital – Kritik der politische Ökonomie“ von Karl Marx ist sicher kein Zufall. Genau wie Marx ist Piketty der festen Überzeugung, ein, wenn nicht das Entwicklungsgesetz des Kapitalismus gefunden zu haben. Während Marx einen tendenziellen Fall der Profitrate voraussah, glaubt Piketty aufgrund seiner umfangreichen empirischen Forschungsarbeiten, einen strukturellen Vorsprung der Gewinne vor der Lohnentwicklung herausgefunden zu haben – und damit eine allen marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystemen innewohnende Tendenz zu einer wachsenden Einkommens- und Vermögensungleichheit.
Damit stehen seine Forschungen nicht nur in diametralem Gegensatz zu den Voraussagen von Karl Marx, sondern auch zu den Arbeiten von Simon Kuznets. Kuznets, der in den 1930er Jahren das Konzept des Bruttoinlandsprodukts entwickelt hatte, wurde im Jahr 1971 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet – unter anderem dafür, herausgefunden zu haben, dass ab einem bestimmten Entwicklungsstand die Ungleichheit in einer Volkswirtschaft wieder abnimmt.
Pikettys monumentales Buch ist eine Mischung aus ungeheurem Fleiß und einer stupenden Gelehrsamkeit – was viele Passagen namentlich die methodischen Teile auch für gelernte Ökonomen nur mit Mühen lesbar macht.
Allerdings gibt es auch viele Seiten mit stilistisch brillanten Formulierungen, die sogar einen heftigen Kritiker Pikettys, den liberalen Karl-Heinz Paqué, an die unnachahmlichen Beschreibungen der sozialen Strukturen des 19. Jahrhunderts durch Honoré de Balzac, Jane Austen oder Henri James erinnern. Originalton Paqué:
„Hier schreibt kein angestaubter Gelehrter, sondern ein leidenschaftlicher Intellektueller der Linken aus Frankreichs Metropole, und man spürt bei ihm die rabiatradikale Tradition, die spätestens seit Voltaire den gesellschaftlichen Diskurs seines Landes durchzieht. Das macht die Lektüre anregend, wenn auch nicht wirklich unterhaltsam“.
Nun zur Resonanz in der Ökonomenszene und der Presse.
Der bekannte US-amerikanische Ökonom Paul Krugman attestierte Piketty eine nobelpreiswürdige Leistung. Krugmans deutsches Pendant, der gewerkschaftsnahe Wirtschaftsweise Peter Bofinger, meint dagegen:“Piketty stellt eine Theorie auf – widerlegt sie aber mit den eigenen Zahlen. Damit hat er sich selbst ins Knie geschossen.“
Und Deutschlands amtierender ökonomischer Großkritiker Hans Werner Sinn bemerkt in gesetzten Worten, dass Piketty wie Marx zwar eine Sehnsucht der Bevölkerung bedienen – doch zu seinen Politikempfehlungen mit einer Weltformel komme, die gar nicht das implizieren würde, was er behauptet.
Der Rezensent der Süddeutschen Zeitung sprach von einem „brillanten Buch mit einzigartiger Tiefenschärfe“.
Demgegenüber konnte man in der „Die Zeit“ lesen, dass selten ein Buch so überschätzt worden sei und in diesem neuen Marx „genau so viel Murks stecke, wie im alten Karl“. Das mag stimmen. Aber leider vergaß der kritische Zeitredakteur zu erwähnen, dass kein Ökonom mit einer falschen Theorie und ohne belastbare Zahlen die ökonomische Realität in so vielen Staaten so umgekrempelt hat wie Karl Marx. Und er vergaß auch zu sagen, dass viele – damals utopisch anmutende – Forderungen des kommunistischen Manifests aus dem Jahre 1847/48 – wie angemessene Löhne, eine progressive Einkommenssteuer, Grund- und Erbschaftssteuern, unentgeltliche Schulen und ein freies Studium, Anspruch auf medizinische Versorgung, arbeitsfreier Sonntag und ein Anspruch auf bezahlten Urlaub – vom lernfähigen Kapitalismus erfüllt wurden, auch damit sich Marxens spätere Voraussagen nicht erfüllen.
Die Reaktionen auf dieses Buch konnten also widersprüchlicher kaum sein. Ungeachtet dessen ist „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ in meinen Augen ein sehr wichtiges Buch und wird keine Eintagsfliege sein. Denn es hat das Potenzial, unsere Gesellschaft zu verändern, weil es begründete wie unbegründete Ängste von weiten Bevölkerungskreisen anspricht.
Bevor ich auf diese Vermutung näher eingehe, möchte ich aber zunächst Pikettys Arbeitsweise und Thesen sowie seine politischen Schlussfolgerungen vorstellen – wie auch die daran geübte Kritik.
Danach trage ich Ihnen meine Gründe vor, warum diese Thesen – trotz ihrer Ungereimtheiten – die Welt und damit auch Deutschland verändern könnten. Ich befürchte, nicht alle meine Argumente werden auf Ihre ungeteilte Zustimmung stoßen.
Als erstes drei Definitionen:
Das Volksvermögen steht für den Marktwert aller handelbaren Vermögenswerte eines Landes, sowohl der privaten Haushalte wie des Staates abzüglich der Schulden von Haushalten, Unternehmen und der öffentlichen Hände.
Das Volkseinkommen ist die Summe aller in einem Land erzielten Einkommen aus Erwerbsarbeit und Vermögen.
Die Vermögens-/Einkommensquote – die zentrale Größe – entspricht dem Gesamtwert des Volksvermögens abzüglich der Schulden in Relation zum Volkseinkommen eines Jahres.
Wenn zum Beispiel das Volksvermögen bei 1000 und das Volkseinkommen bei 200 liegen, ist die Vermögensquote 5 bzw. 500 Prozent.
Über alle betrachteten acht „ kapitalistischen“ Länder hinweg – dies waren USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland Italien, Japan, Kanada und Australien – schwankte nach den Auswertungen der verfügbaren Datenquellen durch Piketty und seinem Team die Vermögensquote im untersuchten Zeitraum von 1700 bis 2010 zwischen dem 2,5-fachen und dem 7-fachen des Volkseinkommens.
Die Zuwachsraten der Bruttoinlandsprodukte und auch der Löhne in den untersuchten Industriestaaten lagen in den jeweils betrachteten Zeiträumen in „normalen“ Zeiten bei durchschnittlich 0,2 bis knapp 2,0 Prozent.
Die Verzinsung des Vermögens an Grund und Boden, Maschinen, Immobilien und Aktien belief sich dagegen auf 4 bis 5 Prozent.
Über alle Länder hinweg gerechnet könne man in „normalen“ Zeiten, d.h. in Zeiten ohne Kriege und schwere Krisen, von einer Wachstumsrate der gesamtwirtschaftlichen Produktion und damit der Lohnsumme (g) von 1,5 v.H. und einer Rendite des Vermögens (r) von 4,5 v.H. ausgehen.
Wenn g = 1,5 und r = 4,5 sind, dann braucht – und dies ist das zentrale Argument
– ein Vermögensbesitzer nur ein Drittel seines Kapitaleinkommens zu sparen, damit sich sein Vermögen im Gleichschritt mit den Löhnen der abhängig Beschäftigten erhöht.
Ergo: Wenn die Kapitalisten ihre laufenden Zinseinkommen zu großen Teilen wieder anlegen, werden sie immer reicher.
Es sei denn, Kriege oder Weltrezessionen setzen das „Gesetz des Kapitalismus“, nach dem die Rendite (r) stets größer ist als die Wachstumsrate (g) des Bruttoinlandsprodukts und damit der Lohnsumme außer Kraft.
Allerdings weist Piketty darauf hin, dass im vergangenen Jahrhundert immense Vermögenswerte vernichtet wurden, und er zeigt, wie sich in der Phase des Wiederaufbaus nach dem zweiten Weltkrieg eine Zeit lang „nivellierte Mittelstandsgesellschaften“ herausgebildet haben.
Aber eben nur vorübergehend.
Und genau hierin liegt – für Europäer im Allgemeinen und Deutsche im Besonderen – etwas Irritierendes: Denn das, was als „soziale Marktwirtschaft“ erdacht und auch etabliert wurde, wäre dann nur eine zeitlich begrenzte Ausnahme von der kapitalistischen Norm und das Credo von der ausgleichenden Funktion eines funktionierenden Wettbewerbs hätte nur eine Alibifunktion.
Oder wenn man es in diesem Kreis höflicher formulieren möchte:
Produktivitätsgetriebenes Wirtschaftswachstum, bessere Bildung, mehr Innovationen können das prinzipielle Auseinanderlaufen der Entwicklung der Vermögenseinkommen und der Löhne bestenfalls verringern, aber das „Gesetz des Kapitalismus“ – r größer g – nicht wirklich außer Kraft setzen. Wen dem wirklich so wäre, würde ich dies sehr bedauern. Denn der inklusive Kapitalismus in Form einer sozialen Marktwirtschaft ist in meinen Augen die erstrebenswerteste Wirtschaftsordnung.
Im Verlauf der vergangenen fast 250 Jahre sieht – nach Piketty – die Entwicklung wie eine U-förmige Kurve aus: Die 125 Jahre des Manchesterkapitalismus von 1789 bis 1914 waren von einer extremen Konzentration des Einkommens und des Vermögens beim obersten Prozent der Bevölkerung geprägt. Danach folgten Jahrzehnte mit einer starken Abnahme der Ungleichheit – angefangen vom Ersten Weltkrieg über die Weltwirtschaftskrise von 1929 und den Zweiten Weltkrieg – bis 1970. Danach soll wieder eine bis heute anhaltende Phase einer wiederansteigenden Ungleichheit angebrochen sein.
Peter Bofinger bemerkte zu diesem U-förmigen Verlauf trocken, dass Pikettys Weltformel offensichtlich im gesamten letzten Jahrhundert nicht gegolten habe.
Hinzu kommt, dass in dieser Zeitlängsschnittbetrachtung so getan wird, als mache es keinen Unterschied im Jahre 1810, 1910 oder in 2010 zu den 10 Prozent Ärmsten gehört zu haben.
Nun, so imponierend der Fleiß und der empirische Aufwand und so eindrucksvoll die präsentierten Befunde sind, so heftig wurde Piketty nicht für seine statistischen Befunde, wohl aber für deren Interpretation kritisiert.
Hier die Hauptkritikpunkte:
Zunächst zur Verteilung der Einkommen, die dem Wesen des Kapitalismus angeblich immer ungleicher werden.
Für Deutschland gilt dies nicht – und das sagt Piketty selbst.
Denn in Deutschland entfällt auf das oberste Prozent der Haushalte der Einkommensskala heute nicht mehr vom Gesamteinkommen wie 1950 – nämlich elf Prozent.
Und auch das oberste 0,1 Prozent, die Spitzen-Verdiener, bezieht nicht mehr als vor 60 Jahren.
Deutschland war und ist – wie auch Österreich und die Schweiz – offensichtlich eine Art Puppenstube des Kapitalismus.
Dennoch hält Piketty an seinem universellen Gesetz der wachsenden Einkommensungleichheit fest. Recht hat er allerdings, was die Entwicklung in den angelsächsischen Ländern, insbesondere in den USA angeht.
Wenn Piketty ein Gesetz des Kapitalismus hinsichtlich der Verteilung der Einkommen gefunden haben will, dann allenfalls eines für den Kapitalismus US-amerikanischer Provenienz.
Die von Piketty vorgelegten Zahlen wurden dennoch von vielen als Beleg gewertet, dass alle kapitalistischen Gesellschaften auseinanderdriften und er deshalb zu Recht drastische neue Steuern fordert, etwa einen Einkommen-Spitzensteuersatz von 80 Prozent.
Als er allerdings gefragt wurde, was er von der Idee des französischen Ministerpräsidenten Hollande halte, Einkommen ab einer Million Euro mit 75 Prozent zu besteuern antwortete Piketty :“Nichts“. Und auf die Frage warum sagte er :“Es gibt in Frankreich viel weniger Menschen, die über eine Million verdienen als in den USA.“
Hinzu kommt, dass die von ihm genannten Zahlen stets die Einkommen vor Steuern zeigen. Damit wird so getan, als ob es keinerlei staatliche Umverteilung durch progressive Steuern und Sozialabgaben gäbe – um dann mit Blick auf diese Marktbzw. Bruttoeinkommen umverteilende Steuern zu fordern. Denn es ist insofern bemerkenswert, da sich nirgendwo eine Grafik findet, die zeigt, dass auch die tatsächlich verfügbaren Einkommen auseinanderdriften. Dabei wäre das die entscheidende Information für progressivere Einkommensteuern.
Da Piketty aber der festen Überzeugung ist, dass sich eine Kapitalakkumulation bei Wenigen im 19. Jahrhundert wie im gerade angebrochenen 21. Jahrhundert wiederholen und damit die „leistungsorientierten Werte auf denen unsere Gesellschaften basieren aushöhlen“ werde, plädiert er vor allem für eine globale, sprich weltweite progressive Vermögenssteuer. Von 300.000 Euro bis 1 Million Euro schlägt er einen Steuersatz von 0,5 Prozent und über 1 Million von 1 Prozent vor. Es seien aber auch andere Grenzen denkbar.
Auf jeden Fall – so Pikettys Erwartung – würde solch eine weltweite und auf Dauer erhobene Vermögensabgabe die soziale Mobilität erhöhen.
Die Beschreibungen der Vermögensverhältnisse sind insofern etwas „eigenwillig“, da man den Eindruck gewinnen muss, dass durch seine Recherchen eine nahezu kontinuierliche weltweit ausgeprägte Tendenz zur Vermögenskonzentration belegt wird. Denn – und darauf zielte Bofingers zitierte Kritik ab – mit Ausnahme der USA verfügte in allen untersuchten Ländern das reichste Prozent der Bevölkerung im Jahr 2010 über keinen größeren, sondern eher einen kleineren Anteil des gesamten Vermögensreichtums als vor 100 Jahren oder sogar vor 50 Jahren.
D.h. wenn Pikettys Gesetz gilt, dann in den USA.
Eine Weltformel der kapitalistischen Welt war und ist g = 1,5 v.H.; r = 4,5 v.H. deshalb nicht.
Kurt Tucholsky schrieb im Jahr 1931 in seiner Besprechung von Hans Falladas Roman „Bauern, Bonzen und Bomben“ einen simplen aber von einer tiefen Wahrheit durchdrungenen Satz:
„Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig.“
Und der Erfolg wie die potenzielle politische Sprengkraft Pikettys Buch sind – meiner Überzeugung nach – darin begründet, dass Piketty das langfristig politisch sicher wirkmächtige Bauchgefühl vieler Menschen auch in unserem Land anspricht.
Und damit bin ich beim eigentlichen Hauptteil meines Vortrages.
− Wozu dienen unsere Sinnesorgane?
Unsere Sinnesorgane wie zum Beispiele unsere Augen und Ohren dienen nicht dazu, unsere Umwelt korrekt abzubilden. Unsere Sinnesorgane sind eine Art Filter, um aus der unendlichen Vielfalt der elektromagnetischen oder akustischen Wellen nur das winzige Spektrum herauszufiltern, was für unseren Metabolismus wichtig ist. Tiere zum Beispiel nehmen die gleiche Welt völlig anders wahr. Wir sollten daher nicht glauben, dass das, was wir sehen, hören fühlen, riechen oder schmecken die gesamte Realität ist.
− Jeder Wissenschaftler, der Ökonom, der Soziologe, der Historiker und auch der Astronom und Physiker, hat eine Brille auf der Nase und damit vor seinen Augen: Sein Paradigma, das Vorverständnis seiner Theorie. Und diese Brille der Theorie dient ebenfalls – wie unsere Augen – nicht dazu, die Komplexität der Realität richtig zu sehen, sondern dazu, das besonders scharf zu erkennen, worauf sein – paradigmatisch geprägtes – Erkenntnisinteresse gerichtet ist.
Beispiel: In der aktuellen Wirtschaftskrise in Frankreich wird der Keynesianer vor allem die durch kreditfinanzierte Investitionsprogramme zu schließenden Outputlücken sehen, also die Differenz zwischen dem tatsächlichen Bruttoinlandsprodukt und dem darüber liegenden Produktionspotenzial. Ein der neoklassischen Position verpflichteter Ökonom wird dagegen vor allen das geringe Potenzialwachstum sehen, welches es durch Strukturreformen zu erhöhen gilt.
Und ähnlich unterschiedlich und damit selektiv nehmen viele Zeitgenossen – ebenso Sie und ich – die soziale Befindlichkeit in unserem Lande wahr.
Während die Sozialverbände in Deutschland regelmäßig ein Land sehen, in dem sich die Armut ölfleckartig ausbreitet, sehen andere in diesem Land „Europe´s Engine“, einen Staat, der – je nach Nationalität und politischer Ausrichtung – die Eurozone aus ihrer Krise herausziehen kann, es muss oder es tun sollte. Beide Sichtweisen können gleichzeitig zumindest nicht ganz richtig sein.
Der Elitenforscher Michael Hartmann hat vor kurzem ein Buch heraus gebracht „Soziale Ungleichheit – Kein Thema für die Eliten?“
Unter anderem hat er sich darin mit der subjektiven Wahrnehmung und dem objektiven Wissen von Wohlhabenden und Reichen auseinander gesetzt. Als „reich“ definiert Hartmann Menschen, die ein jährliches Kapitaleinkommen von über 100.000 Euro beziehen und daher zumindest über etwa 4 Millionen disponibles Kapital verfügen.
Nach dieser Definition müssten hier und heute viele Reiche zusammen gekommen sein.
Die meisten dieser Vermögensinhaber – insbesondere die, die deutlich mehr als die vier Millionen Vermögen haben – sagen von sich, dass nicht nur sie, sondern auch ihre Eltern und Großeltern hart gearbeitet haben aber auch ein bisschen Glück hatten. Dies trifft durchweg zu, denn Reiche sind in der Regel sehr fleißig. Soweit stimmen Wahrnehmung und Realität überein. Die selektive Wahrnehmung der Realität beginnt allerdings dann, wenn Wohlhabende und Gutverdienende danach gefragt werden, wo sie glauben, bei welchem Einkommen die Armutsgrenze und das Durchschnittseinkommen liegen. Hierzu zitiert Hartmann eine repräsentativen Umfrage unter Bankern in Großbritannien. Von diesen befragten leitenden Bankangestellten wurde diese Armutsschwelle beim tatsächlichen Durchschnittseinkommen verortet und das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung dort, wo das Einkommen des obersten Zehntels der Einkommenspyramide beginnt.
Allerdings gibt es auch Untersuchungen, die zeigen, dass ein sehr großer Teil der deutschen Bevölkerung den Anteil der Armen und Armutsgefährdeten deutlich höher einschätzt als er tatsächlich ist.
Sie sehen die Brille der Befragten.
Ich bin mir aber sicher, dass das für die Anwesenden nicht gilt und Sie alle wissen, dass
– die Armutsgrenze eines Singles in Bremen bei etwas über 700 Euro im Monat liegt,
– das Nettoarbeitsentgelt eines vollzeitig Beschäftigten über alle Branchen gerechnet in Deutschland bei gut 2.100 Euro im Monat liegt und
– fast 7,5 Millionen Personen – das sind etwa 9,5 Prozent der Wohnbevölkerung auf staatliche Fürsorgeleistungen angewiesen sind.
Test: Erinnern Sie sich noch an den ersten Wall-Street-Film aus dem Jahr 1987 von Oliver Stone und mit Michael Douglas in der Hauptrolle des Gordon Gekko. Damals, vor weniger als dreißig Jahren, galten die in diesem Film gezahlten Jahresgehälter von Bankmanagern von zwei Millionen Dollar als unanständig hoch und damit gesellschaftlich nicht akzeptabel.
Heute bekommen selbst deutsche Manager – sogar der Old Economy, sprich der Industrie – durchaus bis zum 10-Fachen und Top-Hedgefonds-Managern in den USA wird sogar über eine Milliarde, sprich 1000 Millionen US-Dollar gezahlt.
Und damit komme ich zum zentralen Punkt, warum ich glaube und erwarte, dass Piketty wirklich eine Art Marx des 21. Jahrhundert werden könnte.
Dazu ist ein kleiner wissenschaftstheoretischer Exkurs erforderlich. Charakteristisch für alle Wissenschaften ist das systematische Streben nach neuen Erkenntnissen.
Bei den Formalwissenschaften wie der Logik, der Mathematik oder Informatik, also Disziplinen, deren Objekte in der Realität nicht existieren, lässt sich die Wahrheit oder Gültigkeit einer Aussage nur mit Gesetzen der Logik überprüfen, und der Erkenntnisstand lässt sich nur durch logische Verknüpfungen vorantreiben.
Bei den Realwissenschaften, den Naturwissenschaften wie den Kultur- und Sozialwissenschaften, handelt es sich dagegen um Aussagensysteme, deren Gegenstände und Erkenntnisobjekte real existierende raumzeitliche Systeme oder Phänomene sind. Bei diesen Wissenschaften kommt zur logischen Stimmigkeit der Aussagen die empirische Überprüfung, der sogenannte Falsifikationstest, hinzu.
Neben dieser Gemeinsamkeit aller Realwissenschaften, nämlich der Überprüfung von Hypothesen an der Realität, besteht allerdings zwischen den Naturwissenschaften und den Sozialwissenschaften, namentlich der Ökonomie, ein wichtiger Unterschied.
Dieser Unterschied ist der, dass bei einer naturwissenschaftlichen Disziplin das Erkenntnisobjekt zwar in der Lage ist, das konzeptionelle Vorverständnis eines Wissenschaftlers und seine Theorie ins Wanken zu bringen und auch zu verändern, wenn es sich dessen Erklärungsversuchen entzieht.
So fand sich in den Feldgleichungen Albert Einsteins zu seiner Allgemeinen Relativitätstheorie zunächst eine kosmologische Konstante, die gewährleistete, dass das Universum bei einer nur minimalen Abweichung in der Massenverteilung weder kollabiert noch permanent expandiert. Nachdem Edwin Hubble im Jahr 1929 die Rotverschiebung und damit eine „Fluchtbewegung“ entfernter Galaxien entdeckt hatte, soll Einstein seine Kosmologische Konstante zunächst nur gestrichen haben, um diese, seinem damaligen Weltbild entsprechende Harmoniekonstante später allerdings als „größte Eselei seine Lebens“ zu bezeichnen.
Das Erkenntnisobjekt oder die Phänomene selbst, die ein Naturwissenschaftler erklären will, kann aber niemals vom Weltbild des Forschers z.B. des Chemikers, Physikers oder Astronomen beeinflusst werden.
Der Lauf der Gestirne wird dadurch nicht verändert, ob der analysierende Beobachter dem kopernikanischen, newtonschen oder einsteinschen Weltbild anhängt. Genau das aber, die Veränderung des Erkenntnisobjekts durch ein wissenschaftliches Paradigma – präziser dessen gesellschaftliche Wirkmächtigkeit – ist namentlich durch die Ökonomie möglich und oft zu beobachten.
Nachdem sich im 19. Jahrhundert die Laissez-faire-Ideen von Adam Smith oder Jean Baptiste Say in den Köpfen der Politik durchgesetzt hatten und dadurch die institutionellen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens liberalisiert worden waren, funktionierte die Wirtschaft nicht mehr nach den Regeln des Merkantilismus, sondern nach den Gesetzen des freien Marktes.
Ein wissenschaftliches Paradigma hatte die wirtschaftliche Realität verändert.
Die dem Börsenkrach von 1929 nachfolgende Weltwirtschaftskrise brachte dann das damals herrschende marktliberale Paradigma ins Wanken.
Der nach Großbritannien emigrierte österreichische Ökonom Friedrich von Hayek, der intellektuelle Führer eines marktliberalen Denkens, empfahl Sparen und Lohnkürzungen als Antwort auf die Krise. Sein Gegenspieler John Maynard Keynes widersprach fundamental und empfahl auf der Basis seiner „General Theory“ das genaue Gegenteil des marktliberalen Konzepts – nämlich Steuersenkungen, schuldenfinanzierte Ausgabenprogramme, keine Lohnkürzungen und den Ausbau sozialstaatlicher Leistungen. Sein Konzept setzte sich durch, die Politik und damit die Welt wurden keynesianisch.
In Deutschland trat an die Stelle die Ludwig Erhard´schen Philosophie des „Maßhaltens“ im Jahr 1967, das Stabilitätsgesetz, das die antizyklische Konjunkturpolitik zur staatspolitischen Norm und eine Schuldenfinanzierung quasi zur Regel machte.
Das keynesianische Paradigma versagte – nicht nur bei uns – bei der Bekämpfung der angebotsseitigen Schocks durch die Ölkrisen der 1970er Jahre. Die Realität legte eine neue Sichtweise und eine neue Wirtschaftspolitik nahe.
Die keynesianische Doktrin wurde – weniger in Westeuropa aber dafür umso deutlicher – in den angelsächsischen Ländern abgelöst durch das federführend von Milton Friedman entwickelte und propagierte – neoliberale Paradigma der Chicagoer Schule.
Dieses Paradigma setzte sich auch in den institutionellen Regeln des Wirtschaftens durch. Die Folgen: Die Finanzmärkte wurden liberalisiert, die Arbeitsmärkte flexibilisiert und hohe sozialstaatliche Standards wurden ebenso wie die Einkommensund Vermögenssteuern im Interesse wachstumsfreundlicher Rahmenbedingungen gesenkt.
Das heißt, die wirtschaftliche Realität änderte sich mit der Verbreitung dieser auf Liberalisierung und Deregulierung setzenden wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweise, dem Neoliberalismus US-amerikanischer Provenienz.
N.B. Auch das, was wir als „soziale Marktwirtschaft“ kennen und nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen der alten Industriestaaten Westeuropas etabliert wurde, ist ein neoliberales Konzept.
Der fundamentale Unterschied zwischen den beiden Konzepten ist der folgende: Das angelsächsische Konzept des Neoliberalismus wie das liberale Konzept des 19. Jahrhunderts betrachteten den Markt als einen Vollautomaten, der – lässt man ihn nur ungestört funktionieren – Wachstum, Vollbeschäftigung und allgemeinen Wohlstand garantiert. Deregulierungen, verstanden als die Beseitigung von Markthemmnissen bzw. die Rücknahme marktverzerrender staatlicher Vorschriften, haben daher a priori Wohlstand steigernde Wirkungen. Wirtschaftliche Effizienzgewinne sind dieser Konzeption zufolge immer auch ein gesamtgesellschaftlicher Fortschritt.
Die kontinentaleuropäische oder ordoliberale Variante – oder wie man in Frankreich sagt der „rheinische Kapitalismus“ – die sich seit dem Ende der 1940er Jahre des vergangenen Jahrhunderts heraus gebildet und die wirtschaftliche Entwicklung in Westeuropa nach dem zweiten Weltkrieg geprägt hat, sieht im Markt einen Halbautomatismus, der, um nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich effizient zu sein, staatlicher Korrekturen, d.h. politischer Eingriffe bei Marktversagen bedarf, vor allem im Hinblick auf die Einkommensverteilung, die makroökonomische Stabilität und die Umwelt. Und zudem wird eine aktive Wettbewerbspolitik als unabdingbar angesehen, da ein unkon¬trollierter Wettbewerb zur Unternehmenskonzentration und damit letztlich zur Selbstzerstörung des Wettbewerbs führt.
Nun, die auf eine Deregulierung möglichst aller Märkte setzende Variante des USamerikanischen Neoliberalismus zerbrach dann – zumindest intellektuell – in der Finanzkrise des Jahres 2007/8.
Im Herbst 2008 gestand der vom August 1987 bis Ende Januar 2006 amtierende legendäre und von den Finanzmarktakteuren bewunderte Chef der FED, Alan Greenspan, öffentlich, dass die Theorien, aufgrund derer er alle seine Entscheidungen gefällt hätte, nichts getaugt hätten.
Die herrschende Makroökonomie und vor allem die Finanzmarkttheorie mit ihrenStandardmodellen, die auf der Theorie effizienter Kapitalmärkte und der Annahme basieren, dass alle Marktteilnehmer immer alle verfügbaren Informationen rational verarbeiten würden und es so etwas wie ein Marktversagen nicht geben könnte, wurden durch diese globale Finanzkrise widerlegt – wenngleich dies noch nicht durchgängig akzeptiert wird.
Die Folgen: Ein Aufleben neokeynesianischer Ideen, eine zunehmende Regulierung zumindest der Finanzmärkte und ein intensives, bislang freilich wenig erfolgreiches Suchen nach neuen ökonomischen und wirtschaftspolitischen Paradigmen unter den Stichworten „Nudging“ oder „Animal Spirits“.
Die Wirklichkeit ändert sich, weil sich die wissenschaftliche Sicht auf die Realität geändert hat.
„Die Gedanken der Ökonomen und Staatsphilosophen, sowohl wenn sie im Recht, als auch wenn sie im Unrecht sind, sind einflussreicher als gemeinhin angenommen. Die Welt wird in der Tat durch nicht viel anderes beherrscht. Politiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen“, das sagte Keynes 1936.
Und einer seiner Gegenspieler, der liberale Österreicher Ludwig von Mises, schrieb 1940: „Die Auseinandersetzung über die Probleme der Gesellschaftsordnung wurde und wird nie anders geführt als mit dem Gedankengut nationalökonomischer Theorien“.
Und weil beide Denker, deren paradigmatischen Ansätze unterschiedlicher nicht sein konnten, in diesem Punkt der gleichen Überzeugung waren, glaube ich, dass Pikettys Buch mittelfristig nicht ohne politische Folgen bleiben wird.
Aber nicht, weil die Verteilungen der Einkommen und Vermögen sich grotesk verschoben hätten oder verschieben werden, sondern weil seit geraumer Zeit in unserem Lande das schwindet, was Soziologen als Sozialkapital bezeichnen.
Die Entwicklungsfähigkeiten einer Gesellschaft, einer Nation werden bestimmt vom
− Humankapital, sprich den Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Bevölkerung, dem
− Realkapital, sprich der Angemessenheit und Modernität der öffentlichen Infrastruktur wie der Investition der Privatwirtschaft, aber gleichermaßen vom
− Sozialkapital, sprich der Fähigkeit einer Gesellschaft zur Kooperation, Integration und Inklusion.
Und genau wegen seines hohen Sozialkapitals ist der „inklusive Kapitalismus“, d.h. eine Marktwirtschaft mit einer hohen sozialen Durchlässigkeit und Aufstiegsmobilität, die chancengerechteste und dynamischste Wirtschaftsordnung. Historische Beispiele für Inklusionsschübe:
Die Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen im Rahmen der Stein-Hardenbergschen Reformen 1807/10 befreite das Handwerk aus den Zwängen des Zunftwesens. Die Auswirkungen dieser Liberalisierung betrafen dabei weniger die Weiterentwicklung der Technik und Produktionsweise, sondern bewirkten eine Weckung des „kapitalistischen Geistes“ für einen großen Teil der Bevölkerung. Nicht mehr die „gerechte Nahrung“ oder der „gerechte Lohn“, sondern das Gewinnstreben rückte in den Mittelpunkt.
Das Wachstum der Betriebe wurde nicht länger durch das ungeschriebene aber wirkmächtige Gesetz, wonach im Regelfall nur zwei Gesellen erlaubt waren, beschränkt. Der Zugang zum Handwerk, insbesondere zu den Meisterstellen, war nicht mehr reguliert. Die neuen Lebenschancen erzeugten eine wirtschaftliche und soziale Aufbruchsstimmung.
Die zeitgleich stattfindenden Agrarreformen, die unter dem Namen Bauernbefreiung bekannt sind, brachen das herrschende Feudalsystem auf. Durch die Regulierungen und Ablösungen erhielten die bisher grundherrschaftlich gebundenen Bauern nicht nur ihre persönliche Freiheit, sondern auch die Eigentums- und Verfügungsrechte an dem von ihnen bewirtschafteten Boden – freilich gegen Entschädigung in Land oder Geld. Auch wenn die Lasten nach wie vor drückend waren, arbeiteten die Bauern nicht mehr länger für die Grundherren, sondern für sich selbst. Perspektivisch war abzusehen, dass der Hof innerhalb einer Generation entschuldet war. Der Arbeitseifer stieg sprunghaft an.
Die Industrialisierung in Deutschland im 19. Jahrhundert ist ohne die Befreiung von Gewerbe und Landwirtschaft aus den Zwängen der vormodernen Gesellschaft nicht vorstellbar. Damit verbunden war die Aussicht auf sozialen Aufstieg für einen größer werdenden Teil der Bevölkerung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland trotz vieler Kontinuitätslinien zahlreiche Brüche, die das bestehende Sozialgefüge durcheinander wirbelten und ökonomische Dynamik generierten.
Man denke nur an die 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen. Selbst wenn es die kolportierte „Stunde null“ nicht gab und die Währungsreform von 1948 keineswegs – wie oft behauptet – als großer Gleichmacher wirkte, da die Eigentümer von Sachkapital privilegiert waren, existierte so etwas wie eine Aufbruchsstimmung.
Wohlstand war weniger von der sozialen Herkunft, als mehr von den eigenen Fähigkeiten abhängig. Es gab deutlich weniger soziale Abschließungstendenzen als in den Zeiten davor. Dies war sicher auch eine oft unterschätzte Ursache für die Wirtschaftswunderjahre bis Ende der 1960er Jahre.
Wie sieht es heute bei uns aus?
Es hat in der jüngeren Vergangenheit eine ganze Reihe von Jahren mit Realeinkommensverlusten für die sogenannte Mittelschicht gegeben. Aber die in den Medien kolportierte Erosion dieser Mittelschicht hat es nicht gegeben. Seit fünfundzwanzig Jahren beziehen etwa 60 Prozent der deutschen Haushalte ein Einkommen zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Einkommens. Das mittlere Einkommen ist das Einkommen, bei dem genau die eine Hälfte der Einkommensbezieher ein höheres und die andere Hälfte ein niedriges Einkommen bezieht.
Wenngleich sich die Einkommensschere zwischen Arm und Reich bei uns seit Anfang der 1990er Jahre bis zum Jahr 2005 geöffnet hat, um sich dann bis 2010 leicht zu schließen und dann wieder zu öffnen, zählt Deutschland innerhalb der OECD-Staaten immer noch zu den Industrieländer mit einer halbwegs ausgewogenen Einkommensverteilung.
Was aber bei uns merklich abgenommen hat – und das ist etwas Schlechtes – ist die Einkommensmobilität.
Einkommensmobilität beschreibt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person oder ein Haushalt innerhalb eines bestimmten Zeitraumes – seien es eins, drei oder fünf Jahre
– seine Position innerhalb der Pyramide der Einkommensbezieher verändern kann.
Für gering oder unterdurchschnittlich Verdienende beschreibt diese Mobilitätskennziffer die Chance eines Aufstiegs.
Eine hohe Einkommensmobilität ist so etwas wie das Lebensblut in den Adern einer dynamischen Marktwirtschaft.
Ungleichheit wird regelmäßig akzeptiert, wenn der sprichwörtliche Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär kein exotischer Einzelfall ist. Dies könnte auch ein Grund dafür sein, dass sozialistische Ideen in den USA selbst in den wildesten Jahren des roaring capitalism 1870 bis 1920 nicht auf einen fruchtbaren Boden fallen konnten.
Bei uns in Deutschland ist diese Einkommensmobilität zwar noch nicht zum Erliegen gekommen, aber sie ist in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. Es ist deshalb vielleicht überspitzt formuliert aber sicher nicht falsch, in der damit verbundenen Verfestigung von Einkommens- und Statusposition so etwas wie eine Refeudalisierung unserer Gesellschaft zu sehen.
Und feudale Staaten und zünftisch organisierte Gesellschaften mit einer ausgeprägten Ungleichheit von Einkommen und Vermögen waren immer auch wachstumsschwach. Und das gilt auch für marktwirtschaftliche Ökonomien. Denn in einem im Februar diesen Jahres erschienen sehr aufwändigen Vergleich aller 34 OECD-Staaten mit einem repräsentativen Panel von Nicht-OECD-Ländern durch drei Ökonomen des IWF wurde gezeigt, dass
– eine zunehmende Ungleichheit mit leicht rückläufigen Wachstumsraten einher geht und dass es
– keinen negativen Zusammenhang zwischen einer moderaten Erhöhung der Umverteilungsintensität und dem Wirtschaftswachstum gibt.
Und in einer demnächst zur Veröffentlichung anstehenden Studie der OECD wird eine für stärkere Umverteilung zugunsten der Ärmeren plädiert, da das Auseinanderdriften der Einkommensverteilung in faktisch allen Mitgliedsländern dieser Organisation durchgängig mit Wachstumsverlusten verbunden war.
Eine Tendenz zu einer meines Erachtens bedenklichen Entsolidarisierung und Refeudalisierung auch bei uns mache ich an drei Beobachtungen fest:
Erstens: Es gilt inzwischen als normal, dass sich Leistungs- und Sympathieträger, ob sie nun Beckenbauer, Beckers, Schumacher, Vettel, Schreinemakers oder Friesinger heißen, unserer im internationalen Vergleich nicht besonders hohen Einkommensbesteuerung durch die Verlagerung des Wohnsitzes entziehen, als Deutsche in Steueroasen leben und dort besteuert werden, wenn sie sich nicht mehr als180 Tage im Jahr in Deutschland aufhalten. Dies ist individuell verständlich. Unverständlich ist es allerdings, wenn diese Persönlichkeiten von der Politik bei internationalen Events oder bei Bewerbungen und auf Road Shows oft und gerne als Botschafter eines neuen Deutschland eingesetzt werden.
Zweitens: Für besser verdienende Eltern – und dazu gehören auch Politiker aller Parteien und Gewerkschaftsführer – ist es fast zu einer Selbstverständlichkeit geworden, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken – nicht selten im Ausland. Der Grund: Die öffentlichen Schulen bei uns werden als nicht gut genug angesehen. Es ist unstrittig, dass von privaten Schulen Modernisierungsimpulse auf das öffentliche Schulsystem ausgehen können. Aber es ist belegt , dass private Schulen eine Spaltung der Gesellschaft vertiefen und sie in der Summe keineswegs besser sind als die öffentlichen Schulen. Dennoch wäre diese Entscheidungen der Eltern zu akzeptieren, wenn sie bereit wären, die gesamten Kosten dieser Privatausbildung zu übernehmen und sich zumindest für ein besseres, den Kindern aus allen Einkommens- und Gesellschaftsschichten offenstehendes staatliches Schulsystem einsetzen oder sich für eine Überwindung unseres Patchworks an 16 Schulsystemen stark machen würden. Aber stattdessen fordern diese Eltern sehr oft eine bessere Bezuschussung dieser Privatschulen aus Steuermitteln – zulasten des unterfinanzierten öffentlichen Schulsystems.
Drittens: Seit einiger Zeit ist ein Rückgang der Bildungsrenditen zu beobachten.
Die Bildungsrenditen bemessen sich am durchschnittlichen Lebenseinkommen eines Akademikers im Vergleich zu jemandem, der nach dem Abitur ins Berufsleben einsteigt. Der Grund für diesen Rückgang ist eine Entwertung mittel bis hoch qualifizierter Arbeit unter den Stichworten Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Industrie 4.0.
Beispiel: Das US-amerikanische und auch britische Recht sind auf Präzedenzfällen basierende Case-Law-Recht-Systeme. Die Suche nach den in einem Verfahren einschlägigen Präzedenzfällen wurde bisher von recht gut verdienenden Juristen durchgeführt. Seit einigen Jahren gibt es in den USA eine Computersoftware, die es erlaubt, in der gesamten US-amerikanischen Rechtsprechung nach den jeweils einschlägigen Präzedenzfällen zu suchen. Durch diesen informationstechnologischen Quantensprung verschlechterten sich die Berufsperspektiven für eine ganze Generation von jungen Juristen in den USA.
Wie gesagt: Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig.
Lassen Sie mich deshalb mit einer Prognose schließen:
Die Umverteilungsintensität unseres Steuersystems wird sich – unabhängig vom Farbspiel der Bundesregierung – in den nächsten Jahren erhöhen – sei es über eine Reintegration der Kapitaleinkommen in die Einkommensteuer oder eine erhöhende Anpassung der im Verdacht der Grundgesetzwidrigkeit stehenden derzeitigen Erbschaftssteuer.
Das Wirtschaftswachstum würde dadurch sicher nicht beeinträchtigt.
Und beides wären bessere Alternativen als die Wiedererhebung einer jährlich in den Vermögensaufbauprozess eingreifenden Vermögensteuer, die im Übrigen nicht abgeschafft wurde, sondern seit 1997 nur nicht mehr erhoben wird.
Ich bedanke mich für Ihre geduldige Aufmerksamkeit und bitte um Nachsicht für etwaige Provokationen.